Die Lebensreformbewegung ist als Gegenstand historischer Forschung seit Mitte der 1960er Jahre im Fokus der Wissenschaft, war aber anfangs wenig populär. Das Thema, so sah man es damals, beschreite zu viele Seitenpfade und betrete die Sackgassen der Geschichte. Daher galt diese Forschung als wenig karrierefördernd, da man, so die "Zunft", angeblich im Abseitigen stochere und im Morast des Skurrilen stecken zu bleiben drohe. So gab es zunächst nur wenige Historiker, die sich mit denjenigen "alternativen" Bewegungen befassten, die über Naturheilkunde, Nacktkultur, Vegetarismus, Naturschutz, Boden- und Siedlungsreform oder Reformpädagogik die Gesellschaft verändern wollten und eine oft fatale Hinwendung zu alternativen religiösen Praktiken wie Theosophie, Anthroposophie oder selbstgebastelten völkischen und germanischen Glaubensrichtungen besaßen.
Die scheinbar gesellschaftlich periphere Lebens- und Denkweise der Lebensreformer der Zeit ab 1900 stieß schon bei aufgeklärten Zeitgenossen auf Unverständnis und war mit dafür verantwortlich, dass die Forschung die lebensreformerischen Gruppen und Projekte zunächst ebenfalls als antimodern und rückwärtsgewandt interpretierte. Dies änderte sich erst in den 1990er Jahren, als sich die wissenschaftliche Sichtweise auf die Lebensreform radikal zu wandeln begann. Die Forschung begann nun - parallel zur zeitgenössischen Gesellschaft - allmählich, die modernen Aspekte der Lebensreform und ihre Rolle als gesellschaftlicher und kultureller Ideengeber einer Moderne zu verhandeln, die Impulse von den Rändern benötigt, um sich kulturell zu (re-)generieren. Schließlich sind gerade Natur- und Umweltschutz, gesunde Ernährung und "natürliches" Wohnen, Naturheilkunde und vor allem der gesunde und "fitte" Körper entscheidende "moderne" Elemente der Lebensreform gewesen. Und es sind gerade diese Bereiche, die seit einigen Jahren ebenfalls als kulturelles Merkmal der bürgerlichen Mittelschicht gelten und sich darüber hinaus der besonderen Aufmerksamkeit von Politik und Lebensstil erfreuen. Dass, historisch gesehen, bürgerliche Mittelschicht und Lebensreformbewegung sozial und kulturell schon von Beginn an mit einander verbunden waren, zeigt auch der Tugendkatalog der Lebensreform: Maßhaltung, Beschränkung, Sparsamkeit und Ressourcenbegrenzung. Und auch ihre Moral richtete sich ganz bürgerlich gegen Verschwendung, Ausschweifung und Übermaß.
So wissenschaftlich und kulturell geadelt, erschien nun eine Fülle von historischen Arbeiten zu zahlreichen Ausprägungen und Richtungen der Lebensreformbewegung wie Vegetarismus, Naturheilkunde, Körperkultur, Siedlungsbewegung, die Kunst der Lebensreform sowie ihre "alternative" und völkische Religiosität. Wohl nicht zufällig präsentierte die Forschung gerade um die symbolische Jahrtausendwende eine große Lebensreformausstellung auf der Darmstädter Mathildenhöhe mit einem voluminösen zweibändigen Katalog, der die Seriosität des Themas endgültig bestätigte. Die Lebensreform(forschung) schien gesellschaftlich und bei der Wissenschaft angekommen zu sein.
Sozusagen als Nachzügler dieser mittlerweile etablierten Forschung erschien 2006 die bei dem Historiker Lothar Gall in Frankfurt angefertigte Dissertation von Florentine Fritzen mit dem Titel "Gesünder Leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert", die jedoch keineswegs eine Studie zur Lebensreform als solcher oder gar eine Zusammenfassung des Themas darstellt - wie der Titel suggerieren mag -, sondern im Kern "nur" eine Analyse eines ihrer Teile, nämlich der Reformwaren- und Reformhausbewegung ist. Mögen manche Leser den Titel des Buches daher auch als "Etikettenschwindel" auffassen, so hat doch die Autorin mit der Reformhausbewegung tatsächlich ein zentrales Thema der Lebensreform bearbeitet, das bislang so noch nicht Gegenstand der Forschung war. Insofern betritt die Autorin tatsächlich Neuland.
Die Arbeit besteht aus drei Teilen: Im ersten Abschnitt werden Quellen, Methoden und Forschungsstand rekapituliert, das zweite umfangreiche Kapitelkonglomerat befasst sich mit der über 100jährigen Geschichte der Reformhausbewegung, und der dritte Teil behandelt die zentralen, ideologisch aufgeladenen Begrifflichkeiten der Lebensreform, die über eine eigene Definition zahlloser zeitgenössischer Reizworte (Ganzheit, Natur, Kultur, Zivilisation) ihre eigene Legitimation herleitete. Dabei versucht die Autorin, ideologische, personelle und institutionelle Kontinuitäten bzw. Rezeptionen von der Zeit um 1900 bis hin zur heutigen Gesundheits- und Fitnesswelle aufzuspüren und zu benennen.
Der umfangreiche zweite Abschnitt kann als insgesamt gelungen bezeichnet werden, arbeitet die Autorin doch kleinteilig und genau die Strömungen der Reformhausbewegung minutiös aus den (nicht immer einfach zu recherchierenden) Quellen heraus, wobei ein interessanter Abschnitt derjenige ist, der sich mit der Rolle der Bewegung im "Dritten Reich" befasst, in dem zumindest die Reformhausbewegung vom Regime gefördert und unterstützt wurde. Daran anknüpfend untersucht die Autorin die Geschichte der Bewegung über 1945 hinaus in beiden deutschen Staaten und kann auf parallele Rezeptionsstränge und Kontinuitäten aus der Zeit vor 1945 verweisen, die sich erst an den Folgen von 1968 brechen sollten.
Florentine Fritzens gut begründete These, dass die Reformhausbewegung nicht etwa antimodern, sondern im Gegenteil aufgrund ihrer Organisations-, Kommunikations- und Gewerbe- und Vertriebsmethoden und gerade auch mit ihrer bürgerlichen Kritik an der Moderne als typische Erscheinung des modernen Wissens- und Konsumgesellschaft angesehen werden muss, ist stimmig. Dass sie mit ihrer Konsumkritik und ihrer Forderung nach Verzicht sogar als "Luxusphänomen der entstehenden Wohlstandsgesellschaft" (33) bezeichnet werden könnte, ist pointiert ausgedrückt, aber schlüssig. Etwas ärgerlich ist nur, dass die Autorin suggeriert, die bisherige Lebensreformforschung habe gerade diesen Aspekt vernachlässigt (31), was keinesfalls der Fall ist, da gerade die jüngeren Arbeiten etwa von Cornelia Regin zur Naturheilbewegung, Ortrud Wörner-Heil zur Siedlungsbewegung, Eva Barlösius zur vegetarischen Bewegung oder der gesamte zweibändige Lebensreformkatalog der Darmstädter Ausstellung unmissverständlich gerade auf diesen Aspekt hinweisen oder sogar entsprechende Thesen formulieren. [1]
Der dritte Abschnitt des Buches, in dem die ideologischen Reizwörter der Bewegung analysiert werden, fällt inhaltlich ab; hier erscheint die Analyse häufig ungenau. Zentrale Kampfbegriffe wie "Ganzheit" oder "Natur" werden in ihrer inhaltlichen Konsequenz nur angerissen, nicht oder nur wenig im Zusammenhang mit den entsprechenden Interpretationen anderer zeitgenössischer Richtungen erläutert oder gar auf eine Metaebene gebracht. Jedoch muss man hinzufügen, dass - wie die Autorin bemerkt - festgelegte Begriffsbestimmungen in der Literatur der Bewegung nur selten zu finden sind. Sie wurden eher mit interpretatorischer Dehnung als Erkennungsmerkmale oder Kampfbegriffe gegen jedweden Gegner benutzt und somit absichtlich oder aus mangelndem Hintergrundwissen auch verschwommen formuliert und beliebig eingesetzt.
Insgesamt ist die Studie von Florentine Fritzen ein weiterer wichtiger Baustein, der in der Forschung zur Lebensreformbewegung bislang noch gefehlt hat. Die Arbeit überzeugt vor allem dort, wo sie minutiös Neues aus den Quellen herausarbeitet und historische Desiderate füllt. Als Überblick über die Geschichte der Reformhausbewegung ist sie gut geeignet.
Anmerkung:
[1] Cornelia Regin: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889 bis 1914). Stuttgart 1995; Ortrud Wörner-Heil: Von der Utopie zur Sozialreform. Jugendsiedlung Frankenfeld im Hessischen Ried und Frauensiedlung Schwarze Erde in der Rhön 1915 bis 1933. Darmstadt 1996; Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende. Frankfurt/Main 1997; Kai Buchholz (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bände, Darmstadt 2001.
Florentine Fritzen: "Gesünder Leben". Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert (= Frankfurter Historische Abhandlungen; Bd. 45), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 366 S., ISBN 978-3-515-08790-2, EUR 69,00
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