sehepunkte 7 (2007), Nr. 5

Andrea Hoffmann / Utz Jeggle / Reinhard Johler / Martin Ulmer (Hgg.): Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Shoah

Lange wurde der Themenkreis Judenfeindlichkeit nahezu ausschließlich unter politikhistorischen Gesichtspunkten interpretiert. Hierbei etablierte sich oftmals eine undurchlässige Definitionsgrenze zwischen dem vormodernen und christlich begründeten Antijudaismus einerseits sowie dem rassisch und völkisch argumentierenden Antisemitismus seit den 1870er Jahren andererseits. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist diese Grenze, die - wie die neuere Forschung mittlerweile nachweisen konnte - von vielfältigen mentalen, alltagskulturellen und rezeptionsgeschichtlichen Kontinuitäten überzogen ist, so strikt kaum einhaltbar. Zu dieser Überlegung trägt der zu besprechende Sammelband nun maßgeblich bei: In den insgesamt 14 Beiträgen, die von Autoren unterschiedlichster Disziplinen stammen, stehen die langen judenfeindlichen Traditionen im Mittelpunkt, die - bei allen inhaltlichen Wandlungen und funktionalen Transformationen der jeweiligen Epochen - dennoch so alt sind, dass durchaus von einem Antisemitismus als "kulturellem Code" abendländischer Geschichte zu sprechen ist. [1] Es wird schnell deutlich, dass der kulturelle Aspekt der Judenfeindlichkeit in der europäischen Geschichte stärker gewichtetet werden muss, als es in der älteren Forschung der Fall gewesen ist. Viele Beispiele, die hier angeführt werden, verweisen nicht auf abstrakte politische oder ökonomische Erklärungsmuster, sondern lassen sich im lokalen Raum oder in ganz konkreten Bezügen der Alltagskultur fassen.

Die zeitlichen Rahmenpunkte bilden "die Aufklärung" und die nationalsozialistische Judenverfolgung, wobei ersterer leider diffus umrissen bleibt und vielleicht besser vom "frühen 19. Jahrhundert" die Rede gewesen wäre. Schwierig erscheinen auch diejenigen Perspektiven, die in diesen Rahmen gar nicht passen mögen: etwa der Bezug auf die Flugblätter des 17. Jahrhunderts im Beitrag von Clemens Heni oder das recht späte Einsetzen des einleitenden Beitrages (Robert S. Wistrich) erst mit der völkischen Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Wenngleich auch diese Zäsuren etwas willkürlich erscheinen, ist der Kern des Bandes jedoch der kulturelle Aspekt, der sich eben über viele zeitliche Stufen erstreckt und trotz vieler Wandlungen doch gleich bleibt: Viele antijüdischen Äußerungen des 17. bis 19. Jahrhundert tauchen fast im Originalton im Nationalsozialismus wieder auf - frühe Vernichtungswünsche inklusive. Diese transepochalen Tradierungsformen sind bislang kaum beachtet worden, wenn wir von Forschern wie Wolfgang Benz, Dietz Bering oder Werner Bergmann absehen. Schon für diesen (erneuten) Sichtwechsel gebührt den Herausgebern des zu besprechenden Bandes großer Dank.

Die Tübinger Kulturwissenschaftler, darunter auch Utz Jeggle, der mit seinen "Judendörfer[n] in Württemberg" 1969 zu den ersten Volkskundlern gehörte, die sich dieses Themas überhaupt annahmen [2], haben in ihrem Sammelband einen reichhaltigen Fundus eröffnet und dabei manch' schillernde Abscheulichkeit aus der antisemitischen Mottenkiste hervorgezogen - so beispielsweise die "Judenspottkarten" des Kaiserreichs, die Peter K. Klein vorgestellt. Die Darstellungen und transportierten Inhalte der Sammelkarten sind vielfältig, pendeln zwischen mehrdeutig-ironischer Verleumdung und eindeutig rassistischer Verunglimpfung. Auch die Unentschlossenheit der antisemitischen Idee spiegelt sich deutlich in den grotesken Bilddarstellungen wider: Der Jude ist Kapitalist und Kleintrödler zugleich, Mammon und Marxist, Halbmensch, Snob, Schmerbauch und sudelndes Tierwesen. Besonders fasziniert scheinen die Karikaturisten des Wilhelminismus von der Darwinschen Evolutionslehre gewesen zu sein. Diese wird bildlich mit dem Verbürgerlichungsprozess der deutschen Juden verschmolzen, von der Zwiebel zum Juden, vom "Geier zum Meier" oder direkt vom Affen, über den "Neger" zum Juden - und zurück. In diesem Gedanken ist auch die Doppelkarte zu verstehen, welche die Entwicklung von "Einst" zu "Jetzt" verbildlicht: Hier sind es schmutzige Hausierhändler, da sind es neureiche Börsenspekulanten, schmuckbehangen und arrogant. Ein Foto osteuropäisch-orthodoxer Juden (168) schließlich trägt den handschriftlichen Vermerk "Das sind die Verbrecher am Krieg"; ein Bild, das im Oktober 1939 als Feldpostkarte versandt wurde.

Auch Jeggle selbst, dem dieser Band zum 65. Geburtstag gewidmet wurde, kommt mit einem seiner zentralen Forschungsschwerpunkte zu Wort. Besonders eindrucksvoll berichtet sein Aufsatz über den alltäglichen Antisemitismus im ländlich-dörflichen Milieu. Schon weil die meisten Juden in Deutschland während der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts überwiegend auf dem Dorf lebten, verdient dieser Bereich eine besondere Aufmerksamkeit. Auch hier wird schnell klar, dass es eine exakte Trennung zwischen religiös begründeter Abneigung und rassistischem Denken kaum geben kann. Vielmehr rückt Jeggle das Dorf in den Mittelpunkt, da es hier schon aufgrund der Siedlungsstruktur stets "um die Probleme des Zusammenlebens von Juden und Christen" ging (221). Die alltäglichen Provokationen und Verhöhnungen, die sich Jeggle noch in den 1960er Jahren von Zeitzeugen hatte berichten lassen, verweisen darauf, dass die plumpe Judenhetze keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist. Einer der Zeugen erinnert sich: "Das waret halt so Schikane, die mir mit den Jude gmacht habet" (227). Und auch die systematischen Unruhen um 1819 ("Hep-Hep-Krawalle"), bei denen auch in den württembergischen Dörfern Juden gequält und schwer misshandelt wurden, sind durchaus vergleichbar mit späteren Pogromen: Sie waren organisierte, auf klare eindeutige Ziele fixierte Kampagnen. Bereits "da wurde von Vernichtung fantasiert" (230). Es scheint also, als ob der "eliminatorische Antisemitismus", ein Begriff aus der Goldhagen-Debatte der 1990er Jahre, schon teilweise im Emanzipationszeitalter angelegt gewesen war.

Auch Clemens Heni (Innsbruck) beschreibt in seinem Beitrag eine kulturelle Imagination, die auf eine sich über Jahrhunderte hinweg spannende Kontinuität zurückblicken kann: der "ewige Jude" als ein ganz und gar traditionelles Bild und als bösartiges Stereotyp von europäischer Bekanntheit und Verbreitung. Ahasver, der zum unsteten Wanderleben verdammt ist, wird mit Mammon und Moloch vermengt und tritt als Prototyp "des Juden" schlechthin schließlich sowohl in populären Erzählungen und polemischen Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts als auch in modernen Printmedien, Filmen oder Internetauftritten eindringlich in Erscheinung. In Henis Ansatz wird die Kontinuität der Antisemitismus ebenfalls überzeugend dargelegt: Von einer Flugschrift ("Kurze Beschreibung und Erzählung von einem Juden mit Namen Ahasver, 1602) über Theodor Fontane oder Goebbels' Propagandastreifen "Der ewige Jude" bis hin zu den antizionistischen Globalisierungsgegnern oder den 9/11-Verschwörungstheoretikern (67) des frühen 21. Jahrhunderts findet das immer gleiche Abziehbild Verwendung.

Überwiegend theoretische Konzepte werden von Martin Ulmer ("Antisemitische Diskurse") und Robert S. Wistrich ("Jews and Antisemitism in Central European Culture") vorgestellt. Der intensive Blick auf die lange Tradition und die Wirkungen judenfeindlicher Bilder, die in der ersten Hälfte des Sammelbandes behandelt werden, sowie die dann folgende dichte Analyse des alltäglichen Antisemitismus und der jüdischen Reaktionen darauf geben diesem Band eine explizit kulturwissenschaftliche Ausrichtung, die ein maßgebliches Komplement zur bisherigen Antisemitismusforschung darstellt (11). Martin Ulmer ist es, dem es in seinem Beitrag wohl am präzisesten gelingt, den Wert dieser neueren kulturalen Perspektive aufzuzeigen und zugleich die Paradoxien der neuen/alten sowie statisch/dynamischen Judenfeindschaft zu verdeutlichen. Er kommt zu dem Ergebnis: "Antisemitismus ist ein zählebiges und multiples Phänomen der Alltagskultur, das hochflexibel sich in immer neuen Erscheinungen zeigt und Handlungspraxen durchdringen kann." (252).

Insgesamt liegt hier eine wichtige und längst überfällige Publikation vor, die es überzeugend schafft, neue Aspekte aufzuzeigen und Sichtweisen eines Themas zu eröffnen, das trotz zahlreicher Forschungen der letzten Jahrzehnte immer noch offene Fragen beinhaltet. Den Antisemitismus als "kulturellen Code" zu verstehen, erscheint angesichts der immer wiederkehrenden Klischees als eine umso größere wissenschaftliche Notwendigkeit. Die vorliegende Aufsatzsammlung könnte hierfür ein zentraler Ausgangspunkt sein. Leider klammert der empfehlenswerte Band aufgrund seiner zeitlichen Abgrenzung im Titel ("[...]zwischen Aufklärung und Shoa") eine neue und ebenso gefährliche Variante aus, die jedoch überwiegend mit den gleichen Stereotypen und Bildsprachen operiert: den radikalen Judenhass des zeitgenössischen moslemischen Fundamentalismus. Bei einer möglichen Folgepublikation müsste dieser neue Aspekt im alten Gewande leider auch berücksichtigt werden.


Anmerkungen:

[1] Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, 2. Aufl., München 2000.

[2] Utz Jeggle: Judendörfer in Württemberg (= Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Bd. 90), mit einem Vorwort von Monika Richarz, Tübingen 1999. Vgl. auch Bastian Fleermann: "Völkische Fremdheit". Juden in der Wissenschaftsgeschichte der deutschsprachigen Volkskunde, in: Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde 51 (2006), 43-56.

Rezension über:

Andrea Hoffmann / Utz Jeggle / Reinhard Johler / Martin Ulmer (Hgg.): Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Shoah (= Studien & Materialien des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen; Bd. 30), Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2006, 341 S., ISBN 978-3-932512-41-4, EUR 20,00

Rezension von:
Bastian Fleermann
Volkskundliches Seminar, Universität Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Bastian Fleermann: Rezension von: Andrea Hoffmann / Utz Jeggle / Reinhard Johler / Martin Ulmer (Hgg.): Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Shoah, Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5 [15.05.2007], URL: https://www.sehepunkte.de/2007/05/11525.html


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