Hans-Ulrich Wehler hat die deutsche Geschichtswissenschaft der letzten vier Jahrzehnte geprägt wie kaum ein zweiter Historiker. Als enorm produktiver Autor und Herausgeber, hat sich der Kopf der "Bielefelder Schule" gleichzeitig immer wieder als public intellectual betätigt. Manch ausländischer Kollege vermochte von Wehler auch deutsche Schimpfworte zu lernen - so äußerte sich zumindest Richard Evans vor einigen Jahren in seiner Rezension von Wehlers "Umbruch und Kontinuität". Anlässlich Wehlers 75. Geburtstag haben sein früherer Assistent Manfred Hettling und dessen jetziger Assistent Cornelius Torp mehrere Interviews mit dem Jubilar geführt, die in dem vorliegenden Band zu einem im Großen und Ganzen chronologischen Text zusammengefasst sind. Das Schwergewicht soll dabei "weniger auf dem Lebenslauf als den sich ändernden wissenschaftlichen und politischen Konstellationen" (7) liegen, weshalb sich nur zwei der sieben Kapitel vor allem ersterem Bereich widmen und die restlichen fünf dem Letzteren.
Dennoch sind die mehr den Menschen als den Akademiker behandelnden Kapitel mindestens ebenso lesenswert. Ausführlich schildert Wehler seine jugendliche Begeisterung für den Nationalsozialismus, die sich allerdings nach dem Einmarsch amerikanischer Truppen und einer zwangsweisen Filmvorführung über Dachau und Buchenwald schnell gelegt habe. Die USA erwies sich dann in der Nachkriegszeit sowohl inner- als auch außerhalb der Universität als stärkste Prägung für Wehler, der zuerst als Fulbright-Stipendiat 1952 an die Ohio University kam. Als er in den frühen 1960er-Jahren in Stanford an seiner (ersten) Habilitation über den Aufstieg des amerikanischen Imperialismus arbeitete, lernte Wehler Hans Rosenberg kennen, der ihm schließlich eine Professur in Berkeley anbot. Trotz seiner Ablehnung - "der Hauptgrund war, dass ich die Bundesrepublik politisch viel spannender fand" (43) - blieb Wehler den amerikanischen Kollegen immer eng verbunden; und umgekehrt: im Jahr 2000 wurde er Ehrenmitglied der American Historical Association.
Als deutsche Vorbilder nennt Wehler den Kölner Soziologen René König und natürlich vor allem Theodor Schieder. Besonders Götz Aly und Peter Schöttler haben die Verteidigung Schieders durch seinen Schüler auf dem Frankfurter Historikertag 1998 vehement kritisiert, und wie damals verweist Wehler auch hier auf Schieders Lernprozesse nach dem Krieg, die für ein Gesamturteil zu berücksichtigen seien. Aber ein Moment der persönlichen Dankbarkeit schwingt hier ebenso mit, denn es wird deutlich, dass Schieder wiederholt zur Stelle war, wenn Wehlers Karriere in Gefahr schien - obwohl der Schüler politische und wissenschaftliche Positionen vertrat, die ganz und gar nicht mit denen seines Doktorvaters übereinstimmten.
Beeindruckend ist Wehlers Bereitschaft, vormals mit Verve vertretene Positionen zu modifizieren, etwa zum "Primat der Innenpolitik" oder zur "Sammlungspolitik", und meist geschieht dies auch mit einer Prise Selbstironie. Ferner konzediert Wehler, dass die Historische Sozialwissenschaft den Bereich der Ideen und Religionen vernachlässigt hätte: "man bezahlt eben einen Preis, wenn man sich weit aus dem Fenster hängt" (98). Ähnliches gilt für die einst vielbeschworene "Relevanz", zu der Wehler heute feststellt, er sei "erstaunt, mit welcher Selbstsicherheit wir da etwas vertreten haben" (84). Ebenso selbstkritisch sieht er die eigene kleindeutsche Perspektive auf das Kaiserreich. Und schließlich räumt Wehler ein, die durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten dramatischen Veränderungen im Hinblick auf 1933 nicht ernst genug genommen zu haben, denn "die Folgen des Weltkriegs standen damals [in den 1960er-Jahren] sowieso im Mittelpunkt. Das hing einem zum Hals heraus" (88).
Hettling und Torp kennen Wehlers Werk genau und stellen folglich stets präzise Fragen. Es wäre jedoch ebenso interessant gewesen, Wehler mit Urteilen anderer zu konfrontieren. Paul Nolte hat etwa vor einigen Jahren in einem Sammelband zum Historiografievergleich die Synthesen Nipperdeys und Wehlers gegenübergestellt und kam dabei zu dem Ergebnis, in Wehlers Fixierung auf die großen Männer in der Geschichte (erst Bismarck, später Hitler) zeige sich die Prägung durch Theodor Schieder, wohingegen Nipperdey ein "Strukturhistoriker par excellence" gewesen sei. [1] Wen würde Wehlers Meinung hierzu nicht interessieren?
Ferner wäre es lohnend gewesen, die von Wehler stets betonten Beziehungen zwischen der Historischen Sozialwissenschaft und der amerikanischen Geschichtswissenschaft genauer auszuloten. Denn viele Interpretamente der Bielefelder waren in den USA weit weniger populär. Zwar ist richtig, dass im OSS (mit dem Hans Rosenberg, entgegen Wehlers Behauptung, nichts zu tun hatte) während des Zweiten Weltkrieges von Felix Gilbert und Hajo Holborn eine Art Sonderwegthese entwickelt wurde. Aber Wehlers Altergenossen von Henry Turner über James Sheehan und Gerald Feldman standen und stehen derselben eher distanziert gegenüber. Und einen "Primat der Innenpolitik" fand man in den USA eher bei der Wisconsin School der US-Diplomatiegeschichte um William Appleman Williams und seinen Schülern als bei den Deutschlandhistorikern.
Hin und wieder versäumen Hettling und Torp auch, Wehlers argumentative Widersprüche zu thematisieren. An Foucault etwa stört Wehler "die Dogmatik seiner politischen Überzeugungen: von der KPF über Mao schließlich zum Khomeini-Verehrer" (135). Anderenorts hat Wehler jedoch argumentiert, ein "erzkonservativer Royalist" wie Otto Hintze müsse ebenso wie Max Weber in der Phase seines "alldeutschen Radikalnationalismus" an seinen methodisch-theoretischen Innovationen und nicht an seinen politischen Positionen gemessen werden. [2] Es bleibt also unklar, ob Wehler Theorie von Politik trennen möchte oder nicht.
Zudem fehlen die scharfen Auseinandersetzungen mit Alltags- und Geschlechtergeschichte in dem Band fast völlig. Das ist schade, denn die Etablierung der Historischen Sozialwissenschaft mitsamt der Kontroversen der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre erhalten angemessenen Raum, den die Debatten der frühen 1980er-Jahre ebenso verdient gehabt hätten. Wehler stellt zum oft überaus harschen Stil dieser Diskussionen mit "Barfußhistorikern" und "Kulturalisten" lediglich fest, man hätte eben das "agonale Prinzip" verfochten (94). Dass jedoch ein wenig mehr dahinter stand als die Lust an der Polemik, hat Adelheid von Saldern kürzlich noch einmal überzeugend gezeigt. [3]
Diese Mängel sind natürlich auch der Form dieser Publikation geschuldet. "Eine lebhafte Kampfsituation" ist ein sehr persönliches Buch und lässt daher sowohl Stärken als auch Schwächen des Jubilars deutlich hervortreten. Ein Gesamturteil hängt deshalb, das dürfte kaum überraschen, sehr von der historiografischen Position des Betrachters ab. Aber nachdem Hans-Ulrich Wehler eine so maßgebliche Bedeutung innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte hatte und hat, ist "Eine lebhafte Kampfsituation" zumindest als Beitrag zu ihrer Geschichte auf jeden Fall lesenswert.
Anmerkungen:
[1] Paul Nolte: Darstellungsweisen deutscher Geschichte, in: Christoph Conrad / Sebastian Conrad (Hg.): Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich. Göttingen 2002, 253 und 258; s. hierzu die Rezension von Angela Schwarz, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 2 [15.02.2003], URL: http://www.sehepunkte.de/2003/02/2192.html
[2] Hans-Ulrich Wehler: Die Hybris einer Geschichtsphilosophie, in: ders.: Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert. München 2000, 92.
[3] Adelheid von Saldern: "Schwere Geburten". Neue Forschungsrichtungen in der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft, in: Werkstatt Geschichte 40 (2005), 5-30.
Hans-Ulrich Wehler: Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cornelius Torp (= Beck'sche Reihe; 1705), München: C.H.Beck 2006, 224 S., ISBN 978-3-406-54146-9, EUR 12,90
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