sehepunkte 6 (2006), Nr. 10

Judith Hilker: Grundrechte im deutschen Frühkonstitutionalismus

Über die Geschichte der Grund- und Menschenrechte ist von Juristen wie Historikern bereits vielfach geschrieben worden. Die Reihe reicht - um nur einige Namen zu nennen - von Georg Jellinek um 1900 über Gerhard Oestreich in den 1960er-Jahren bis hin zu den verdienstvollen Sammelbänden, die der Trierer Neuzeithistoriker Günter Birtsch in den 1980er-Jahren herausgab. Erst jüngst hat sich Rüdiger Suppé in dem 2004 erschienenen Band 71 der Schriftenreihe, in der auch Hilkers Abhandlung publiziert wurde, dem Thema zugewandt. [1] Selbst die "Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus" wurden 1973 von Wolfgang von Rimscha untersucht. Bei dieser wissenschaftshistorischen Vorgeschichte ist man umso mehr gespannt, was Judith Hilker in ihrer Osnabrücker Dissertation Neues zu bieten hat.

Zunächst streicht die Autorin mit äußerst knappen einleitenden Bemerkungen die Relevanz der süddeutschen Grundrechtsgewährungen heraus (19-23). Sie möchte die Grundrechte vor allem "unter Berücksichtigung der (real-)historischen Einflüsse" analysieren (22) und anschließend ihre Funktionen im Einzelnen untersuchen. Schließlich will sie klären, ob es sich bei den frühkonstitutionellen Freiheitsrechten "schon um Grundrechte handelte" (23). Es fällt auf, dass weder die Begriffe der Grund-, Menschen- bzw. Freiheitsrechte erläutert werden [2] noch der bisherige Forschungsstand ausreichend dargelegt wird. Auch die Einordnung des deutschen Frühkonstitutionalismus fällt auf gerade einmal zwei Seiten ausgesprochen schlank aus (24 f.).

Im Vergleich zu diesen eher kursorischen Ausführungen geht die Darstellung anschließend in die Breite. Sie gliedert sich in zwei Hauptteile: im ersten wird den "Entstehungsvoraussetzungen" (26-185), im zweiten den "unterschiedlichen Grundrechten und ihren Funktionen" nachgegangen (186-368). In einem Anhang werden schließlich die Grundrechtsabschnitte der vier süddeutschen Verfassungen abgedruckt (Bayern 1818, Baden 1818, Württemberg 1819, Hessen-Darmstadt 1820).

Bei der Entstehungsgeschichte der Grundrechte geht Hilker bis ins 17. Jahrhundert zurück. So untersucht sie den Einfluss der Naturrechtslehre, widmet sich der Virginia Bill of Rights von 1776 "als erster positivierter Menschenrechtserklärung" (53), der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 und schließlich den Freiheitsrechten in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Hier geht sie besonders auf das Preußische Allgemeine Landrecht (1794), das zeitgenössische Staatsrecht, die Physiokraten und Kant ein. Nicht erwähnt werden allerdings die Menschenrechtsvorstellungen und Verfassungsentwürfe der deutschen Jakobiner. [3] Ähnlich unterbelichtet bleiben auch die Rheinbundverfassungen. Immerhin gewährten doch die Grundgesetze von Westphalen und Bayern (1807/08) Rechtsgleichheit und Religionsfreiheit. Hilker schließt sich dagegen der älteren Forschungsmeinung (vor allem von E.R. Huber) an, indem sie von Scheinkonstitutionalismus spricht und lediglich "grundrechtsähnliche" Bestimmungen anerkennt. [4]

Erst nach rund 150 Seiten Vorgeschichte kommt die Autorin auf ihr eigentliches Thema zu sprechen, indem sie die Entstehungsbedingungen der frühkonstitutionellen Verfassungen darstellt. Bei den Motiven für die Verfassungsgebung führt sie den Finanzbedarf, die Integration neuer 'Untertanen' und die Legitimation der Herrschaft an. Es wird deutlich, wie sehr die ersten Grundrechtsgewährungen Konzessionen der monarchischen Regierungen waren und aus bürokratischem Kalkül resultierten. Auch deshalb blieb ihre Reichweite begrenzt und ihre gerichtliche Einklagbarkeit und Überprüfbarkeit fehlte.

Hier wie leider generell sind die Ausführungen Hilkers nicht frei von Fehlern. So verwundert die Feststellung, auf dem Wiener Kongress sei "die Herstellung eines deutschen Reiches" beabsichtigt gewesen (153). Auch bleibt die Formulierung rätselhaft, dass "in den frühkonstitutionellen Verfassungen [...] durch das monarchische Prinzip das demokratische Prinzip [...] anerkannt" werden sollte (348).

Fälschlicherweise glaubt die Autorin, dass die publizierten Landtagsprotokolle zensiert worden seien (280), obwohl doch gerade diese im Vormärz eine der großen 'Inseln' bei der Zensurpraxis waren. Überhaupt gerät die praktische Rolle der Grundrechte im politischen Alltag bei der Untersuchung so gut wie nicht in den Blick. Denn auf die Auswertung der ausführlichen Grundrechtsdiskussionen in den einzelstaatlichen Landtagen - und sei es auch nur kursorisch oder beispielhaft - wurde vollständig verzichtet. So fehlt eben genau jene Analyse der realhistorischen Einflüsse der Grundrechte, die in der Einleitung angekündigt wurde.

Ungeklärt bleibt in Hilkers Studie vor allem die wichtige Frage nach der tatsächlichen Relevanz und der politischen Konsequenz der frühen Bürgerrechte in Deutschland. Im Werbeprospekt findet sich die monokausale Feststellung, die Grundrechte seien "zum Auslöser der Revolution von 1848" geworden. Sicherlich sind sie ein Indiz für den eher transitorischen Charakter des Konstitutionalismus, wie die Autorin resümiert; aber die Belege für diese These gibt sie nicht oder nur unzureichend. Auch deshalb wirkt ihr Resümee, die frühkonstitutionellen Grundrechte seien "ein getreues Abbild der bestehenden Machtverhältnisse gewesen" und hätten auf diese Einfluss nehmen können, äußerst blass.

Neben den inhaltlichen Schwächen fallen auch gelegentliche stilistische, vor allem aber formale Mängel ins Auge. Dazu zählt insbesondere ein lückenhaftes Personen- und Sachverzeichnis. So fehlen u. a. die Stichworte "Adelsprivilegien", "Auswanderungsfreiheit", "Gewerbefreiheit" oder "Petitionsrecht".

Die Stärken der vorliegenden Studie liegen eindeutig in den rechtstheoretischen und rechtstechnischen Erörterungen über Geltungskraft und Funktion der einzelnen Grundrechte. Dies wiegt jedoch die gravierenden Mängel nicht auf. Sie liegen vor allem in der fehlerhaften historischen Verankerung und an den fehlenden neuen Erkenntnissen. So wissen wir nun manche Details mehr über die Grundrechte in den süddeutschen Verfassungen. Doch es bleibt zu bedauern, dass die realhistorische Bedeutung des Themas im Vormärz unzureichend dargestellt wurde.


Anmerkungen:

[1] Rüdiger Suppé: Die Grund- und Menschenrechte in der deutschen Staatslehre des 19. Jahrhunderts (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, 71), Berlin 2004.

[2] Dann wäre der Verfasserin aufgefallen, dass der spezifische Begriff "Grundrechte" erst 1848 geprägt worden ist. Siehe dazu Gerd Kleinheyer: Grundrechte, Menschen- und Bürgerrechte, Volksrechte, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, 1075 ff.

[3] Obwohl dies vor wenigen Jahren untersucht worden ist: Oliver Lamprecht: Das Streben nach Demokratie, Volkssouveränität und Menschenrechten in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Zum Staats- und Verfassungsverständnis der Deutschen Jakobiner (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, 63), Berlin 2001; siehe hierzu die Rezension von Heike Wüller, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 4 [15.04.2004], URL: http://www.sehepunkte.de/2004/04/4397.html.

[4] Positivere Bewertung bei Michael Hecker: Napoleonischer Konstitutionalismus in Deutschland (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, 72), Berlin 2005; siehe hierzu die Rezension von Ewald Grothe in sehepunkte, 5 (2005), Nr. 12 [15.12.2005], URL: http://www.sehepunkte.historicum.net/2005/12/8292.html.

Rezension über:

Judith Hilker: Grundrechte im deutschen Frühkonstitutionalismus (= Schriften zur Verfassungsgeschichte; Bd. 73), Berlin: Duncker & Humblot 2005, 407 S., ISBN 978-3-428-11801-4, EUR 84,00

Rezension von:
Ewald Grothe
Bergische Universität Wuppertal
Empfohlene Zitierweise:
Ewald Grothe: Rezension von: Judith Hilker: Grundrechte im deutschen Frühkonstitutionalismus, Berlin: Duncker & Humblot 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/10/9323.html


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