Die Langzeitvorhaben der deutschen Akademien geben in periodischen Abständen der einschlägigen Presse Anlass, über den ihr schier unbegreiflich erscheinenden Umfang der Zeit zu sinnieren, die jene Unternehmen benötigen. Das Paradebeispiel bietet zumeist die Edition der Schriften und Briefe von Gottfried Wilhelm Leibniz, deren Beginn in das Jahr 1901 fällt, die noch andauert und sicher mehrere weitere Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. Warum gerade die Leibniz-Edition immer wieder ins Visier der Kritik gerät, ist im übrigen nicht ganz einsehbar, gibt es doch durchaus noch ältere Akademievorhaben, z.B. die Publikation der Reichstagsakten (seit 1858); vielleicht ist es der Kontrast zwischen der Lebenszeit des Philosophen und der Zeit, die die Edition seiner Schriften beansprucht. Das deutet jedenfalls eine letzthin von Oliver Jungen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. August 2006 unter dem Titel "Was lange währt. Verzettelung: Die Langfristforschung deutscher Akademien" formulierte Frage an: "Braucht es wirklich mehr als anderthalb Jahrhunderte, um die Schriften eines Denkers zu Papier oder ins Netz zu bringen?" Der Fragende suggeriert damit dem Leser, dass doch bei diesem Unternehmen, das über Menschenleben hinweg das Geld des braven Steuerzahlers verschlingt, etwas nicht stimmen kann. Der Phantasie wird dann in der Suche nach den Ursachen freien Lauf gelassen. Dazu ist als erste Bemerkung daran zu erinnern, dass keineswegs seit 1901 unverdrossen und unbehindert an dieser Edition gearbeitet wurde. Weltkriege, Kalter Krieg, wirtschaftliche Krisen und Zusammenbrüche und andere Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts haben die Leibniz-Ausgabe mehr getroffen als wohl die meisten wissenschaftlichen Großprojekte.
Vor allem aber sind es die enormen Anforderungen, die die Edition von Leibniz-Texten den Bearbeitern stellt. Der hier vorzustellende, von Nora Gädeke und Sabine Sellschopp (unter Mitarbeit von Regina Stuber) bearbeitete 19. Band der Reihe 1 der Ausgabe, der insgesamt 392 Schreiben veröffentlicht (170 von Leibniz, 220 an ihn, davon 304 Briefe als Erstpublikationen), illustriert diese Feststellung. Wir bewegen uns hier im Zeitraum 1700/01 und sehen Leibniz auf den denkbar unterschiedlichsten Gebieten tätig. Seine nicht unerheblichen (in der Regel eher weniger erfolgreichen) politischen Ambitionen lassen ihn u.a. an den Verhandlungen über die in den Bereich des Möglichen rückenden Sukzessionsansprüche der Welfen auf den englischen Thron teilnehmen.
Überhaupt bilden Gedanken zu den aktuellen politischen Ereignissen der Zeit (u.a. Nordischer Krieg und Spanischer Erbfolgekrieg) einen zentralen Inhalt der Schreiben. Das wohl von Leibniz in seinem Leben mit größtem, mit unermüdlichen Engagement verfolgte Ziel der Reunion bzw. Union der drei großen Konfessionen beschäftigt ihn auch in diesen Monaten intensiv, insbesondere in der Korrespondenz mit Franz Anton von Buchhaim, dem Bischof von Wiener Neustadt. Um diese Unterhandlungen zu intensivieren, aber auch um die Möglichkeiten einer Anstellung am kaiserlichen Hofe zu eruieren, reist Leibniz zweimal im Geheimen nach Wien. Die zweite Reise war der Forschung bisher unbekannt und konnte erst bei der Erarbeitung des vorliegenden Bandes erschlossen werden (vgl. die Rekonstruktion der Vorgänge auf Seite 709f.).
In Berlin wird er mit den nicht geringen Problemen der 1700 auf seine Initiative hin gegründeten Sozietät der Wissenschaften konfrontiert. Mit einer Reihe der Professoren der Universität Helmstedt steht Leibniz in einem dichten Briefverkehr. Die Hochschule ist durch die Folgen der Gründung der Universität Halle von einer Krise erfasst worden, und Leibniz tritt als Berater für eine Reform fast sämtlicher akademischer Lebensbereiche in Erscheinung. Auch in diesem Zeitraum bleibt Leibniz ein eifriger Mitarbeiter der "Acta Eruditorum", der nach wie vor bedeutendsten wissenschaftlichen Zeitschrift Deutschlands. Hier ist vor allem auf den Briefwechsel mit Otto Mencke, dem Herausgeber, zu verweisen. In Wolfenbüttel wirkt Leibniz als Leiter der dortigen berühmten Bibliothek.
Selbstverständlich spielen Buchneuerscheinungen eine große Rolle, wie bei allen Gelehrtenkorrespondenzen der Zeit. Mit dem schriftstellerisch tätigen Wolfenbütteler Herzog Anton Ulrich steht er in beständigem Austausch über politische und literarische Fragen. Verschiedene Korrespondenzen behandeln Themen aus den Bereichen der Mathematik und der Naturwissenschaften. Der Entwurf von Devisen auf Münzen und Medaillen wird in den Briefen an den Berliner Zeremonienmeister Johann von Besser verhandelt. Von Leibniz' bleibendem Interesse an China zeugt ein langes Schreiben an den Jesuiten Joachim Bouvet. Auch Leibniz' eigentliche dienstliche Verpflichtung, die Abfassung einer Geschichte der Welfen, gerät im Briefwechsel nicht aus dem Blick, auch wenn der Universalgelehrte diese Aufgabe bekanntlich niemals zu Ende bringen konnte.
Alle diese und eine große Zahl anderer Sachverhalte mussten in den Kommentaren zu den Briefen erschlossen werden: Personen, Publikationen, Ereignisse, Sacherklärungen, Nachweise von Zitaten, Datierungsfragen, Ermittlung der nicht immer bekannten Briefempfänger u.a. Den Abschluss des Bandes bilden schließlich verschiedene Register im Gesamtumfang von 100 Seiten, deren Erarbeitung allein schon höchste Anforderungen an die Bearbeiterinnen stellte. Diese Ermittlungsarbeiten sind in der Regel mühsam und zeitintensiv. Hinter einem Buchtitel, hinter einer Namensnennung kann sich die Arbeit vieler Stunden verbergen. Das ist der Grund, um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen, warum "das ewige Weitertorkeln" (O. Jungen) solcher Projekte wie der Leibniz-Edition andauert. Diese sicher alles andere als optimale Situation kann sich erst dann zum Besseren wandeln, wenn die Gesellschaft bereit ist, solche Unternehmen wirklich nachhaltig zu fördern und nicht einer Handvoll Wissenschaftler zu überlassen, die ohne Preisgabe unaufgebbarer Qualitätskriterien eben noch Jahrzehnte benötigen werden, um ihre Aufgabe zu lösen.
Die Edition einer so umfassenden und in jeder Hinsicht komplizierten Überlieferung, wie sie der Nachlass von Leibniz bietet, ist kein Projekt weniger Jahre und schnell abschließender Ergebnisse, wie sie in den heutigen Verhältnissen in wachsender Kurzsichtigkeit von Seiten der Politik immer stärker gefordert werden. Der vorliegende neue Leibniz-Band mit seinen so vielfältigen Inhalten, der eben nur aufgrund sorgsamer Arbeiten der Herausgeberinnen möglich war, sollte den Mut bestärken, auf dem bewährten Weg voranzuschreiten. Liegt einmal die Korrespondenz des großen Gelehrten geschlossen vor (ca. 18 000 Briefe), verfügen wir über ein einzigartiges Quellenmaterial, geradezu einen Schatz zur Wissenschafts-, Kultur- und Zeitgeschichte fast eines halben Jahrhunderts, das wesentlich dazu beigetragen hat, die Grundlagen unserer Epoche zu legen.
Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe. Erste Reihe: Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel. Bd. 19: September 1700 - Mai 1701, Berlin: Akademie Verlag 2006, LXXXII + 831 S., ISBN 978-3-05-004190-2, EUR 258,00
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