Die Geschichte des Wahnsinns hat Konjunktur. Faszinierend war das Thema immer und Foucaults Studie Histoire de la folie von 1961 bot der Forschung neue Anstöße und löste lautstarke Kontroversen aus. Doch trotz der Beliebtheit des Themas blieb die dominierende Behandlungsform für psychische Leiden in der frühen Neuzeit, die "geistliche Arzney", in der Forschung bislang unbeachtet. Genau hier setzt die Studie von David Lederer an. Der Rahmen seiner Untersuchung ist weit gesteckt: Im Zentrum steht die Praxis- und Wissensgeschichte der "geistlichen Arzney" in der Frühen Neuzeit. Die Eingrenzung des Forschungsfeldes auf die Grenzen des Herzogtums Bayerns ermöglicht Lederer eine detaillierte Kontextualisierung auf der Basis eines überraschend dichten und vielfältigen Quellenmaterials.
Foucault behandelte folie als kaum reflektierten Sammelbegriff, der dank seiner Unschärfe eine ganze Fülle von Phänomenen fassen konnte. Von Niedergeschlagenheit über Verstandeslosigkeit bis zur Besessenheit, prinzipiell alle Formen sozialer oder psychischer Auffälligkeiten fielen in der Kategorie "Wahnsinn" zusammen. Diese Offenheit bietet der Forschung die Möglichkeit, die Geschichte des Wahnsinns unter sehr vielfältigen Perspektiven zu betrachten. Für die Frühe Neuzeit ist u.a. H. C. Erik Midelforts Darstellung von 1999 zu nennen, eine sehr breit angelegte Studie, in der kulturelle, soziale, religiöse, medizinische und rechtliche Aspekte beleuchtet werden. [1] Doch eine Kontextualisierung der jeweiligen Begriffe bleibt dabei meist sehr schwach. Dagegen sticht David Lederers differenzierte Aufarbeitung der unterschiedlichen Formen von Verständnis und Umgang mit Wahnsinn im Kontext von Theorie und Praxis hervor. Seine Arbeit bietet einen klaren Überblick über die Geschichte der "geistlichen Arzney", der über den engeren Rahmen der Frühen Neuzeit hinaus auch Kontinuitäts- und Transformationslinien berücksichtigt, die zum Teil bis heute nachwirken. Dabei zeichnet er ein detailliertes Bild der Aushandlungsprozesse zwischen Politik, religiösen und weltlichen Eliten und der bayerischen Bevölkerung und stellt den Umgang mit Wahnsinn und geistlicher Arznei in die großen Zusammenhänge von Politik, Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung.
Einleitend zeichnet Lederer ein Bild der frühneuzeitlichen Psychologie und ihrer Immanenz im Bewusstsein der Zeitgenossen, die er als "innovation of the sixteenth century" (21) beschreibt. Nicht nur der Begriff Psychologia (22), sondern auch der des Psychiaters als Christus Psychiatrus (6) taucht im 16. Jahrhundert erstmals auf. Ende des 16. und im Laufe des 17. Jahrhunderts war die Thematik der Leib-Seele-Einheit Gegenstand mehrerer in Europa erschienener Abhandlungen und wurde auch ikonographisch dargestellt. Die breite De Anima-Rezeption vom 16. bis ins 18. Jahrhundert beschränkte sich nicht auf den akademischen Betrieb, sondern auch Predigten und die massenhafte Verbreitung von Druckerzeugnissen sorgten dafür, dass dieses Wissen seinen Weg "to the humblest cottage" (37) fand.
Das zweite Kapitel widmet sich dem Basiselement der "geistlichen Arzney": der Ohrenbeichte. Sie entfaltete in der Krise des 17. Jahrhunderts eine besondere Blüte, da sich in ihr - wie Lederer überzeugend darstellt - mehrere Funktionen miteinander verbinden ließen. Sie spendete den Menschen seelischen Trost, gerade in einer Zeit der akuten sozialen Not und religiösen Verunsicherung. Die Jesuiten wurden als Beichtväter am Hof der Wittelsbacher zu einflussreichen politischen Ratgebern. Und nicht zuletzt wurde die Ohrenbeichte zu einem geeigneten Mittel der sozialen Kontrolle im Prozess der Konfessionalisierung.
Das dritte Kapitel widmet sich der Praxis von Wallfahrten im frühneuzeitlichen Bayern. Auch hier gelingt es Lederer, die Geschichte der Volksfrömmigkeit eng mit der Politikgeschichte zu verzahnen. An die Verehrung bestimmter Heiliger - vor allem der Jungfrau Maria - knüpfte der konfessionell-katholische Staat den Versuch einer regionalen Identitätsbildung und politischen Zentralisation - nicht zuletzt wurden dadurch wiederaufkeimende Rufe nach der Kaiserkrone religiös überhöht. Lederer deckt auf unterschiedlichsten Ebenen ein marianisches Staatsprogramm auf, das sich sowohl in der Geschichtsschreibung, der Konstruktion einer 'Heiligen Geographie', der Bavaria Sancta, als auch in zahlreichen plastischen Darstellungen, wie beispielsweise der Mariensäule auf dem Münchner Marktplatz, manifestierte. Zugleich betont Lederer aber die Ambivalenz dieses staatlichen Programms. So wichen volkstümliche Ideen über geistige Leiden und religiösen Wahnsinn stark von den Definitionen der Autoritäten ab (143), und die Wallfahrten entwickelten eine starke Eigendynamik, so dass die schwer kontrollierbare Mobilität großer Massen zunehmend skeptisch gesehen wurde (143).
Im vierten Kapitel behandelt David Lederer die verschiedenen Erscheinungsformen seelischer Leiden und deren Behandlung durch die Priester in den Wallfahrtsorten. Ob es sich nun um Wahnsinn, Angstzustände, Gefühlsverwirrung oder Teufelsglaube handelte - die Behandlungsformen der "geistlichen Arzney" folgten einem bestimmten Muster, für das Lederer eine gewisse Ähnlichkeit mit psychoanalytischen Erklärungen feststellt ("suggestion, transferral, verbalization and removal to a neutral setting", 190). Durch ihre feste Verankerung im Wertesystem, ihre allgemeine Zugänglichkeit und nicht zuletzt durch ihre geringen Kosten wurde die "geistliche Arzney" von der Bevölkerung, und zwar von allen Schichten, gern in Anspruch genommen. Gebete, Weihwasser, Beichte und Eucharistie waren geeignete Heilmittel. Dabei kam der Beichte eine zentrale Bedeutung zu: Sie betonte die persönliche Schuld an geistigen Leiden und interpretierte sie als Folgen von Sünde, moralischer Verworfenheit oder als Werke des Teufels. Das Verweigern der Beichte galt als Symptom für Geisteserkrankung. Besondere Wirksamkeit entfaltete die "Generalbeichte": dabei wurden Reliquien angewandt, mit denen der Satan ausgetrieben wurde - eine Vorstufe des rituellen Exorzismus, der im folgenden fünften Kapitel thematisiert wird.
Anhand dieser, wohl dramatischsten Form der "geistlichen Arzney" verfolgt Lederer die Entstehung einer säkularen Irrenfürsorge. So arbeitet er am Beispiel des Jesuitenpaters Bernhard Frey - einem der lautesten Verfechter des Konzeptes der Unzurechnungsfähigkeit - heraus, wie bereits in der Frühen Neuzeit durch die Professionalisierung des Exorzismus der Weg für eine säkulare Irrenfürsorge geebnet wurde und zeichnet an einzelnen Fallgeschichten die Verschiebung von der "geistlichen Arzney" zur staatlichen Irrenfürsorge nach. Der Paradigmenwechsel, den Lederer beschreibt, geht dabei weit über die Geschichte des Wahnsinns hinaus: "the practical impetus behind the decline of religious madness and the subsequent rise of a secular insanity defense is found not in philosophy, nor on the battlefield, but in the pragmatic victory of reason of state policies over confessional strife." (203).
Das sechste Kapitel untersucht die Praktiken im Umgang mit den Leichen von Selbstmördern. Unter der Annahme der Unzurechnungsfähigkeit wurde versucht, Selbstmörderleichen in geweihtem Boden zu begraben. Doch der Bevölkerung erschienen metaphysische Erklärungen für Selbstmord glaubwürdiger als physische. So zeigt der gewaltige Widerstand der lokalen Priester und Gemeinden gegen die rationale und säkulare Politik vor allem die Grenzen der Staatssouveränität. Und meistens behielt die Kirche im Konflikt mit der politischen Autorität die Kontrolle über den Friedhof. So konnten die strukturellen Probleme der geistigen Gesundheitsfürsorge nur durch strukturelle Verfassungsreformen gelöst werden. Aber diese strukturellen Reformen wurden erst nach der Säkularisation 1803 möglich. Bezeichnenderweise wurde das Jahr 1803 zugleich das Gründungsjahr der ersten bayerisch-königlichen Irrenheilanstalt in Giesing bei München.
Im siebten Kapitel bietet Lederer zunächst noch einmal ein klares Resümee seiner Ergebnisse, in dem er die Verschränkung von Wahnsinn, Religion und frühmodernem Staat pointiert herausarbeitet. Schließlich skizziert er die Einflüsse des Aufklärungsdiskurses auf die Gründung der ersten bayerisch-königlichen Irrenheilanstalt Giesing. Und beendet seine Arbeit mit einem Exkurs über Sigmund Freuds Analyse eines Falls aus dem 17. Jahrhundert, an dem er die starken Einflüsse der "geistlichen Arzney" für die entstehende Psychoanalyse deutlich macht.
Es gelingt David Lederer in außergewöhnlicher Dichte das Feld der "geistlichen Arzney" aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Statt eines - häufig in der Luft hängenden separaten Kapitels über den Stand der Forschung und theoretische Vorannahmen - werden Theorie und Forschung immer im Text mitreflektiert, ohne den Lesefluss zu stören. Der klare Aufbau der Arbeit ermöglicht es, das breit angelegte Forschungsfeld verständlich in den Griff zu bekommen. Die Arbeit bleibt immer konkret und liefert eine Fülle von Details, ohne den Überblick zu verlieren. Besonders wertvoll sind die Einzelfallstudien, die in jedes Kapitel eingewoben werden. Hier gelingt es anschaulich, Diskurs- und Praxisgeschichte sowie die großen Linien der Politik-, Sozial-, und Kulturgeschichte mit dem Alltagserleben der "kleinen Leute" miteinander zu verbinden.
Anmerkung:
[1] H. C. Erik Midelfort: A History of Madness in Sixteenth-Century Germany, Stanford 1999.
David Lederer: Madness, Religion and the State in Early Modern Europe. A Bavarian Beacon (= New Studies in European History), Cambridge: Cambridge University Press 2006, xx + 361 S., ISBN 978-0-521-85347-7, GBP 50,00
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