Der ruhig gestaltete und gut gedruckte Katalog begleitete die gigantische Franz-Marc-Retrospektive des Lenbachhauses, deren Umfang in absehbarer Zeit allein aus konservatorischen Gründen nicht mehr erreicht werden wird. Er war noch einmal möglich, weil das in diesem Museum neu erarbeitete "Werkverzeichnis Franz Marc" die Grundlage bildete.
Man merkt Annegret Hoberg, der Verantwortlichen für die Konzeption von Ausstellung und Katalog, ihren Überdruss am "emphatischen, beinahe sakralen Ton" an, der allzu häufig in einem ebenso hehren wie schwammigen "Pathos der Einfühlung" (44) gipfelt. Mit wohltuender Differenzierung zeichnet sie die Voraussetzungen und Verbindungen nach, unter denen Marcs Werk entstand. Anfänglich orientiert er sich am tonig-plastischen Malstil seines Vaters Wilhelm Marc, während seines Akademiestudiums 1900-1903 dann am Realismus seines Lehrers Wilhelm von Diez. Marcs erste Parisreise im Sommer 1903 bringt ihn von diesem antiquierten Stil nicht ab; er verkehrt im Münchner Künstlerkreis "Scholle" und lässt sich von den wuchtig-plastischen, zugleich locker gemalten Pferde-Darstellungen eines Max Feldbauer beeinflussen. Gleichzeitig nimmt Marc auch die Bewegungsflüsse des Jugendstils auf, die in seinen Gedichtillustrationen "Stella Peregrina" von 1904/06 doch immer schwerfällig an der körperlichen Plastizität haften. Im Jahr 1907 folgt ein zweiter Paris-Aufenthalt; Marc bemerkt dort weder den damals allgegenwärtigen Neoimpressionismus noch die zwei Jahre zuvor an die Öffentlichkeit getretenen "Fauves", sondern "entdeckt" für sich van Gogh und Gauguin. An seine Freundin Maria Franck schreibt er über seine Distanz zu dem, was er in Paris sieht: "... dass doch etwas in mir ist, was sie alle nicht haben, die anderen." (18)
Hoberg zeichnet die Ergebnisse der Sommeraufenthalte in Kochel (1906), Lenggries (1908) und Sindelsdorf (1909) nach: immer wieder rhythmische Anordnungen von Tierkörpern, vor allem von Pferden. Sie erwähnt auch das Selbstquälerische, die Schaffenskrisen, das Angehen riesiger Leinwände und ihr verzweifeltes Zerschneiden. Dann, 1910, der Aufbruch: eine Einzelausstellung von Marcs Naturstudien mit sichtbaren Pinselzügen noch in der Art von van Gogh in der Kunsthandlung Brakl, die Begegnung mit August Macke und dem Sammler der französischen Moderne und Förderer Bernhard Koehler, die Thematisierung der reinen Farbe, Marcs Begeisterung für die Neue Künstlervereinigung München (Kandinsky, Bechtejeff, Erbslöh) und (zu Neujahr 1911) die persönliche Bekanntschaft mit Kandinsky. Marc ist nun offenbar in der Moderne angekommen. Die leuchtenden Farben Gelb, Rot, Blau und Grün beim "Pferd in Landschaft" (1910, Museum Folkwang, Essen), die kubischen oder kurvigen Vereinfachungen der Tierkörper aus dem Jahr 1911 ("Die roten Pferde", "Blaues Pferd I", "Blaues Pferd II", der violette "Affenfries", "Der [weiße] Stier") bezeugen Marcs Auseinandersetzung mit den modernen Kunstströmungen, zu denen ab 1912 noch Kubismus, Futurismus und die Farbendurchdringung eines Robert Delaunay hinzukommen. Die Körper durchkreuzen sich mit den Gründen, die Farben und Formen verselbstständigen sich. Wie die Futuristen begeistert sich Marc für die moderne Technik und die abstrakten Kräfte der Natur, Elektrizität und Röntgenstrahlen.
Aber in eben dem Jahr des Aufbruchs zur Moderne, 1911, beschäftigt sich Marc auch mit einem anderen Künstler des 19. Jahrhunderts und dessen klassischen Idealen von Körperbau und Bildkomposition: Hans von Marées. Annegret Hobert stellt dessen Bedeutung zum ersten Mal in einer Marc-Biografie deutlich heraus. Angeregt von der großen Münchner Marées-Retrospektive im Jahr 1909 und mehr noch von der dreibändigen Monografie von Julius Meier-Graefe, die er im Februar 1910 geschenkt bekommt, setzt sich Marc in Skizzen, Zeichnungen und Gemälden intensiv mit Marées auseinander. Er übernimmt den "tektonischen Aufbau der Figuren", den "tastenden, beinahe ungelenken Strich" (35) und auch die körperlichen Figuren- und Pferdebildungen mit ihren in die Tiefe reichenden und aus ihr hervorkommenden plastischen Grundformen. Über diese von Hoberg dargestellten Bezüge hinaus lässt sich bei vielen Bildkompositionen der Aufbau aus markanten geraden Achsen und deutlich kontrastierenden, körperlich gerundeten Bildungen auf Marées beziehen. Diese bildübergreifenden Formenspannungen reichen vom "Holzträger" von 1911 bis zu den splittrig sich durchdringenden "Rehen im Walde" und gänzlich abstrakten Formentwicklungen von 1914.
Zum ersten Mal präsentieren Ausstellung und Katalog das naturalistische Frühwerk von Marc in solcher Fülle: Gemälde und Zeichnungen von Figuren, Landschaftsausschnitten und Tieren, bei denen ein Merkmal besonders auffällt, die Plastizität. Nie bleibt - bei aller Skizzenhaftigkeit - in einer Landschaft unklar, in welcher Raumtiefe der Fußpunkt eines Baumes oder einer Figur ansetzt. Nie wird bei aller Formvereinfachung der anatomische Aufbau eines von hinten gesehenen Tieres oder eines auf dem Boden hingestreckten Menschen überspielt oder verunklärt. Trotz aller Sichtbarkeit des Pinselstrichs, Vereinfachung der Formen und auch bereits leuchtend hervortretender Farben dringt der Blick in eine Raumtiefe, die sich aus dem nachvollziehbaren plastischen Vor- und Hintereinander der Gegenstände erschließt.
Dieses Eindringen hinter die Bildoberfläche liegt weit abseits des Königswegs zur Moderne - vom Impressionismus über Cézanne bis zu Picasso und Matisse. Man hat fast den Eindruck, den Ausstellungsmachern und Autoren sei die provinzielle Herkunft Franz Marcs aus der Münchner Genre- und Naturmalerei peinlich. In der Ausstellung und im Katalog hat man die Chance nicht genutzt, dieses Frühwerk mit Marcs eigentlichem Schaffen ab 1911 zu verbinden. Dabei könnte eine etwas eingehendere formale Beschreibung deutlich machen, dass Marcs frühe räumlich-plastische Gestaltungsweise selbst noch seine späten, gegenstandsferneren Tierbilder und kristallinen Kräftedurchdringungen bestimmt. Die Pferde und Rehe wenden sich in die Tiefe und aus ihr heraus - und damit auch ihre rote und blaue Farbe und ihre elementaren Formen. Sie liegen nicht, wie etwa bei Kandinsky oder Delaunay, "vorne" auf der Leinwand, sondern erscheinen immer auch entrückt und erst allmählich aus der Tiefe sich bildend. Man mag diese weiterleitenden Suggestionskräfte auf die berühmten Marc-Zitate über das "Geistige", die "Animalisierung" oder die "Weltdurchschauung statt Weltanschauung" beziehen. Man versteht sie sicher neu, wenn man nachvollzieht, wie die Anwendung möglichst reiner bildnerischer Mittel bei Marc von ganz anderen Traditionen ausgeht.
Aus der "evolutionären" Einheit zwischen Formen und tiefenräumlichem Hintergrund erschließt sich auch noch deutlicher der Aufsatz von Barbara Eschenburg. Überzeugend verbindet sie Marcs Kunst mit ganz unterschiedlichen Theorien und Vorstellungen der Evolution des Lebens (Darwin), der Ablehnung einer Trennung von Geist und Technik (George-Kreis, Nietzsche), der Verbindung von Leben und Anorganischem (Wilhelm Bölsche) und mit Ideen aus Ostasien.
Isabelle Jansen zeigt an zahlreichen Beispielen, wie Marc auch in "exotischen" - ostasiatischen, ägyptischen, altorientalischen oder buddhistischen - Kunstformen Vorbilder zu eigenen markanten, zeichen- und körperhaften Bildungen fand.
War Franz Marc ein Traditionalist im modernen Gewand? Bildet seine anthropomorphe Aufladung des Tierbildes und "die immer wieder bemerkte Qualität der Einfühlung und emotionalen Aufladung seiner Bilder" (43) sowohl den Grund für seine hohe Popularität wie auch für die Skepsis vieler Kunsthistoriker? Der große Kenner des Blauen Reiter, Armin Zweite, hatte im Münsteraner Marc-Katalog von 1993/1994 wegen des konkret-figürlichen Untertons bei Marcs abstrakten Formen von einem "gelegentlich spürbaren Hautgout", einem "sentimentalen Beigeschmack" gesprochen. Wegweisend ist der dekuvrierende Aufsatz von Johannes Langner "Iphigenie als Hund", der im Münchner Marc-Katalog von 1980 zahlreiche traditionelle Figurenschemata aus Marcs modernen Tierbildern herausschälte. In einem unveröffentlichten Brief an den Verfasser aus dem Jahr 1994 gab Langner dieser negativen Einschätzung unumwunden Ausdruck: "Die Unzulänglichkeit des bildnerischen Vermögens [von Marc] ist manifest. Und das nun gerade besonders in den späten Versuchen, ins Terrain des abstrakten Bildes vorzustoßen. [...] Hier ist alles nur noch lähmende Bemühtheit, die nicht vom Fleck kommt, nicht abhebt."
Hier verstellt die Sicht auf Kandinskys unmittelbare Wirkung von Farben und Formen eine ganz andere Auffassung des "Geistigen" bei Marc. Das Streben der beiden Künstler war trotz einiger Parallelitäten nicht so "gleichgesinnt" (33), wie es fast immer dargestellt wird. Eine gewisse Distanz drückte Marc selber aus, als er bei seiner ersten Begegnung mit Kandinskys Bildern in der Ausstellung der "Neuen Künstlervereinigung" (1910) sie zunächst mit Teppichen assoziierte. Bei Marc entstehen Farbe und Form erst jenseits der Bildoberfläche in einer sehenden Vorstellung, die diesen Vordergrund durchdringt. (Daher wirkt die wie ein Scherenschnitt verflachte springende Kuh auf dem Cover so unpassend.) Auch Marcs moderne Bilder fordern ein sich vertiefendes Sehen im wörtlichen Sinn. So ist die Auseinandersetzung über die Position von Franz Marc im Kontext der frühen Moderne auch mit diesem Katalog glücklicherweise noch nicht abgeschlossen.
Helmut Friedel / Annegret Hoberg (Hgg.): Franz Marc. Die Retrospektive, München: Prestel 2005, 335 S., ISBN 978-3-7913-3497-4, EUR 29,95
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