Im 19. Jahrhundert war Mädchen und Frauen der Besuch von Gymnasien und Universitäten verwehrt und somit auch der Zugang zu entsprechenden Berufskarrieren. Die deutschen Staaten zeigten wenig Interesse an der Institutionalisierung und Normierung des höheren Mädchenschulwesens und überließen privaten und kommunalen Schulträgern das Feld. Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden - nicht zuletzt auf Druck der bürgerlichen Frauenbewegung und der Elternschaft - öffentliche höhere Mädchenschulen, die den Zugang zur Hochschulreife und zum Hochschulstudium eröffneten.
Der hier vorliegende dritte Teil des 2. Bandes des Datenhandbuchs zur deutschen Bildungsgeschichte geht zurück auf ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt eines mehrbändigen Handbuchs, das sich zum Ziel gesetzt hatte "eine solide Datenbasis zum langfristigen Strukturwandel des deutschen Schul- und Hochschulsystems zu erarbeiten" (13). Er ist dem Strukturwandel des höheren Mädchenschulwesens und den damit zugänglichen 'mittleren' Frauenberufen vom 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts gewidmet, nachdem der zweite Teil sich zunächst mit dem System der höheren Lehranstalten für Knaben auseinandergesetzt hatte. Zukünftige quantitativ ausgerichtete Forschungsvorhaben werden auf diesen informativen, solide recherchierten Band, der zum einen die Heterogenität der deutschen Mädchenschullandschaft am Beispiel einzelner Schulen, verschiedener Schulträger und unterschiedlicher Regionen aufzeigt, zum anderen die zunehmende Systematisierung und Normierung in Richtung auf die entstehenden Strukturen des deutschen Schulsystems empirisch dokumentiert und analysiert, nicht mehr verzichten wollen.
Trotzdem sei ein Wort der Kritik erlaubt. Die Anfänge der Forschungen zu diesem Band reichen zurück bis in das Jahr 1983. Erste Ergebnisse wurden Ende der Achtzigerjahre publiziert, die Arbeit an dem Datenhandbuch gestaltete sich aber aufgrund personeller Veränderungen im Team der Forscherinnen und Forscher ausgesprochen schwierig und ruhte schließlich fast ganz, bis 1997 mit der Berufung von Bernd Zymek auf die Professur für Allgemeine und Historische Pädagogik an der Universität Münster eine Wiederaufnahme der Arbeiten erfolgen konnte. Mit der Entstehung und Etablierung der historisch-pädagogischen Frauen- und Geschlechterforschung hatte sich allerdings in der Zwischenzeit die Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung zu einem Schwerpunkt in der Historischen Bildungsforschung entwickelt. Hier galt es Anschluss an den aktuellen Forschungsstand zu finden. Das ist, bei aller Wertschätzung, die man der Autorin und den Autoren für ihre mühselige Arbeit der Datengewinnung und -aufbereitung entgegenbringen muss, nicht in allen Fällen gelungen. Neuere Studien haben zwar Eingang in das Literaturverzeichnis gefunden, deren Forschungsergebnisse scheinen allerdings nur punktuell in ältere Textfassungen eingearbeitet worden zu sein. Für das 19. und frühe 20. Jahrhundert hat die bildungshistorische Frauen- und Geschlechterforschung zu einer deutlich veränderten Perspektive auf die Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung beigetragen. Regional- bzw. lokalgeschichtlich angelegte Studien haben zu Recht das stark preußenlastige und auf die Rolle des Staates konzentrierte Bild der bisherigen Schulgeschichtsschreibung moniert und den bildungspolitischen Anteil von Frauen und Frauenvereinen beim Auf- und Ausbau des höheren Mädchenschulwesens herausgearbeitet.
Das Datenhandbuch gesteht zwar zu, dass es besonders langlebige private Schulen, sogenannte "Traditionsanstalten" gab, die zum "Motor des historischen Entwicklungstrends zu ausgebauten und ausdifferenzierten Institutionen der Mädchenbildung" (119) avancierten, reproduziert aber in weiten Teilen die längst veraltete Sichtweise vom Staat als dem (fast) ausschließlichen Initiator und Träger von Bildungsprozessen und Bildungsinstitutionen. Alternative Sichtweise lassen sich ansatzweise in Kapitel 3.3 wiederfinden, das die Bedeutung der von Helene Lange gegründeten Real- bzw. Gymnasialkurse für die weitere Entwicklung des höheren Mädchenschulwesens thematisiert, sowie in Kapitel 9, in dem es um Mädchenschulen in der Trägerschaft religiöser Gemeinschaften geht. Der Religionsbegriff ist allerdings recht eng gefasst, sonst hätten nicht nur die Schulen katholischer Ordensgemeinschaften oder protestantischer Erweckungsbewegungen - Herrnhuter Brüdergemeine [!] - aufgeführt werden müssen, sondern auch die von freireligiösen Frauenvereinen im 1848-Milieu gegründeten Anstalten sowie Bildungseinrichtungen für jüdische Mädchen. Positiv zu vermerken ist, dass das Datenhandbuch endlich die bisher in der Schulgeschichte vorherrschende Auffassung, der 'Kulturkampf' habe das Ende des Ordensschulwesens in Preußen bedeutet, revidiert. Nach der Lockerung bzw. Zurücknahme der 'Kulturkampfgesetze' setzte in den 1890er-Jahren "in Preußen, ebenso in Bayern eine neue Welle von Ordensschulgründungen ein, die bis zum ersten Weltkrieg anhielt" (205).
Bernd Zymek / Gabriele Neghabian (Bearb.): Sozialgeschichte und Statistik des Mädchenschulwesens in den deutschen Staaten 1800-1945. Unter Mitarbeit von Lutz Hiob (= Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte; Bd. II: Höhere und mittlere Schulen. 3. Teil), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 288 S., ISBN 978-3-525-36217-4, EUR 59,90
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