Jane Stevensons Studie "Women Latin Poets. Language, Gender, and Authority from Antiquity to the Eighteenth Century" gibt mit ihrem Titel den umfassenden Anspruch wieder, den Zeitraum von der Antike bis zum 18. Jh. zu behandeln ohne sich auf einen bestimmten geographischen Raum zu begrenzen.[1] Dieses Unterfangen wurde in Anbetracht der communis opinio, es handele sich um relativ wenige Dichterinnen, in Angriff genommen. Die Archivarbeit, die Stevenson in zwölf Länder führte, hat nun aber eine große Anzahl bisher unbekannter Autorinnen zu Tage gefördert. Der Umfang der Studie von 660 Seiten kann daher nicht verwundern.
Der Gegenstand der Untersuchung sind die Dichterinnen selbst, nicht ihre Dichtungen. Es ist eines der wichtigsten Anliegen der Autorin, der Unsichtbarkeit von Frauen in Überblicksdarstellungen vor allem zur neulateinischen Literatur entgegenzuwirken und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass die Zahl der lateinisch dichtenden Frauen nicht in Dutzenden, sondern in Hunderten zu zählen ist. So werden allein in diesem Buch über dreihundert Dichterinnen behandelt und in einem separaten Appendix mit Namen und, soweit vorhanden, Manuskripten, Editionen und Übersetzungen ihrer Werke aufgeführt. Es soll gezeigt werden, dass diese Frauen keine außergewöhnlichen Einzelfälle darstellten, sondern jeweils aus einem Milieu stammten, das mehrere ihrer Art hervorgebracht hat.
Nach einer die Begriffe des Titels 'Gender', 'Autorität' und 'Sprache' diskutierenden Einleitung geht die Darstellung diachron vor. Sie gliedert sich in vier große Abschnitte: Auf die Behandlung der Antike und Spätantike folgen das Mittelalter, die Renaissance und die Frühe Neuzeit. Dem Quellenstand entsprechend kann sich die Autorin bei der Behandlung der ersten beiden Epochen auf jeweils 60 Seiten beschränken, während die Renaissance und Frühe Neuzeit mit jeweils ca. 135 Seiten gewichtiger sind.
Der Abschnitt über die klassische Antike beginnt mit der späten Republik und skizziert zunächst das Umfeld für die bedeutendste römische Dichterin dieser Zeit, Sulpicia, um dann auf diese selbst einzugehen. Gedichte von einer und über eine Sulpicia, die Stevenson wie die Mehrzahl der Forscher für die Nichte des Mesalla hält, sind im Corpus Tibullianum überliefert. Sie geht davon aus, dass die in erster Person verfassten Gedichte der elegischen persona Sulpicia von ihr stammen. Diese persona unterscheide sich von der der elegischen Frau, anders als etwa Tibulls Delia oder Nemesis könne ihr nicht ein 'bohemian demi-mondaine status' (44) zugeschrieben werden. Mit ihrem elitären Hintergrund und aufgrund der Tatsache, dass sie Teil einer Dichtergruppe war, sei sie eine typische Vertreterin der dichtenden Frauen der späten römischen Republik.
Für die frühe Kaiserzeit bezeugen Juvenal und Lukian die Existenz von Dichterinnen. Aus der Gruppe der namentlich Genannten ragt eine weitere Sulpicia heraus. Martial, Ausonius und Sidonius Apollinaris kennen sie als Dichterin der ehelichen Liebe. Aus dem Gallien des 6. Jahrhunderts stammt ein langes in ihrer persona gesprochenes Gedicht, das noch in der Renaissance bekannt war und für echt gehalten wurde, die Conquestio Sulpiciae. Aufgrund der Nachrichten über Sulpicia II konstatiert Stevenson, dass für Frauen der frühen Kaiserzeit die öffentliche Bekanntheit als Dichterin durchaus mit einer keuschen Ehe vereinbar war. Die docta puella der elegischen Dichter könne nicht als ein Modell für die Sozialgeschichte von römischen Poetinnen dienen. Antike Autoren bezeugten zudem die aktive Beteiligung von elitären Frauen in literarischen Zirkeln.
Im Folgenden beschäftigt sich die Verfasserin mit epigraphischen Zeugnissen des 2. und 3. Jahrhundert n.Chr., die in der karolingischen und der eigentlichen Renaissance als Teil von Anthologien großen Einfluss ausübten. Beispiele von Graffiti, Schadenzaubertäfelchen und Grabinschriften, die in weiblicher Stimme sprechen, werden als Zeugnisse der 'popular culture' untersucht.
In der Behandlung der Spätantike skizziert Stevenson zunächst das Umfeld der Dichterin Proba, das sich durch das Christentum und durch die größere Beteiligung von Frauen an öffentlichen Stiftungen und ihre damit einhergehende gewachsene Sichtbarkeit geändert habe. Proba, Tochter eines Stadtpräfekten Roms, ist durch ihren ganz aus Versen der Aeneis Vergils zusammengesetzten Cento berühmt geworden, in dem die augusteische imperiale Botschaft derjenigen eines transzendenten Herrschers weichen muss. Die von Stevenson in die Dekade nach dem Tod Julians datierte Schrift wird von ihr als eine mögliche Reaktion auf dessen Regierung gewertet.
Die Behandlung des Mittelalters ist in zwei Abschnitte geteilt, 'Early Medieval Europe' und 'the High Middle Ages'. Der erste geht chronologisch vor. Zunächst wird mit Dhuoda eine herausragende Persönlichkeit der karolingischen Zeit vorgestellt, dann werden das angelsächsische England sowie Hroswitha und die ottonische Renaissance behandelt, zuletzt anonyme Verse des frühen Mittelalters. Als Verfasserin der Gesta Ottonis, die in ihrer Bedeutung mit der Aeneis Vergils zu vergleichen seien, ist Hroswitha von Gandersheim für Stevenson diejenige Dichterin, die von allen in der Studie behandelten als Schriftstellerin das höchste Ansehen innerhalb ihres Milieus genoss.
Der Abschnitt über das Hochmittelalter orientiert sich an geographischen Gegebenheiten. Auf die Darstellung anonymer Lyrik folgen Abschnitte über Dichterinnen in England und Frankreich sowie im deutschsprachigen Nordeuropa - diese Begrenzung ergibt sich aus der Überlieferungssituation.
Das der Renaissance gewidmete Kapitel gliedert sich erneut nach Ländern bzw. Regionen. Italien, Frankreich, Spanien und Portugal sowie Nord- und Zentraleuropa werden jeweils separat betrachtet. Stevenson geht zunächst auf den Umstand ein, dass das Italien der Renaissance mehr lateinisch schreibende Frauen hervorgebracht hat als jedes andere Land in Europa, untersucht die dortigen Publikationsformen, das hohe öffentliche Ansehen der Humanistinnen. Ein eigener Abschnitt ist Frauen und Universitäten im 14. Jahrhundert gewidmet, hier stehen die von Professoren der Medizin und der Rechtswissenschaften unterrichteten Töchter im Mittelpunkt. Für das 15. Jahrhundert arbeitet die Autorin den Sinn einer humanistischen Bildung für Frauen aus aristokratischen Familien heraus - Prestigegewinn der Familie, Legitimierung für weibliche Herrscherinnen, Erziehung der Kinder werden genannt. Stevenson geht den performativen Kontexten für die Darstellung der Kenntnisse nach. Am Beispiel der aus Venetien stammenden Gelehrten Isotta Nogarola und anderer veranschaulicht sie die Beobachtungen.
Die Abschnitte, die die anderen oben genannten Länder und Regionen behandeln, sind ähnlich aufgebaut. Auch hier geht die Studie von der Situation am Hof und den umgebenden Kreisen aus, um sich dann auf die anderen Gesellschaftsschichten zu konzentrieren.
Der vierte Hauptteil über die Frühe Neuzeit behandelt zunächst Italien, dann französische Latinistinnen, weibliche Gelehrte Nord- und Zentraleuropas, daraufhin Frauen und Latein im frühneuzeitlichen England sowie abschließend die Neue Welt, einerseits das koloniale und revolutionäre Nordamerika und andererseits das iberoamerikanische Südamerika.
In der Zusammenfassung kommt Stevenson auf einige allgemeine Aspekte zu sprechen. Dem Schwerpunkt ihrer Studie entsprechend geht sie dafür - mit Ausblicken bis zur Gegenwart - allein auf die Renaissance und die Frühe Neuzeit ein. So wird zum einen der Frage nach der soziokulturellen Dimension des Erlernens einer Sprache nachgegangen, die seit dem Mittelalter keine Muttersprache mehr sein konnte. Auch wenn das Erlernen dieser Sprache vor allem ein männliches Distinktionsmerkmal gewesen sei, so habe es doch Ausnahmen gegeben, die Stevenson darauf zurückführt, dass einige Männer es als Väter für angebracht hielten, ihren Töchtern eine solche Erziehung zukommen zu lassen. Die Lebensstile der gelehrten Frauen variierten, das stereotype Bild der jungfräulichen, vaterfixierten und marginalisierten gelehrten Frau sei nicht zutreffend. Das sich seit dem 16. Jh. entwickelnde Ideal einer Ehe zwischen Gleichgesinnten habe zudem dazu geführt, dass diese auch bevorzugte Ehepartnerinnen wurden. Es habe durchaus das Phänomen eines sich unterstützenden Netzwerkes von gebildeten Frauen gegeben. Der Umstand, dass man die lateinische Sprache beherrschte, habe nur in seltenen Fällen dazu geführt, dass man sich professionalisierte.
Mit ihrem Buch reiht sich Stevenson in die insbesondere für die Antike in den letzten Jahren gestiegene Zahl der Publikationen über das Verhältnis von 'Genre' und 'Gender' sowie über Dichterinnen ein.[2] Anders als die jüngere Forschung, die sich überwiegend einzelnen Poetinnen widmete, deckt sie mit ihrer Überblicksdarstellung zeitlich und räumlich ein sehr großes Gebiet ab. Dies ist einerseits die Stärke des Buches. Für die Renaissance und insbesondere für die Frühe Neuzeit werden viele Autorinnen neu entdeckt. Weitere Forschungen können auf die vielfältigen auch bibliographischen Informationen zurückgreifen. Andererseits verstellt die Fülle an Einzelinformationen, der 'river of names', wie Stevenson es formuliert, zum Teil den Blick für die Synthese und Analyse. Stevenson ist sich dessen bewusst und versteht ihr Werk auch als einen Anreiz für weitere Forschungen.
'Women Latin Poets' ist ein Werk, das die Forschung zum Neulateinischen bereichert und diejenige zu neulateinischen Dichterinnen auf ein völlig neues Fundament stellt.
Anmerkungen:
[1] Ein weiteres Zeugnis ihres Forschungsinteresses ist eine zusammen mit Peter Davidson herausgegebene und im Jahr 2001 bei Oxford University Press erschienene Anthologie: "Early Modern Women Poets".
[2] Vgl. u. a. den Sammelband von Ellen Green (Hg.): Women Poets in Ancient Greece and Rome, Norman 2005; und die forschungsgeschichtliche Arbeit von Mathilde Skoie: Reading Sulpicia. Commentaries 1475-1990, Oxford 2002.
Jane Stevenson: Women Latin Poets. Language, Gender, and Authority from Antiquity to the Eighteenth Century, Oxford: Oxford University Press 2005, xiv + 659 S., ISBN 978-0-19-818502-4, GBP 85,00
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