Binnenschifffahrt ist ein wichtiges Thema der Verkehrs-, Sozial- und Stadtgeschichte, das für die meisten Fluss-Systeme dieser Erde noch zu schreiben ist. Die großen Ströme Westeuropas, aber auch die mittleren Flüsse und selbst die kleinen und kleinsten Gewässer übernahmen am Ende der Antike und im Frühmittelalter einen wesentlichen Anteil der Transportaufgaben, die zuvor vom gut ausgebauten Netz der römischen Fernstraßen versehen worden waren. Das war zumindest die Anschauung der älteren Forschung und entspricht im Wesentlichen auch noch der Ansicht der meisten heutigen Autoren. Ralf Molkenthin möchte diese These in seiner Bochumer Dissertation auf den Prüfstand stellen. Sein Beobachtungswinkel fällt vor allem auf das deutschsprachige Gebiet des Frühmittelalters, mit einigen Ausblicken nach Norditalien. Die wichtigsten Quellen sind die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser sowie einschlägige Nachrichten aus Chroniken und Annalen. Der französische Sprachbereich einschließlich der immerhin auch zum Reich gehörenden, im Frühmittelalter besonders bedeutenden Nord-Süd-Achse Maas-Saône-Rhône bleibt außen vor.
Die anziehend geschriebene Darstellung setzt ein mit den überraschenden Funden frühmittelalterlicher Frachtkähne aus den letzten drei Jahrzehnten (Funde bei Krefeld, Kalkar, Bremen, Utrecht, dazu Einbäume bei Speyer und im Schluchsee). Behandelt werden zunächst die technischen Aspekte: Bau, Antrieb, Typen, Funktion der Schiffe, Häfen und Hafenviertel, Behinderungen und Gefahren. Auch Spezialschiffe wie Mühlen- oder Fährschiffe sowie Flöße sind nicht vergessen. Die Frage nach der Möglichkeit spezieller Kriegsschiffe auf Binnengewässern folgt in Kap. III 5.
Kapitel II widmet sich dem neuesten Stand der Forschungen zum Karlsgraben zwischen Rezat und Altmühl, also jenem gutbezeugten Kanalbau der Jahre 792/793, der eine Schiffsverbindung zwischen Main und Donau ermöglichen sollte, letzthin aber mit einem Fehlschlag endete. Hans Hubert Hofmann hatte für dieses Unternehmen 1967 nur eine militärische Zielsetzung angenommen, Detlev Ellmers 1993 auch für kommerzielle Nutzungsabsichten plädiert, Molkenthin will nur noch Letztere gelten lassen. Jüngste Beobachtungen wie der Bau eines Stausees zur Wasserhaltung im Kanal, Bohrungen im feuchten Untergrund und Ergebnisse der Luftarchäologie führten 1998 Konrad Spindler bereits zu der Annahme, der Kanal sei partiell nutzbar gewesen. Molkenthin (76) spricht gar von "betriebsfertigem Zustand" bzw. "im vollen geplanten Umfang [...] fertig geworden", doch steht dagegen die Aussage des wichtigsten und ausführlichsten Textzeugnisses, der Einhardsannalen, die Arbeiten seien im November 793 abgebrochen worden und alles sei vergeblich gewesen (incassum). Dieser Einwand wird nicht abgeglichen. Die durch Bohrungen nachgewiesenen Moor- und Torfschichten im Untergrund müssen zudem nicht erst durch Wasserhaltung im Kanal entstanden sein, denn das Gebiet war immer schon terra palustris (Anm. 160). Schließlich bietet auch der Stausee kein Argument für einen betriebsfertigen Zustand, denn solche ergänzenden Baustellen liefen zeitgleich zum Bau des Hauptkanals. Der aber wurde wegen ständig nachrutschendem Erdreich nicht vollendet.
Kapitel III widmet sich Aspekten der zivilen Binnenschifffahrt wie Fahrgästen, Transporten im Rahmen der großen Grundherrschaften, Fährdiensten, Handel, ausführlich aber auch dem Einsatz von Transportschiffen zu militärischen Zwecken. Molkenthin lehnt den Bau spezieller Binnenkriegsschiffe ab, hebt aber (115) den Bau spezieller Fährschiffe in Einzelteilen für eine Kriegsoperation jenseits des Ebro (810) hervor, während der gleichzeitige Bau von Kriegsschiffen gegen die Normannen in Gent (gut bezeugt durch Einhards Vita Karoli) in diesem Zusammenhang nicht erscheint. Umrüstung von Lastkähnen für Kampfeinsätze wären ein besonderes Thema. Die abschließende Generalthese zum Frühmittelalter, "dass die Flüsse dem Land einen ähnlich hohen Rang als Transportweg nicht ablaufen konnten" (125), scheint mir verfrüht, da hierzu eindringendere Darstellungen zu einzelnen Fluss-Systemen und ihren benachbarten Straßen notwendig wären. Monografien für die großen europäischen Ströme stehen weitgehend noch aus. Einzig die hier noch nicht berücksichtigte Maas mit den bekannten Arbeiten von Félix Rousseau (1930, Neudruck 1977) und der umfassenden, tief eindringenden Monografie von Marc Suttor führt wesentlich weiter. [1] Nutzbringend ist die Arbeit von Molkenthin vor allem durch ihre Vorstellung der archäologischen Funde und durch die gewissenhaften Quellenzitate, die durch das wertvolle Quellenregister (136-162) und durch die interdisziplinär ausgerichtete Bibliografie, vornehmlich deutschsprachiger Literatur, wirksam unterstützt werden.
Anmerkung:
[1] Marc Suttor: Vie et dynamique d'un fleuve. La Meuse de Sedan à Maastricht (des origines à 1600), Brüssel 2006.
Ralf Molkenthin: Straßen aus Wasser. Technische, wirtschaftliche und militärische Aspekte der Binnenschiffahrt im Westeuropa des frühen und hohen Mittelalters, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2006, 187 S., ISBN 978-3-8258-9003-2, EUR 19,90
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.