Tagungsbände bieten im Idealfall einen Einblick in Forschungsinnovationen, die noch nicht monografisch fixiert sind. So war es vor drei Jahren mit dem von Olaf Mertelsmann herausgegebenen Band "Sovietization of the Baltic States, 1940-1956" der Fall, der durch thematische wie methodische Vielfalt bestach. Der aktuelle, auf Estland beschränkte Sammelband ist daher hohen Erwartungen ausgesetzt, umso mehr, als er größtenteils einheimische, d. h. estnische Historiker zu Worte kommen lässt.
Die Überblicksdarstellungen stammen allerdings zumeist aus den Federn nichtestnischer Autoren. So behandelt ein durchaus kritischer Beitrag von Konrad Maier anhand der neueren Literatur und zeitgenössischer Tageszeitungen die als "Ära des Schweigens" bezeichnete Zeit des autoritären Regimes unter Konstantin Päts. Allerdings wagt der Verfasser keine These zu der viel diskutierten Frage, inwiefern sich der estnische Staat durch die Einschränkung demokratischer Freiheiten alternativer Handlungsmöglichkeiten gegen den wachsenden sowjetischen Druck beraubt habe. Die Sowjetisierung nach 1941, die deutsche Besatzungszeit und der Nachkriegsstalinismus werden von Mertelsmann auf Grundlage der aktuellen estnischsprachigen Literatur anschaulich dargestellt. Ganz im Sinne der "revisionistischen Schule" der Siebzigerjahre sieht der Autor die Stabilisierung des Systems nicht nur in Terror und Einschüchterung begründet, sondern ebenso in einer allgemeinen Professionalisierung und der Aussicht auf Karrierechancen. Auch durchbricht er die nationale Lesart, indem er bemerkt, unter den radikalen und den gemäßigten Stalinisten habe es jeweils sowohl Esten, Russlandesten wie auch Russen gegeben. Neuere Forschungen zur Nationalitätenpolitik unter Stalin hat der Herausgeber dagegen kaum berücksichtigt.
Dass gegenüber solchen Syntheseversuchen bei den estnischen Historikern die unmittelbare Aufarbeitung von Archivquellen vorherrscht, ist kaum verwunderlich, widmen sich einige der Beitragenden doch derzeit als Mitarbeiter der "Stiftung zur Untersuchung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit" der wichtigen Aufgabe, das vorhandene Quellenmaterial zu sichten. So speist sich etwa der Beitrag von Meelis Maripuu und Indrek Paavle über die deutsche Zivilverwaltung in Estland und die estnische Selbstverwaltung aus dieser Arbeit. Wie dies mitunter zu einer gewissen Überfrachtung führen kann, zeigt Toomas Hiios militärhistorischer Aufsatz über Estland im Zweiten Weltkrieg. Er präsentiert äußerst detailliertes Material über Truppenbewegungen und Kampfhandlungen, das zwar im Westen noch weitgehend unbekannt ist [1], ohne Einbindung in einen Forschungszusammenhang aber auch wenig zum weiteren Verständnis der Ereignisse beiträgt. Dass es auch anders geht, zeigt Argo Kuusiks Beitrag über die deutsche Vernichtungspolitik in Estland 1941-1944, die sich gegen Juden, Kommunisten, aber auch gegen gesellschaftliche Außenseiter richtete. Der ebenfalls weitgehend aus den Quellen gearbeitete Aufsatz besticht nicht nur durch fundierte Sachkenntnis, sondern auch durch das Bemühen um eine angemessene Interpretation. Der Verfasser gibt sich nicht damit zufrieden, Stahleckers viel zitierten Bericht wiederzugeben, demzufolge es nicht gelang, in Estland antijüdische Pogrome zu provozieren, sondern stellt das System als Ganzes dar: vom Einsatzkommando 1a bis hin zu den örtlichen Einheiten des Selbstschutzes, deren Beteiligung es nach Meinung des Autors ermöglichte, der Ermordung der Juden einen scheinbar legalen Anstrich zu geben.
Gleich zwei Aufsätze haben das Thema Religion zum Gegenstand: Während Jaanus Plaat sich neben den großen Kirchen auch den Herrnhuter Gemeinden, den Baptisten, den Methodisten und den Adventisten widmet, beschäftigt sich Riho Altnurme, wie schon im oben erwähnten früheren Sammelband von Mertelsmann, detailliert mit der Estnischen Evangelisch-lutherischen Kirche. Beide Beiträge beschränken sich allerdings weitgehend auf die institutionelle Seite der Kirchen und ihrer Gleichschaltung ab etwa 1949. Das "religiöse Leben" selbst, das der Ethnologe Plaat im Titel seines Beitrags zu untersuchen verspricht, geht hinter der Kirchenpolitik und den äußeren Daten der Mitgliederzahlen fast verloren. Dass der institutionalisierte Glauben in Estland auch unabhängig von der kirchenfeindlichen Politik der Sowjetmacht im Rückmarsch war, ist sicher eine wichtige Bemerkung. Sie fordert aber zu der Frage heraus, welche Rolle Spiritualität in den krisenhaften Nachkriegsjahren überhaupt spielte, wie sie gelebt wurde und warum gerade die von der Sowjetmacht besonders misstrauisch beobachteten freikirchlichen Gemeinden geringere Mitgliedereinbußen zu verzeichnen hatten. Solche Fragen lassen sich aber nicht anhand von Rechtsquellen, politischen Verfügungen oder quantitativen Angaben beantworten, sondern erfordern die Einbeziehung subjektiver Quellen.
Gerade in diesem Sinne ist der Beitrag von Rutt Hindrikus über die autobiografische Erinnerung an die sowjetische Zeit nicht zuletzt ein wichtiger Kommentar zur geschichtswissenschaftlichen Methodik - die von ihr behandelten Ego-Dokumente zeigen Geschichte als Prozess, in dem private wie kollektive Erfahrungen verarbeitet werden. Die Analyse der Art und Weise, in der gerade die ältere Generation häufig ihre persönliche Geschichte bewusst mit der "großen Geschichte" zu verbinden bemüht ist, bietet wichtige Einsichten in die Wechselwirkungen von historischer Erfahrung und nationaler Identität. Die Autorin dieses gelungenen Beitrags macht selbst allerdings auf eine Beschränkung solcher Quellen aufmerksam: Bislang schrieben nur die Opfer. Das Schreiben von Autobiografien diente nicht zuletzt der Traumaverarbeitung angesichts von Gewalterfahrungen, Flucht und Deportation. Letztere wird auch in einem eigenen Beitrag von der wohl besten Kennerin dieses Themas, Aigi Rahi-Tamm, behandelt. Neben Angaben über Zahlen, Opfergruppen, Täterinstitutionen und Verlauf, welche die Verfasserin an unterschiedlichen Stellen schon beschrieben hat, findet sich hier ein interessantes Fallbeispiel über die Deportation von Deutschen, die nach der Umsiedlung in Estland geblieben waren.
Doch Terror war nur eine Seite des Sowjetregimes. Wie Intellektuelle, die nicht im Verdacht der Sowjetfeindlichkeit standen, aktiv umworben und mit Privilegien an das neue Regime gebunden wurden, betonen Jaak Kangilaski und Olaf Mertelsmann in jeweils einem Beitrag über die estnische Kunst und die Kultur- und Bildungspolitik der Sowjetmacht. Die neuen Karrieremöglichkeiten wurden von Künstlern und Intellektuellen breit genutzt, Diktatur und Kultur, so die Aussage Mertelsmanns, profitierten voneinander. In der bildenden Kunst setzten sich die Dreißigerjahre im Werk von Künstlern wie Adamson-Eric oder Andrus Johani formal wie inhaltlich fort und überdauerten auch die deutsche Besatzungszeit. Erst 1946 endete die relative Freiheit durch Kampagnen gegen "Formalismus" oder "Kosmopolitismus". Wie die widerspruchsvolle Kultur- und Bildungspolitik des Stalinismus in ihrer Langzeitwirkung zu interpretieren ist, bleibt indessen undeutlich. Mertelsmanns paradoxe Behauptung, die stalinsche Bildungsexpansion sei noch in den Achtzigerjahren für die Realitätsblindheit der Führungskader ebenso verantwortlich gewesen wie für die Kritikfähigkeit der Dissidenten (265), bedarf detaillierterer Erläuterungen. Hier ist auf zukünftige Publikationen zu hoffen.
Paradox waren auch die Ziele der Moskauer Führung. Wie die russische Historikerin Elena Zubkova zeigt, stand dem Ziel, innerhalb der Kommunistischen Partei estnische Kader zu fördern, immer die Furcht vor separatistischen Tendenzen gegenüber, die man durch eine Internationalisierung des Parteiapparats - also der Hinzuziehung von Funktionären aus den alten Sowjetrepubliken - einzudämmen versuchte. Die Kompromisspolitik wurde ab 1947 erheblich eingeschränkt, und Massenkollektivierung, Deportationen und Parteisäuberungen machten in den Jahren 1949 bis 1950 deutlich, dass die Zeit einer Sonderbehandlung vorerst vorbei war. Dass sich unmittelbar nach Stalins Tod ausgerechnet Lavrentij Berija bemühte, das durch die Gewalt- und Säuberungspolitik verlorene Vertrauen mit einer "neuen Nationalitätenpolitik" wiederzugewinnen, schildert Tõnu Tannberg in einem eigenen Beitrag, der überzeugend neue Quellen mit dem aktuellen Forschungsstand verbindet. Besonders bemerkenswert ist eine breit zitierte Denkschrift des Leiters der ZK-Abteilung für Partei-, Komsomol- und Gewerkschaftsorganisationen Evgenij Gromov, einem Parteigänger Chruščevs. Sie zeichnete ein ungeschöntes Bild darüber, wie die Nachkriegspolitik weder wirtschaftlich noch machtpolitisch die gewünschten Resultate gezeitigt habe. Eine Beseitigung dieser Mängel nicht zuletzt durch gewichtige Konzessionen an die Nationalitäten wurde durch den Sturz Berijas verhindert.
Trotz der guten Einzelbeiträge erscheint der Sammelband unausgewogen: Auf der einen Seite bestehen Doppelungen (etwa beim Thema Kirchenpolitik), während auf der anderen Seite wichtige Themenfelder, wie etwa die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, nur am Rande gestreift werden. Ein autobiografischer Beitrag von Gerhard von Hörschelmann über die Lebensbedingungen der umgesiedelten Deutschbalten im Warthegau, der die innerkirchlichen Auseinandersetzungen betont, steht thematisch und formal vollkommen isoliert da, und der Wiederabdruck des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Paktes erscheint völlig überflüssig. Auch was die methodische Innovation anbetrifft, kann sich der Band als Ganzes nicht mit seinem Vorgänger messen. So liefert er zwar interessante Einblicke und neues Material zur Erforschung bestimmter Aspekte der sowjetestnischen Geschichte. Der große Wurf aber ist diesmal nicht gelungen.
Anmerkung:
[1] Eine estnische Zusammenfassung findet sich auf: http://www.okupatsioon.ee.
Olaf Mertelsmann (Hg.): Vom Hitler-Stalin-Pakt bis zu Stalins Tod. Estland 1939-1953, Hamburg: Bibliotheka Baltica 2005, 301 S., EUR 29,80
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