Der vorliegende schmale Sammelband dokumentiert die Beiträge zu einer Sektion des 44. Deutschen Historikertags, der im Jahr 2002 unter dem Titel "Traditionen - Visionen" in Halle stattfand. Dieses Leitmotiv haben die Herausgeber fruchtbar gemacht, indem sie auf verschiedensten Feldern des scheinbar so stark am Bewahren überkommener Traditionen orientierten mittelalterlichen Rechtslebens gezielt Prozessen des unbewussten Wandels wie vor allem der bewussten Innovation nachgegangen sind und nach den Leitbildern - Visionen - gefragt haben, die diese Prozesse motiviert haben. In der Einleitung (1-24), die ein breites Spektrum aktueller Forschungsprobleme und -ergebnisse anreißt, wird vor allem auf die das gesamte Mittelalter prägende Vielfalt und Überschneidung verschiedener Rechtskreise abgehoben sowie auf die daraus resultierende Herausforderung, die Rechtswirklichkeit in lokalen Gemeinschaften konsequent aus der Akteursperspektive heraus zu verstehen. "Für Historiker, die im Unterschied zur älteren Rechts- und Verfassungshistorie rechtliche Quellen nicht nur normativ betrachten, sondern sie in ihrer sozialen Eingebundenheit interpretieren möchten, verspricht dieser etwas dynamischere Blick auf das mittelalterliche Rechtsleben gewinnbringend zu sein" (24).
Worum geht es in den einzelnen Beiträgen? Stefan Esders untersucht die Treueidleistungen im merowingischen Frankenreich vor der Folie der Tradition dieses Rechtsinstituts im spätantiken Militärwesen (25-61). Steffen Patzolds zu den in Halle vorgetragenen Referaten hinzugefügter Beitrag ist der bewussten Veränderung älterer 'Leges' in karolingischen Kapitularien gewidmet (63-99). Die Spannungsfelder von "Regelung aus der Ferne und Klärung vor Ort" sowie von "moderne[n] und traditionelle[n] Instrumentarien herrscherlicher Einflussnahme auf das hochmittelalterliche Rechtsleben" verfolgt Detlev Kraack für die Barbarossazeit, unter anderem am Beispiel der Intervention des Kaisers in eine Auseinandersetzung zwischen Bischof Gottfried von Utrecht und Graf Florentius III. von Holland um Grafschaftsrechte in Teilen Frieslands (101-121). Ins Spätmittelalter führen die folgenden Aufsätze: Regina Schäfer analysiert die Nutzung von Regalien durch Fürsten und nichtfürstliche Herrschaftsträger für die Phase, in der sich die Differenz der Stellung beider Gruppen erst allmählich verfestigte und die Konsequenzen für die Nutzung von Herrschaftsrechten zunehmend ausbuchstabiert wurden (123-145). Christine Reinle befasst sich mit politischen und geistlichen Initiativen, die im Ausgang des Mittelalters dazu beitrugen, Fehden, die bis dahin in allen gesellschaftlichen Schichten als ein legitimes Mittel der Konfliktführung galten, als unrechtmäßige Gewalt zu inkriminieren und zu unterdrücken (147-174). Dieter Scheler schließlich zeichnet die Dynamik der Grundherrschaft im Niederrheingebiet von der zweiten Hälfte des Mittelalters an nach, die in der Frühen Neuzeit zur Kodifikation eines eigenen Latenrechts führte, einer für diese Region typischen Form der Vergabe unteilbarer Hofeinheiten (175-192).
Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die Einzelergebnisse aufzuzählen, die durchweg reich dokumentiert sind und auf intensiven eigenen Vorarbeiten basieren. Stattdessen seien einige Fragestellungen umrissen, die den Beiträgen gemeinsam sind. Grundsätzlich standen alle Autoren vor der Herausforderung, gegen die im Mittelalter gängige rhetorische Figur vom guten alten Recht tief greifende Wandlungen wie gezielte Veränderungen von Norm und Praxis bewusst zu machen. Dies geschah etwa durch den Nachweis eines gewandelten Verständnisses von Gerechtigkeit und Frieden, die im ausgehenden Mittelalter immer enger aneinander gerückt wurden, um dadurch den Fehden ihre Legitimität abzusprechen und gewohnte Formen der Wahrung eigener Interessen als Friedens- wie Rechtsbruch zu stigmatisieren und zu bekämpfen (Reinle) - also ein Wandel der Semantik unverändert fortgeführter Begrifflichkeiten. In eine ähnliche Richtung weisen die Beobachtungen Stefan Esders zum Treueid, dessen Bezeichnung und Kerngehalte eines persönlichen Unterwerfungs- und Gehorsamsversprechens beibehalten wurden, durch die gewandelten politischen Strukturen wie vom Eid erfassten Personenkreise und Rechtsinhalte aber mit neuen Bedeutungen und Konsequenzen versehen wurden. Auch Dieter Schelers Untersuchung verfolgt die Umprägung eines fortgeführten Rechtsinstituts dadurch, dass es während der Frühen Neuzeit als kodifiziertes Latenrecht in den Fokus landesherrlicher Normierungsbestrebungen geriet. Neben diese schleichenden Veränderungen traditioneller Rechtsinstitute tritt in den Studien Detlev Kraacks und Regina Schäfers das Bemühen, problematisch gewordene Verhältnisse durch einen bewussten Rekurs auf ältere Gepflogenheiten neu zu definieren. Steffen Patzold hingegen benennt den geradezu modern anmutenden, sonst eher für das spätere Mittelalter bekannten Anspruch, durch gezielte Eingriffe in schriftlich fixierte Normen die geltenden Gesetze zu präzisieren und den Bedürfnissen der Gegenwart anzupassen. Seine Rekonstruktion der angewandten technischen Mittel führt in die Richtung der seit den 1980er-Jahren breit geführten Debatte zur mittelalterlichen Schriftlichkeit und nutzt zu diesem Zweck die idealtypischen Modelle einer oralen und einer literalen Kultur.
Neben diesen unterschiedlichen Spielarten, in den behandelten Kontexten Rechtsveränderung im scheinbar so traditionalen Mittelalter auszumachen, verfolgen alle Autoren gleichfalls die Frage nach den 'Visionen', die der jeweiligen Praxis zu Grunde lagen. Die benannten Leitideen reichen von der Wahrung von Recht und Frieden (Reinle) über die Emendation problematischer Texte zur Beförderung der 'communis utilitas' (Patzold) bis zur Wahrung je eigener Interessen in der kontinuierlichen Rivalität zwischen Ober- und Unterherrschaft um die Kontrolle ländlicher Immobilien (Scheler). Dass gerade explizite Ansprüche, Norm und Praxis zu verändern, einer starken programmatischen Legitimation bedurften, liegt auf der Hand. Der Ansatz der Herausgeber, nicht große Prozesse wie die Entwicklung europäischer Staatlichkeit als Interpretament zu bemühen, sondern nach lokalen Problemlagen und lokalem Sinn zu fragen, ermöglicht es, die Begründungen ernst zu nehmen, die die Akteure selbst anführten. Dass bei der Vielfalt der Untersuchungsgebiete keine kohärente 'Programmatik der Rechtsveränderung im Mittelalter' angestrebt wurde, darf als Stärke des anregenden Bandes gewertet werden.
Die Tatsache, dass es möglich ist, Beiträge über die Rechtspraxis von der ausgehenden Antike bis zur Frühen Neuzeit, die auf unterschiedlichen sozialen Niveaus angesiedelt sind, in synthetischer Form zu rezensieren, spricht für die Kohärenz des Bands. Während breiter angelegte Sammelwerke in manchen Fällen den Charakter von Buchbindersynthesen annehmen, gelingt es hier, die konzentrierte Diskussion einer gut angelegten Sektion des Historikertages in gedruckter Form zu dokumentieren. Die Lektüre des Rezensionsexemplars - das mag abschließend doch angemerkt sein - litt allerdings darunter, dass es so geleimt war, dass sich einige Seiten nur unter erheblicher Beschädigung des Papiers vollständig öffnen ließen.
Stefan Esders / Christine Reinle (Hgg.): Rechtsveränderung im politischen und sozialen Kontext mittelalterlicher Rechtsvielfalt (= Neue Aspekte der europäischen Mittelalterforschung; Bd. 5), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2005, VI + 197 S., ISBN 978-3-8258-8541-0, EUR 19,90
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