Martin Schulz hat eine Einführung in die Bildwissenschaft geschrieben, die für den Kunst- und Bildhistoriker nützlich und für anspruchsvolle Anfänger empfehlenswert ist. Zwar besteht an Einführungen in die Kunstgeschichte und an Readern zur bildwissenschaftlichen Debatte kein Mangel. Doch dieses mutige Bändchen aus einer einzigen Feder sticht durchaus aus der etwas unübersichtlichen Landschaft hervor, in der nicht nur der Neuling Orientierungsprobleme hat. Es hat jemand versucht - sein Buch ist zwar nicht perfekt, es war aber den Versuch wert!
1. Erweiterungen der Kunstgeschichte: Bildwissenschaft, Bildsemiotik und visual (culture) studies
Die Bezeichnung Bildwissenschaft hat sich in den 1990er-Jahren als deutschsprachiges Äquivalent für den englischen Begriff der visual (culture) studies eingebürgert. Vor allem Horst Bredekamp hat den Ausdruck Aby Warburg entlehnt und ihn für eine Kunstgeschichte vorgeschlagen, die auch die nicht-künstlerischen Bilder mit dem methodischen Repertoire der Gegenstandssicherung, der historischen Einordnung und der kulturhistorischen Interpretation erforscht. Für Bredekamp hat die Bildwissenschaft schon das Profil der Kunstgeschichte seit ihrer Institutionalisierung im musealen Betrieb des 19. Jahrhunderts geprägt: "Durch die nicht auf die Hochkunst beschränkte Mittelalterforschung, den Zuwachs des Kunstgewerbes und die Einbeziehung der Fotographie war die Kunstgeschichte im 19. Jh. der Sache nach zur Bildwissenschaft geworden, ohne dass sie als solche bezeichnet worden wäre." [1] Die Bildwissenschaft verwendet das Instrumentarium der (seit dem 19. Jahrhundert universitären) Kunstgeschichte auch auf Bilder und bildliche Artefakte, die nicht oder nicht primär als Kunstwerke hergestellt worden sind.
Die visual (culture) studies, die bereits ein Jahrzehnt zuvor im angloamerikanischen, teils auch im französischen Sprachraum (Louis Marin) entwickelt worden sind, entsprechen dem Gegenstandsbereich der Bildwissenschaft, entstanden jedoch vor allem durch die Einführung von Methoden und Lesarten der Semiotik im Bereich der visuellen Kultur. Stärker als die Bildwissenschaft setzen sie das methodische Repertoire der Semiotik (oder Semiologie) voraus und betrachten Bilder als Zeichensysteme besonderer Art. Als Teilbereich der philosophisch-mathematischen Logik wurde die Semiologie noch im späten 19. Jahrhundert durch den amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce entwickelt. Als linguistische Disziplin begründete Ferdinand de Saussure die Semiotik 1916 in seinem Cours de linguistique génerale. Die visual studies sind stark von der strukturalistischen und post-strukturalistischen Arbeit von Autoren wie Roland Barthes und Umberto Eco oder Louis Marin, Gérard Genette und Mieke Bal geprägt. Stärker als die Bildwissenschaften betonen sie den systematischen Charakter visueller Zeichen und suchen die Bildsprachen zu rekonstruieren, innerhalb derer das einzelne Bild erst lesbar wird. Diese Bildsprachen betrachten sie mit Blick auf die sozialen Praktiken, die sie konstituieren. Visuelle Stereotypen, insbesondere Geschlechtsdiskurse, aber auch die Genres von Bild und Text, die Narratologie der Bildmedien vom Historiengemälde über Foto, Pressebild und Film bis zu Comic Strip und Videokunst stehen entsprechend stärker im Vordergrund der visual studies. Die Bildwissenschaft dagegen hat ihr Augenmerk stärker auf die gesellschaftlichen, rituellen, schließlich auch künstlerischen Funktionen des Bildes und auf die Grenzlinie zwischen Kunst und nichtkünstlerischen Bildern gerichtet. Erst in Ansätzen kommt dabei auch das institutionelle Gefüge von Kunst und Bildproduktion in seiner historischen Entwicklung in den Blick. Doch wäre es vermessen, zwischen den nahe verwandten Begriffen visual studies und Bildwissenschaft eine feste Grenzlinie aufzeichnen zu wollen.
Als die amerikanische und teils auch die englische Kunstgeschichte ihr akademisches Profil in Richtung auf die visual studies revidiert hat, wurde eine Reihe von Einführungen vorgelegt, die teilweise noch heute empfehlenswert sind. Die unterschiedlichen Anregungen der gender studies, der Film- und Fotogeschichte wurden dabei stets von mehreren Autoren eingebracht. Unter den Critical Terms of Art History (Chicago 1992), herausgegeben von Robert S. Nelson und Richard Shiff, vermisst man Begriffe wie Stil und Ikonographie. Stattdessen werden kritische "operations" unter den Begriffen "representation", "sign" und "simulacrum" vorgestellt; die Schlüsselbegriffe von "communications" sind "word and image", "narrative", "context" sowie "meaning/interpretation"; "social relations" werden greifbar in "ritual", "fetish", "gaze" und "gender". Ein Jahr zuvor war, herausgegeben von Norman Bryson, Michael Ann Holly und Keith Moxey, ein Sammelband Visual Theory. Painting and Interpretation (New York 1991) vorausgegangen. Neben feministischen und semiologischen Ansätzen ging es hier um Bildtheorien, wie sie in den darauf folgenden Jahren den so oft beschworenen iconic (Gottfried Boehm 1994) oder pictorial turn (W. J. Thomas Mitchell 1992) begleiten sollten: "representation" und "depiction", Beschreibung und die Phänomenologie der Wahrnehmung, Metapher und Zeichen standen im Mittelpunkt der Debatte.
Es gibt durchaus auch deutschsprachige Einführungen in die Bildwissenschaften, die sich um ähnliche Begrifflichkeiten drehen. Im Mittelpunkt des von Stefan Majetschak herausgegebenen Sammelbandes Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild (München 2005), stehen "Bilder und" bzw. "als Zeichen" - aber mit Fragezeichen versehen - sowie "Ikonizität: Entstehungsprozesse bildlichen Sinnes". Der Herausgeber schickt sich an, "Bildwissenschaft als interdisziplinäres Projekt" zu begründen. Freilich geht es den Autoren um Anderes als eine Bildsemiotik, wie sie vor fünfzehn Jahren noch denkbar war. Um den Bildbegriff ringen nun eine Philosophie der Zeichen, eine von dem französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty begründete Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), die diese ausgehend vom ganzen, körperlich konstituierten Menschen denkt, sowie systemtheoretische und poststrukturalistische Ansätze. Bildwissenschaft erscheint hier keineswegs als Disziplin, die in der Tradition der Kunstgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts stände. Vollends von einer solchen kunstgeschichtsnahen Sicht distanziert sich der Band Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, herausgegeben von dem Magdeburger Philosophen Klaus Sachs-Hombach (Frankfurt a. M. 2006). Dort werden zunächst jene "Grundlagendisziplinen" vorgestellt, die sich an der bildwissenschaftlichen Debatte beteiligen: Kognitionswissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Kunstgeschichte/Kunstwissenschaft, Mathematik und Logik, Medienwissenschaft, Neurowissenschaft, Philosophie, Psychologie, Rhetorik und Semiotik. Es folgen "Historisch orientierte Bildwissenschaft", worunter hier die Kunstgeschichte, da ja bereits "Grundlagendisziplin", nicht erneut auftritt, "Sozialwissenschaftliche" und schließlich "Anwendungsorientierte Bildwissenschaften". Der Band geht auf ein Colloquium über "Bildkompetenz" zurück. Der Herausgeber Sachs-Hombach hat denn auch eine philosophische Grundlegung der neuen Mega-Disziplin gewagt: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 2006. Der "Vorschlag" für den "theoretischen Rahmen" einer "allgemeinen Bildtheorie" orientiert sich an dem Vorsprung der "Sprachwissenschaft". Hombach stellt durchaus anregende Überlegungen zur "Bildsyntax", zur "Bildsemantik" und "-pragmatik" sowie zu "Bildtypen und Bildmedien" vor und versucht, "einerseits den Zeichenaspekt, andererseits den phänomenalen oder Wahrnehmungsaspekt" der Bilder miteinander zu vermitteln. Der Anspruch jedoch, diese Vermittlungsleistung einer multidisziplinären Bildwissenschaft (ausdrücklich im Singular!) zu Grunde legen zu wollen, kann nur bestechen. Er erinnert an den kulturtheoretischen Generalismus, den auch einige der Gründerväter des Strukturalismus erreichen wollten. Den Kunsthistoriker mag es beruhigen, dass die Distanz von der Kunstgeschichte und der in ihr angesammelten Erfahrung im Umgang mit bildlichen Artefakten desto größer ausfällt, je allumfassender die Neubegründung der "Bildkompetenz" auf der tabula rasa gestemmt wird.
2. "Disziplinierte Bilder": Kunstgeschichte, Philosophie, visual (culture) studies
Martin Schulz will in seinem Buch etwas anderes begründen als eine multidisziplinäre Mega-Wissenschaft vom Bild. Sein Begriff der Bildwissenschaft orientiert sich zunächst an einer Kunstgeschichte, die sich auf Bilder ohne Kunstcharakter ausdehnt. Die Ordnung, die er in die bildwissenschaftliche Debatte zu bringen versucht, orientiert sich an dem Dreiklang, der seit 2000 dem von Hans Belting begründeten interdisziplinären Graduiertenkolleg des Zentrums für Kunst und Medien in Karlsruhe zugrunde liegt: Bild - Körper - Medium. Ein erstes Kapitel - das stärkste des Bandes - führt in die bildtheoretischen Debatten im Rahmen der neuen und alten akademischen Fächer ein: der Kunstgeschichte, der Philosophie und den Studien zur "visual culture".
Eingangs geht Schulz auf die Ausschlussverfahren ein, durch die eine eurozentristisch angelegte Kunstgeschichte den Begriff einer allein ästhetischem Qualitätskriterien genügenden Hochkunst erst begründet hat. Wenn Georges Didi-Huberman gerade in den Künstlerviten des Gründervaters der Kunstgeschichte, Giorgio Vasari, die Verdrängung von bildlichen Artefakten wie Wachsfiguren und Totenmasken nachweist, so scheint die Kunstgeschichte in nuce auf der Isolierung einer dem künstlerischen Genie geschuldeten Kunst zu gründen. [2] Das Schlüsselparadigma dieses Kunstbegriffs ist ein auf Originalität gegründeter Fortschritt. Wenn seit einiger Zeit Julius von Schlossers Buch über Wachsporträts [3] wieder im Mittelpunkt einer Debatte über visuelle Experimente und Bildmedien in Renaissance und Barock steht, so nimmt Schulz dies als Symptom für den problematisch gewordenen Kunstbegriff. Den prekären Status der Kunst schreibt er eilig den historischen Avantgardebewegungen und der Konkurrenz durch Foto und Film zu, - leider ohne sich zu fragen, ob die Avantgarden den Schein künstlerisch anspruchsvoller Machart nicht gerade deswegen aufgeben konnten, weil die institutionelle Grenze von Hochkunst und Kunst sozial immer fester zementiert wurde. [4]
Schulz geht dann auf die Historisierung des Kunstbegriffes durch Belting ein, dessen Buch Bild und Kult den bezeichnenden Untertitel Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst hatte (München 1990). Die historische Relativierung des Kunstbegriffs, die er Belting, nicht Alois Riegl, zuschreibt [5], ist für Schulz ebenso eine wesentliche Grundlage der Bildwissenschaft wie die "ikonische Differenz", jenes Anders und Mehr im Bild, das für Gottfried Boehm im Anschluss an Max Imdahl das Bildliche grundsätzlich von der Diskursivität von Sprache und Text unterscheidet - selbst wenn das Bild einen narrativen Text illustriert, wie Giottos Begegnung Joachims und Annas an der Goldenen Pforte in der Paduaner Arenakapelle. Schließlich weist Schulz darauf hin, dass Bredekamp den Begriff vorgeschlagen hat, um damit hinter die deutsche Nachkriegskunstgeschichte auf die der Gründerväter vor 1933 zurückzugreifen.
Im Anschluss daran stellt er gerafft, aber nicht verkürzt, die intensive Auseinandersetzung mit Aby Warburg des letzten Vierteljahrhunderts dar - von Martin Warnke und Salvatore Settis bis zu Ulrich Raulff und zu Didi-Huberman. Vielleicht wäre es erhellend gewesen, schon eingangs darauf hinzuweisen, dass die Warburg-Renaissance, die zur Bildwissenschaft und zu einer Neubegründung der Archäologie um den Begriff des "Nachlebens" der Antike geführt hat [6], gerade darin von der vorherigen Auseinandersetzung mit seinem Werk abwich, dass wesentliche Paradigmen der Lehren seines Nachfolgers Erwin Panofsky (wie der "disguised symbolism" in der altniederländischen Malerei) inzwischen in Frage gestellt worden waren. Erst dadurch, dass Warburg nicht mehr als Gründervater einer philologisch ausgerichteten Ikonographie galt, auf die eine geisteswissenschaftlich ausgreifendere Ikonologie aufsattelt, konnte er als Kronzeuge einer neuen Kulturwissenschaft entdeckt werden, in deren Zentrum gerade ikonische Motive stehen, die sich vom ikonographisch fest definierten Sujet (und damit vom Text) losgelöst haben, und die - gleich ob als Mänade, als Magd oder als Flora - letztlich als "Nymphe" frei durch die kulturelle Imagination schreiten können. Als Pathosformel ihrer eigenen Wiedergeburt, als "unerschöpfliches" Symbol kann sie über die Grenzen der Epochen hinweg ihren Bildsinn unvorhersehbar immer wieder erneuern. Sie vermag dies gerade dadurch, dass sich ihr bildlicher Sinn vom ikonographischen Sujet trennt, sich sozusagen wie Nietzsches Metapher verflüssigt, um nicht durch die gelehrte Repetition, sondern durch überraschende Revitalisierung wieder aufzutauchen.
Die Bildsemiotik ist bei Schulz vertreten durch Norman Brysons Buch Vision and Painting. The Logic of the Gaze (1993) - und durch seine Kritik an der Kunsttheorie Ernst Gombrichs. Bryson hatte das an Karl Popper angelehnte Paradigma Gombrichs in Zweifel gezogen, demzufolge die bildliche Vorstellung nicht nur durch kulturelles Wissen bedingt ist, sondern auch einem stetigen Fortschritt unterliegt. Eine Wahrnehmungspsychologie, die jegliche bildliche Vorstellung dem gesellschaftlichen Stand begrifflich-diskursiven Wissens nebenordnet und in der Entwicklung wahrnehmungspsychologischer Fähigkeiten einen zivilisatorischen Menschheitsfortschritt festmacht, stellt Bryson die Analyse des Bildes als ästhetischen Text und seine Verortung im sozialen Kontext gegenüber. Bei Schulz vertritt Bryson neben der Bildsemiotik vor allem die englische "Radical Art History".
Auf die Kunstgeschichte lässt Schulz die Philosophie folgen. Er entfaltet kurz das Mimesis-Problem seit Platon, um dann dem Buch des Philosophen Reinhard Brandt Die Wirklichkeit des Bildes. Sehen und Erkennen. Vom Spiegel zum Kunstbild (München/Wien 1999) ein Paradigma zu entnehmen - "Bilder zeigen etwas, was sie selber nicht sind". Dies macht er zum Ausgangspunkt einer wenn auch nicht professionellen, so doch nützlichen Rekonstruktion bildtheoretischer Debatten. Den meisten Raum erhält die phänomenologische Diskussion von Husserl zu Merleau-Ponty bis hin zur neueren Arbeit des Philosophen Lambert Wiesing. Hernach führt Schulz in semiotische Paradigmen von Peirce und Saussure ein, allerdings ohne auf deren doch schwierige Vereinbarkeit einzugehen. Der Verzicht auf den Bezug von Positionen ist zwar klug, erschwert jedoch die Orientierung.
Unter "Visual Culture" und "Pictorial Turn" schließlich stellt Schulz (allzu) kurz die moderne amerikanische Kulturanthropologie vor (hier stellt er den umstrittenen Clifford Geertz vielleicht zu leichthin auf eine Stufe mit dem überzeugenderen James Cliffort). Diese Kulturanthropologie hat gelehrt, Kultur zugleich als Text und als soziales System zu lesen, dabei vor allem niemals außer Acht zu lassen, dass auch in der objektivsten "Feldforschung" der Ethnologe (bzw. der Kulturwissenschaftler) nichts anderes tun kann, als die Begegnung mit dem Anderen in seine eigene kulturelle Sprache zu übersetzen. Die Debatte über Diskursanalysen im Anschluss an Michel Foucault strandet sogleich in der deutschen Rezeption - wie überhaupt dem Bereich der French Theory eine nur geringe Aufmerksamkeit gilt. Zum "pictorial turn" stellt Schulz die Bildtheorie Mitchells vor, seine Unterscheidung zwischen "picture" (an einen Träger gebundenes Bild) und "image" (immaterielle, mentale Bilder), schließlich seine an dem Philosophen Ludwig Wittgenstein geschulte Verweigerung jeder Allgemeinheit beanspruchenden Bildtheorie (wie sie später z.B. Sachs-Hombach vorschlägt). Für Mitchell bestehen zwischen Bildern allenfalls "Familienähnlichkeiten", in toto entzieht sich Bildlichkeit jedoch einer überkulturellen, definierenden Fixierung. Bildtheorie ist in dieser Perspektive Bildgeschichte. Wie gesagt: Man hätte sich seitens des Autors an dieser Stelle mehr Mut zur Parteilichkeit gewünscht.
3. Medium/Körper - opake Metaphern
Schulz schließt damit jenen Hauptteil des Buches ab, der den "disziplinierten" Bildern gilt - also Bildern und bildlichen Artefakten in den Grenzen fachwissenschaftlicher Diskussionen. Der zweite und der dritte Teil seines Buches gelten dem Medium und der Darstellung des Körpers im Medium - dies in eng aufeinander bezogenen Kapiteln. Die Einführung in die Medientheorie ist überschrieben "Die medialen Körper der Bilder". Sie stellt einige der viel diskutierten Medientheorien vor, die in den Kulturwissenschaften debattiert werden - leider eine persönliche Auswahl, kein repräsentativer historischer Überblick. In einleitenden Überlegungen ruft Schulz die Forschung über Sprache und ihre Medien in Erinnerung - vom Mündlichen über Schrift und "écriture" zu Friedrich Kittlers "Aufschreibesystemen". Der Gedanke, diese Tradition der Erforschung sprachlicher Medien auf die bildlichen Medien zu übertragen, ist durchaus anregend. Er hätte aber die Frage auf den Plan bringen müssen, ob - wie das mündliche Sprechen - nicht auch die "mentalen" oder die nur in sprachlichen Beschreibungen und Metaphern präsenten Bilder letztlich erst in der Materialität, der intersubjektiven Greifbarkeit des Mediums als Bilder fassbar sind - oder, radikaler gesagt, ob die mediale Phantasie, sofern sie nicht privatsprachlich im Ungefähren bleiben will, materiell ist.
Schulz setzt dann mit einer distanzierten (und dadurch fragwürdigen) Erörterung der Medientheorie von Niklas Luhmann an, in der - wohl auch aus zweiter Hand - Schlüsselbegriffe wie Medium und Form sowie der Betrachter dritter Ordnung eingeführt werden. Dem zieht der Autor sichtlich den älteren Ansatz des Marshall McLuhan vor (Understanding Media, 1964), insbesondere insofern als dieser die Medien als eine Erweiterung des Körpers und seiner Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten auffasst. Die Diskussion über das neue Medium als Metapher des alten ("the medium is the message"), über die Rolle der Technik bei der Konstitution des Inhalts eines Mediums, schließlich über Erst- und Zweitmedien bleibt an der Oberfläche. Wenn der Autor dann auf Bilder in Bildern oder auf Medienmetaphern wie Fenster, Spiegel und Schleier eingeht, bleibt die Analyse weiter im Vagen, obwohl er zu Recht auf Schlüsselwerke der letzten Jahre verweist, etwa von Victor Stoichita, Gerhard Wolf und Klaus Krüger.[7] Diese Selbstverdoppelungen des Mediums zielen zwar durchaus darauf ab, Abwesendes zu vergegenwärtigen (gemäß der etwas pauschal Reinhard Brandt entlehnten Minimaldefinition des Bildes). Sie tun dies jedoch, indem sie das im Bild Gezeigte ein zweites Mal vorzeigen - bis hin zur Gewährleistung der Sakralität im Zweitmedium. Dabei wird auf höchst unterschiedliche Weise der Rezipient mit der Repräsentation und ihrer Macht über ihn selbst und seine Gegenwart konfrontiert: ob das Medium die Schwelle zwischen Innen und Außen markiert, zugleich zwischen (konkreter, historisch kontingenter) Subjektkonstitution und Natur bzw. Welt, ob es die Konventionen, die seine Fähigkeit zur Darstellung erst konstituieren und zugleich auch begrenzen, innerbildlich sichtbar und damit aushandelbar macht, oder ob es die (indexikalische) Spur des Vergangenen in die Gegenwart hineinträgt und dieses dadurch in seiner Wirksamkeit erneuert, all dies sind doch sehr unterschiedliche Selbstthematisierungen des Bildes und seiner medialen Wirksamkeit. Man hätte von dort aus zu einer im Sinne Mitchells historisch radikal relativierten Bildtheorie gelangen können, die eben Bildgeschichte ist.
Letztlich will Schulz jedoch hinaus auf eine Medientheorie nach der Art von Beltings Bildanthropologie (München 2001), die das Medium stets als "Träger", als "symbolischen oder virtuellen Körper der Bilder" betrachtet. Totenschädel, denen man wie in der Jericho-Kultur ein Gesicht wieder aufmodelliert hat, sind hier das Paradigma für immer neue bildliche Verkörperungen von der Ikone bis zur Wachs-Effigies. Immer wieder neu blickt uns das Medium an, stets hat es ein Gesicht, ein Augenpaar.
Zu kurz kommen in dem Kapitel über das Medium sowohl die Materialität wie die Virtualität des Mediums, das seine Wirklichkeit durch die Rezeption erst erzeugt. Die zwei - in den Avantgarden systematisch entgegen gesetzten - Aspekte geraten gleichermaßen in den Hintergrund: zum einen die Materialität und die Technik des Bildes, die vom Paragone, dem Streit über die künstlerischen Leistungsfähigkeit der Malerei oder der Skulptur in der Renaissance, bis zu den Bildhauertheorien eines Adolf von Hildebrandt der Frage nachgegangen sind, wie die Materialität des Bildträgers die Formfindung und damit letztlich die Gestalt des Bildes mitbedingt. Ohne derartiges Nachdenken wäre die Skulptur von Brancusi bis Richard Serra, von Beuys bis Marina Abramovic nicht möglich gewesen. Kein Wort davon, dass gerade in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts zunehmend Materialien eingesetzt werden, die für sich selber stehen oder sich der Reduktion auf den Formcharakter durch die Übertragung in fotografische oder digitale Medien entziehen.[8]
Zum anderen werden Fragen nach der "Kulturindustrie" Horkheimers und Adornos, nach der "Gesellschaft des Spektakels" Guy Debords und der Situationistischen Internationale und nach der "Simulation" Jean Baudrillards nur en passant angerissen. Diese drehen sich insgesamt darum, ob in der Welt industriell produzierter medialer Waren eine verantwortliche Selbstvergewisserung der Gesellschaften über ihre visuelle Wirklichkeit überhaupt noch möglich ist. Die apokalyptischen Perspektiven derartiger Theorien sind zwar durchaus fragwürdig. Man muss nicht mit Baudrillard die "Hypertelie" des Mediums sich zur "Simulation" akkumulieren sehen, nicht daran glauben, dass in diesem Prozess der Realitätsbezug allmählich abhanden kommt. Doch selbst, wenn man (etwa im Anschluss an Jürgen Habermas) die Möglichkeiten der in Demokratien aushandelbaren gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung optimistisch betrachtet, ist diese Perspektive doch nicht vollends zu vernachlässigen. Sobald das industriell fabrizierte Bild (wie spätestens in der Filmindustrie um 1906) in Marketing-Prozessen den Erwartungen des Betrachters angepasst wird, sieht dieser sich zum Einen als Empfänger auf einen statistischen Mittel-Standard der Akzeptanz herunter gebrochen, zum Anderen ist er den Rückkoppelungsmechanismen einer kalkuliert vorweggenommenen, Verhalten steuernden Rezeption ausgeliefert. Man braucht nicht erst Elfriede Jelinek zu lesen, um diese Perspektive ernst zu nehmen - auch ohne Apokalyptik.
Stark dem Denken Hans Beltings verpflichtet ist vor allem Schulz' letzter Absatz über "Körperbilder und Bilder im Körper". So deklariert er - nicht Belting: "Eine grundlegende Funktion bildlicher Repräsentation besteht nachhaltig in der Stellvertretung von Toten" (132). Bildwissenschaft wird hier zur Nachlassverwalterin von Religion. Schulz geht über derartige Beschwörungsformeln hinaus, wenn er den Körper aufspaltet in den wahrnehmenden des Rezipienten und in jenen, der sich selbst ausdrückt und in die Welt projiziert - mittels des Mediums. Diese Unterscheidung ist subtiler als die der Phänomenologie zwischen einem sinnlich empfindenden Leib einerseits und dem objektivierten Körper andererseits. Letzterer ist Gegenstand der Medizingeschichte und der an ihr interessierten anthropologischen Kulturwissenschaft. Denn auch der Leib kann sich nicht aus der Kette der Repräsentationen lösen, er ist als solcher gar nicht objektivierbar - Narziss schaut immer schon in den Spiegel. Noch einmal werden Metaphern wie der Schleier bemüht, um die Dialektik von Verhüllung und Enthüllung in das mediale Spiel zwischen Körper und Medium einzuschreiben. Zu Recht redet Schulz einer modernen historischen Anthropologie das Wort, die im Körper selbst die kulturell immer neu ausgehandelte Grenze auszumachen sucht zwischen Natur und Kultur, zwischen dem von sich aus (gottgegeben, unwandelbar) entstandenem und dem durch den Menschen selbst historisch gestalteten Körper. Selbst die Natur wird darin zur historischen Kategorie. Doch gelangt die historische Anthropologie durchaus zu handfesten Ergebnissen. Der Körper als Metapher der Medien, in denen er erscheint, ist nur allzu anfällig für beschwörende Argumentationen, die manches Andere als Aufklärungsarbeit zur Geschichte der medialen Apparate leisten.
4. Schluss - und Nachbemerkung über Bildwissenschaft als Geschichte von Mediensystemen
Martin Schulz' Einführung in die Bildwissenschaft bietet besonders in seinem ersten, dem Hauptteil, einen gründlichen Einblick in die bildwissenschaftliche Debatte und ihren Hintergrund. Die Geschichte der einschlägigsten Diskussionen vor allem im Umkreis der Kunstgeschichte wird knapp und doch facettenreich umrissen. Die Literaturangaben sind meist nicht überbordend, sieht man einmal vom Dickicht der Textsammlungen ab; sie sind für das Selbststudium in weiten Passagen ein guter Leitfaden.
Die medientheoretischen Reflexionen überzeugen weniger - der Abstand von der komplexen Materie wurde nicht erreicht, die Gedankenführung ist zu abhängig von Beltings immer wieder auch metaphorischer Verschränkung von Körper und Medium. Ein Grundanliegen der Bildwissenschaft wird in Schulz' mutiger Einführung denn auch zu wenig erörtert: Der Gegenstandsbereich Kunst und Bild wird allzu selbstverständlich einfach vorausgesetzt. Dabei ist die Grenze zwischen industriell produzierten Unterhaltungsbildern und der Hochkunst fließend geworden, seitdem Fotografie und Film die Bilder und ihre Herstellung schrittweise industrialisiert haben, diese immer mehr vor allem als Massenware zirkulieren. Der Methodenimport von Foto- und Filmgeschichte wird bei Schulz generell zu sehr vernachlässigt. Es handelt sich ja nicht um Spezialdisziplinen, die mit der Kunstproduktion nichts zu tun hätte. Wie Otto Karl Werckmeister in einem Vortrag dargelegt hat [9], waren nicht erst die Mangas, sondern schon die Commedia dell'arte ein Bildstoff, der zwischen Volkskultur und subtilem Theater, zwischen Schock und Subtilität zirkulierte. Zudem hat eine immer mehr medienkritische Hochkunst die Grenze zur kommerziellen Bildproduktion in Frage gestellt: Dies lehrt ein nur oberflächlicher Blick auf Courbets Realismus und seinen Bezug zu populären Bilderbogen, auf Manet, den Impressionismus und seine Motiventlehnungen aus Karikatur und illustrierter Presse, auf Kubismus und Dadaismus, auf Surrealismus, Pop Art und postmoderne Grenzüberschreitungen etwa zwischen Manga und Malerei, zwischen Künstlervideo und Melodram. Stets sinkt hohes Kulturgut zu Medienkitsch ab, umgekehrt werden die Stereotypen der marketing-generierten Medien in der institutionalisierten, intellektuellen Hochkunst gebrochen, ironisiert, umfunktioniert.
Nur der systematische Blick auf die Geschichte der gesellschaftlichen Systeme der Medien kann das Nebeneinander von Kunst und Bild wirklich verstehen. Erst die historische Untersuchung medialer Systeme wird imstande sein, die Historisierung des Kunstbegriffs, die wir vor Belting bereits Riegl verdanken, für eine Diskursgeschichte des Bildes und seiner gesellschaftlichen Wirksamkeit fruchtbar zu machen. Die Kunst ist seit den Avantgarden ja immer mehr zur Kritik - zur philosophischen wie auch zur politischen Kritik der medialen Bilder geworden. Die Frage nach der Kunst verbindet sich aus dieser Perspektive mit der Frage nach dem "Bild" im höheren Sinne - nämlich der Frage danach, unter welchen Bedingungen Gesellschaften sich in den medialen Bildern noch über ihren Ort in Geschichte und Natur verantwortlich Rechenschaft ablegen können. Bilderkritik in der bildenden Kunst selbst, aber auch die bildwissenschaftliche Aufklärungsarbeit gehören offenbar zu diesen Bedingungen.
Anmerkungen:
[1] Horst Bredekamp: "Bildwissenschaft", in: Metzlers Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden Begriffe, hrsg. von Ulrich Pfisterer, Stuttgart / Weimar 2003, 56-58.
[2] Georges Didi-Huberman: Ressemblance mythifiée et ressemblance oubliée chez Vasari, in: Mélanges de l'École Francaise de Rome 106, 1994, 338 ff.
[3] Julius Schlosser: Tote Blicke, 1910-11 [Berlin 1993].
[4] Vgl. dazu - neben der Literatur zur Institutional Critique in der Kunst seit den 1960er-Jahren, vor allem: Thierry de Duve: Kant after Duchamp, Cambridge/MA 1996.
[5] Vgl. Alois Riegl: Der moderne Denkmalkultus, sein Wesen, seine Entstehung [1903], in: Gesammelte Aufsätze, Berlin: Mann 1995, 144-193.
[6] Vgl. Salvatore Settis: Futuro del Classico, Turin 2005.
[7] Victor Stoichita: Das selbstbewußte Bild: vom Ursprung der Metamalerei, München 1998; Gerhard Wolf: Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance, München 2002, und von Klaus Krüger: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001.
[8] Siehe dazu die Forschungen Monika Wagners, insbesondere Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001.
[9] Am 18.3.2005 auf dem Bonner Kunsthistorikertag - thematisch im Umkreis seines Buchs Der Medusa-Effekt: Politische Bildstrategien seit dem 11. September 2001, Berlin 2005.
Martin Schulz: Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft, München: Wilhelm Fink 2005, 163 S., ISBN 978-3-7705-4206-2, EUR 29,90
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