Bestaunenswerte 44×29×6,5 Zentimeter betragen die Abmessungen des knapp 7 Kilogramm schweren Atlasses, der in dem mit Plastikgriff ausgestatteten Tragekarton kompakt und stilvoll zugleich daherkommt. Entsprechend Muskelkraft erfordert es, sich den modernen Folianten zurechtzulegen. Ist dies vollbracht, werden optische Sinneswahrnehmung und Imagination beim Blick in das Kartenwerk tief beeindruckt und angeregt, jeder Hebe- und Trageaufwand damit gebührend belohnt.
Bei der vorliegenden dreisprachigen Ausgabe (Englisch, Deutsch, Französisch) des Blaeu'schen Kartenwerks handelt es sich um kein Faksimile, sondern um einen Nachdruck auf der Grundlage des lateinischen Originalexemplars aus der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Das ist wichtig, wenn man sich eine Vorstellung von Aufmachung und Struktur des GROSSEN ATLASSES machen will. Je nach lateinischer, französischer, niederländischer oder spanischer Edition wurde er zwischen 1662 und 1665 (1667/1672) als neun- bis zwölfbändige Ausgabe mit unterschiedlichem Karten- und Textumfang produziert (bis zu 600 Karten und 4160 Textseiten!). Was an Karten, Frontispizen, Allegorien, Porträts und Kartuschen, Legenden und Kommentaren die Amsterdamer Werkstätten Joan Blaeus verließ, war indessen nicht so hoch auflösend, nicht so bilddominant, war weder durchgehend koloriert, noch so farbintensiv wie in der Taschen-Ausgabe. Dies offenbart ein Blick in ein 'originalkopierendes' Faksimile (Amsterdam, 1967-1970). Taschens einbändige Ausgabe enthält eine auf Hochglanz polierte Auswahl dessen, was Blaeus Bände beinhalten. Verkaufsorientiert als prachtvollster Atlas im XXL-Format angepriesen, schmälert dies jedoch keinesfalls Taschens Herausgeberleistung.
Bevor der Utrechter Kartografiehistoriker, Peter van der Krogt, den Atlas historisch verortet, kommt der multitalentierte Kupferstecher-Drucker-Verleger und Geograf-Kartograf Joan Blaeu (1596-1673) zu Wort. Zu den wiedergegebenen Originaltexten gehören dessen Grußwort an den Leser, seine Einführung in die Geografie, Einleitungen zu den Kontinenten und Hauptregionen sowie kurze Länder-, Stadt-, Klima- und Kulturkommentare. In der Vorrede unterstreicht Blaeu den unentbehrlichen Nutzen der Geografie. Er hebt hervor, wie sehr das Wissen von den Orten das Leben und Handeln der Menschen bestimmt: keine Kenntnis geschichtlicher Zusammenhänge, keine erfolgreiche Kriegsführung, ebenso wenig friedensstiftende Grenzziehungen, nicht einmal medizinisches Können oder theologische Sensibilität für Gottes Schaffenskraft ohne geografischen Sachverstand. Der findet sich nur in zuverlässigen Karten vermittelt.
Nach Verbeugung vor den berühmten alten und modernen Kartografen rekapituliert Blaeu die Genese des ATLAS MAIOR. Er kündigt dessen auf elf Bände angelegte Erweiterung hin zu einer kompletten Kosmografie an, in der die "Macrocosmische Harmonie" (8) aufscheinen wird. Neben der Geografie seien ein hydrografischer und uranografischer Teil zu erwarten. So sehr Blaeu seine Vorgänger und zeitgenössischen Kartenmacherkollegen, insbesondere Johannes Janssonius und dessen "Atlas novus" von 1658, mit diesem ehrgeizigen Projekt überbieten wollte, so wenig konnte er es einlösen. Es blieb bei der Beschreibung der Landmassen.
Ein hochinteressanter Punkt betrifft die Imaginationspotenziale von Karten. Prospektive Kunden des Atlasses, das weiß der Entrepreneur Blaeu, sind wohlhabende Bürger oder fürstliche Herrscher. Sie werden sich nicht den Strapazen realer Reisen unterziehen, die sie an die Orte ihres Interesses führen könnten. Abhilfe schaffen die Ikonotexte, die die Welt vor den Augen ausbreiten und den Fingern zugänglich machen. Auf zweidimensionalen Papierflächen lassen sich Reisen mit Bequemlichkeit, Ausdauer und Sicherheit planen, durchführen und dokumentieren. Was mehr, wenn das Welt-Bild der Karte auch die imago mundi des 'Kopfreisenden' veranschaulicht oder überzeugend re-konstruierbar werden lässt. Doch Karten sollen nicht allein die Wirklichkeit angemessen projizierende Abbildungen der Land- und Wassermassen oder des Himmels sein, sondern gerade ihre handliche Verfügbarmachung des Abgebildeten macht sie so attraktiv. Karten als Projektionsflächen menschlicher Einbildungskraft ermöglichen die ernsthafte und unterhaltsame Erforschung der Welt. Dieser Einsicht entsprechend stellt Blaeu mit seinem monumentalen Werk ein formidables Instrumentarium für imaginäre Weltreisen und Erkenntnisgewinn zur Verfügung.
Blaeu wünscht sich und seinen Lesern großen Nutzen aus dem Atlas. Er bittet Letztere darum, sich bei Beanstandungen oder Wünschen nach Aufnahme bislang unberücksichtigter Orte mit dem Produzenten in Verbindung zu setzen, womöglich eigene spezifische Karten und Beschreibungen einzusenden. Nicht weniger als die Vision eines kumulativen Wissensprojektes wird hier formuliert, das durch kollektive Zuarbeit vorangetrieben werden soll.
Nachdem Blaeu in Folge die großen Weltsysteme referiert und den geografisch-kartografischen state of the art resümiert, gibt van der Krogt einen instruktiven Abriss der Geschichte der Atlanten, der holländischen Kartografie und des ATLAS MAIOR. Während er auf den vollständigen Titel des von Blaeu avisierten Kartenwerks verweist - "Atlas maior sive cosmographia Blaviana, qua solum, salum, coelum, accuratissime describuntur" -, macht er klar, dass Bleaus Meisterleistung auch ohne die nie realisierten Meeres- und Himmelskarten den zeitgenössischen Standard setzte. Zu erfahren ist, wie Blaeu seinen großen Atlas mit selbst entworfenen, aktuellen Karten bestückte, wie er aber auch auf neue Karten anderer Verleger zurückgriff, diese und ältere Exemplare kopierte oder bereits in seinem vorhergehenden "Atlas novus" (1655) aufgelegte wieder verwendete. Luzide führt van der Krogt den Aufbau des Atlasses gemäß den Gepflogenheiten der Zeit anhand der lateinischen Edition vor. Den fünf Kontinenten Arktis, Europa, Afrika, Asien und Amerika entsprechend gegliedert, unterteilt sich die Karten-Text-Sammlung geografisch weiter in Bücher. Diese werden in Bänden zusammengefasst. Die Einleitung bietet Informationen zu Produktionsverfahren, Drucktechniken, Auflage und Preisen des Prestigeobjektes in seiner Zeit, ferner zu den Merkmalen der Atlaskarten des 17. Jahrhunderts. Damit ist der Bogen in das Kartenwerk geschlagen.
Taschens Atlas mag im Vergleich zur Dokumentmenge des vielbändigen Originals nicht umfassend sein, dafür ist er repräsentativ. Seine Anordnung folgt der Einteilung in der lateinischen Ausgabe: Allegorien der Erdteile sind den fünf Großteilen vorangestellt, anschließend werden die Gebiete mit unterschiedlichen Gewichtungen kartiert. So laufen die Karten vom Nordpol, Spitzbergen und Island über Norwegen und Dänemark nach Schweden, von dort weiter östlich über Lappland ins westliche und südliche Russland, um von hier nach Polen und weiter nach Südosteuropa zu schwenken. Von dort wird die Reise über Griechenland und Germanien in die Niederlande bis auf die britischen Inseln fortgesetzt. Anschließend wandert der Karten-Blick zurück nach Kontinentaleuropa, nach Frankreich, in die Schweiz und Italien, um von Spanien und Portugal aus nach Afrika zu springen. Die letzten beiden Teile offerieren Ansichten und Beschreibungen von Teilen Asiens, Chinas und Amerikas.
Die als Ausschnitt, Halb-, Ganz- oder Doppelseite projizierten Karten sind durchweg beschrieben und kommentiert, zudem untermalen Zitate und Reiseimpressionen berühmter Persönlichkeiten (von Voltaire, Mozart und Anton Chekhov über Friedrich Nietzsche bis hin zu Franklin D. Roosevelt) ausgewählte Karten und heben teilweise deren historische und politische Bedeutung hervor. Faszinierend ist nicht nur die Detailgenauigkeit und Abbildungsdichte, auch die partielle physikalische Topografie sowie die Darstellung exotischer Völker, Meeresungeheuer und regionaler Besonderheiten beeindrucken.
Die Gesamtaufmachung des Atlasses beweist gestalterisch-redaktionelle Sorgfalt und drucktechnische Meisterschaft. Marineblaue kartonierte Bögen halten die 594 Seiten inklusive sich bis auf A1-Format öffnender Falttafeln zusammen und binden sie zwischen die festen Deckel. Bereits die Einbände locken den Betrachter-Leser mit einem kolorierten Kartenausschnitt, der die portugiesische Küste in starker Vergrößerung zeigt. Analog dem großen Respekt, welcher der Seefahrernation auf Grund ihrer Leistung bei Erkundung (und Inbesitznahme) der unbekannten Welt gebührt, reklamiert diese Gestaltung eine vergleichbar hohe Anerkennung für den nicht zufällig mit Versalien titulierten ATLAS MAIOR - auch mit ihm sollte (und soll) Neuland betreten werden. Neben dem durablen, matt glänzenden Spezialpapier, dem eleganten Leseband und dem gleichmäßigen Druckbild bestechen die Auflösung, Detailtreue und Farbsättigung der Karten, ferner die präzisen Maßstabdetails und Umrechnungswerte für die diversen Längenangaben in heutige Kilometer. Zudem werden für nicht-genordete Karten deren Ausrichtung angegeben, ausgewählte Wappen und Titelkartuschen gedeutet.
Die Verlagsstrategie von Taschen lässt sich mit 'mehr ist mehr' auf den Punkt bringen. Im 26. Jahr seines Bestehens gehört Taschen zu den erfolgreichsten Kunstbuchverlagen weltweit. Seine preisgünstigen, dabei aufwändig gestalteten Kunst- und Fotobände haben ihm ein Massengeschäft eingebracht. Benedikt Taschen, Regisseur und Mastermind im eigenen Haus, dirigiert Großunternehmungen wie den Atlas nicht nur höchstpersönlich (im Impressum heißt es: "Directed and produced by BENEDIKT TASCHEN", 3). Er hat das Verlagsprofil mit Gespür für den Zeitgeist erstaunlich erweitert. Die Trennlinie zwischen Elitär- und Massenkultur, zwischen exklusiver Kunst, detaillierter Fachinformation (Architektur, Design, Reise), populärartistischer Retrospektive und nicht zuletzt erotischer Sensation ist alles andere als scharf. Man mag Benedikt Taschen mit barocken Herrschern vergleichen, die in ihren Kunst- und Wunderkabinetten ein Sammelsurium unterschiedlichster Objekte anlegten. Was dort an Wissens-, Sehens- und Staunenswertem ausgestellt wurde, ist bei Taschen medial vermittelt in Bild-Text-Bände gewandert. Hier wie dort ist der Wille erkennbar, die Welt in ihrer Vielfalt zu erfassen, zugleich den Besitzer und Unternehmer in seiner Machtfülle herauszustellen. Dabei treibt auch etwas Spielerisches das Arrangement der disparaten Lebensmanifestationen an, das eine eigene Kreativität des Denkens und Assoziierens freisetzt, nämlich beim Versuch, die Welt in ihrer Vielfalt zu erkennen und in ihren Zusammenhängen zu begreifen.
Wer sich den ATLAS MAIOR nicht als bibliophile Pretiose des Braunschweiger Archiv Verlags für 498 Euro leisten kann, dem bietet Taschen mit seinem Blaeu eine Ausgabe, die dessen Wert als kulturhistorisches Dokument barocker Kartografie voll zur Geltung bringt. Gestalterisch anspruchsvoll, informativ und wissenschaftlich exakt, hat dieser Atlas definitiv seine Kunden, und haben sie ihn verdient.
Peter van der Krogt (Bearb.): Joan Blaeu: Atlas Maior of 1665. "The Greatest And Finest Atlas Ever Published", Köln: Taschen Verlag 2005, 593 S., ISBN 978-3-8228-3125-0, EUR 150,00
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