Sergej Kovalev (geb. 1930) setzt sich seit den 1960er-Jahren für Bürger- und Menschenrechte in Russland ein. Er gehörte der sowjetischen Dissidentenbewegung an und war nach der politischen Wende Ende der 1980er-Jahre einer der wenigen früheren Dissidenten, die versuchten, im Rahmen der Institutionen Einfluss auf die Regierungspolitik zu gewinnen. Kovalev tat dies beispielsweise als Vorsitzender der Menschenrechtskommission unter Präsident Jelzin.
Emma Gilligan untersucht in ihrer 2003 an der Universität Melbourne eingereichten Dissertation "den Kampf eines Mannes um fundamentale Menschenrechte in Russland" (1). Sie fragt weniger nach dem Einfluss der Dissidentenbewegung auf die perestrojka und die Demokratisierung, sondern möchte vielmehr am Beispiel Sergej Kovalevs die "Konflikte, Paradoxa und Dilemmata" (7) im Diskurs um die Menschenrechte in der postsowjetischen Zeit aufzeigen.
Als Materialgrundlage dienen der Autorin Texte von Kovalev selbst, etwa seine Autobiografie, die 1997 in Deutschland publiziert wurde [1], sowie Reden, Essays und Medienbeiträge, Dokumentsammlungen der Gesellschaft Memorial und des Archivs der Sacharov-Stiftung sowie Presseartikel. Zudem stützt sie sich auf Informationen und Dokumente der Institutionen, in denen Kovalev tätig war. Da die Sammlungen teilweise nur lückenhaft vorhanden sind - das Archiv des Komitees für Menschenrechte wurde bei der Erstürmung des Weißen Hauses in Moskau im Oktober 1993 zerstört -, erhielt sie das Material von Kovalevs Assistentin. Mit zahlreichen Regierungsmitgliedern und Weggefährten führte Gilligan außerdem Interviews, wobei sie nicht erwähnt, welche Methodik der Erhebung und Auswertung sie dabei anwandte.
Für die zeitgeschichtliche Forschung über die Sowjetunion und das postsowjetische Russland ist die Arbeit in zweierlei Hinsicht interessant: Andrej Sacharov (1921-1989) und Aleksandr Solženicyn (geb. 1918) ausgenommen, haben die Protagonisten (und Protagonistinnen) der Dissidentenbewegung noch kaum Biografen gefunden. [2] Arbeiten über den Transformationsprozess in Russland gehen wiederum kaum auf die Rolle der früheren Dissidenten in der postsowjetischen Zeit ein. [3]
Die Darstellung Gilligans folgt den wichtigsten Stationen auf dem Lebensweg Sergej Kovalevs. Geboren 1930 in Seredina-Buda in der Ukraine, gelangte Kovalev durch das Studium der Biologie nach Moskau. In den 1960er-Jahren war er auf dem Weg, ein erfolgreicher Wissenschaftler zu werden, bis er sich in der illegalen Bürger- und Menschenrechtsbewegung engagierte. Er wurde Gründungsmitglied der ersten Organisation der Bewegung, der Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte (1969), und gab ab 1972 zusammen mit Tat'jana Velikanova (geb. 1932) das Samizdat-Bulletin Chronik der laufenden Ereignisse heraus. Sein Engagement hatte weitreichende Konsequenzen: 1969 wurde er zur Kündigung der Arbeitsstelle in seinem Forschungsinstitut gezwungen, Ende 1974 verhaftet und ein Jahr später zu sieben Jahren Freiheitsstrafe und drei Jahren Verbannung verurteilt. Nach seiner Entlassung 1984 durfte er als ehemaliger politischer Gefangener nicht mehr in Moskau wohnen. Erst 1987, im Zuge der perestrojka, wurde ihm die Rückkehr erlaubt. Vormals illegale Tätigkeit wurde nun zu legalem politischen Engagement. Kovalev gründete zusammen mit Andrej Sacharov und anderen ehemaligen Dissidenten die Bürgerrechtsvereinigung Memorial. Er wurde zum Deputierten des Obersten Sowjet der UdSSR gewählt, später zum Abgeordneten der Duma der Russländischen Föderation. Von 1990 bis 1993 leitete er das parlamentarische Komitee für Menschenrechte und zugleich die russische Delegation bei der UN-Menschenrechtskommission in Genf. Danach ernannte ihn Präsident Jelzin zum Vorsitzenden der Menschenrechtskommission in seinem Kabinett. Dieses Amt bekleidete er bis er 1996. Dann trat er aus Protest gegen den Tschetschenienkrieg zurück. Seither ist er wieder vornehmlich in Nicht-Regierungs-Organisationen aktiv.
Emma Gilligans Buch informiert sehr detailliert über die Aufgaben und Tätigkeiten Sergej Kovalevs in verschiedenen Lebensabschnitten. Sie würdigt insbesondere seine Verdienste während der Präsidentschaft Jelzins, etwa die Mitarbeit am Grundrechtekatalog der Verfassung von 1993 oder die Beteiligung an Gesetzesinitiativen, beispielsweise zur Reform des Strafrechts oder zum Ausnahmezustand. Sie zeichnet ein lebendiges Bild seiner Persönlichkeit, deren Motivation für politisches Handeln in dem unbedingten Glauben an Liberalismus, Demokratie und Toleranz wurzelt. Schon als Dissident wollte Kovalev den Dialog mit dem Regime führen. In der perestrojka-Zeit befürwortete er im Gegensatz zu vielen seiner Mitstreiter aus der Dissidenz die Zusammenarbeit mit der Regierung. An sich und seine Arbeit stellte er hohe moralische Ansprüche. In der Sowjetzeit war er bereit, für seine Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen. Später hielt ihn sein Regierungsamt nicht davon ab, Präsident Jelzin für seine Tschetschenienpolitik scharf zu kritisieren. Unter Einsatz seines Lebens begab er sich inmitten der Kampfhandlungen nach Grozny, um über das brutale und menschenverachtende Vorgehen des russischen Militärs zu berichten. Als 1995 tschetschenische Rebellen um Schamil Bassajew das Krankenhaus von Budjonnovsk besetzten, fungierte Kovalev als Vermittler zwischen der russischen Regierung und den Terroristen. Er gab sich selbst in die Hand der Geiselnehmer und erlitt während der Verhandlungen einen Herzanfall.
Aber trotz aller Hochachtung für Sergej Kovalev wahrt die Autorin eine kritische Distanz und nennt auch Fehler und Schwächen. So handelte Kovalev manchmal ohne politischen Instinkt. Er stützte sich auch noch in seinem Regierungsamt in erste Linie auf seine Freunde aus der früheren Dissidentenbewegung und ehemalige politische Gefangene, statt neue strategische Partner zu suchen, die ihm die Durchsetzung seiner Ideen erleichtert hätten. Auch ignorierte er die Wirtschaftskrise und zeigte sich wenig sensibel gegenüber den Sorgen eines Großteils der Bevölkerung, was seinen Positionen keine breite Resonanz verlieh. Während Kovalevs Politikstil auch in der postsowjetischen Zeit von seinen Erfahrungen als Dissident geprägt war, musste er dennoch herbe Kritik aus den Kreisen seiner früheren Mitstreiter einstecken, zum Beispiel auf Grund seines Widerstandes gegen Lustrationsgesetze, die ehemaligen kommunistischen Funktionären den Zugang zu öffentlichen Ämtern versperrt oder erschwert hätten.
Indem Emma Gilligan die Spannungsfelder beleuchtet, in denen sich Sergej Kovalev bewegte, gelingt es ihr, den biografischen Rahmen zu verlassen und die politischen Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Beispielsweise zeigt sie anhand der Diskussionen in der Dissidentenbewegung in den späten 1980er und frühen 1990er-Jahren auf, dass die Bewegung auf die Demokratisierung völlig unvorbereitet war. Sie spaltete sich im Streit über die Zusammenarbeit mit der Regierung, die viele aus moralischen Gründen ablehnten.
Während Gilligan die politischen Diskussionen, an denen Kovalev teilnahm, anschaulich schildert, mangelt es ihrem Buch bisweilen an Hintergrundinformationen über die politischen Strukturen des neuen Russland. Oft wird nicht einmal klar, welche Aufgaben mit Kovalevs jeweiligen Ämtern verbunden waren und welche Weisungsbefugnis er darin hatte. Die Frage nach Handlungsspielräumen kann somit gar nicht erst gestellt werden. Zudem sind der Autorin ein paar kleine, aber peinliche Fehler unterlaufen. Kovalev wurde nicht 1973, sondern 1974 verhaftet und die Sowjetunion hörte nicht im August, sondern im Dezember 1991 auf zu bestehen. Das Buch wäre außerdem interessanter und leichter zu lesen, wenn nicht schematisch entlang der Chronologie erzählt, sondern Problemfelder herausgegriffen werden würden.
Dennoch ist die Arbeit ein eindrückliches Dokument über Kovalevs Einsatz für die Menschenrechte. Nicht zuletzt wird deutlich, wie schon während des ersten Tschetschenienkrieges unter Boris Jelzin der Pfad der perestrojka und Demokratisierung verlassen wurde. Aber wenigstens war es für Kovalev und sein Team noch möglich, live aus Grozny über Menschenrechtsverletzungen zu berichten. Im heutigen Russland unter Vladimir Putin ist selbst das nicht mehr denkbar.
Anmerkungen:
[1] Sergei Kowaljow: Der Flug des weißen Raben: von Sibirien nach Tschetschenien; eine Lebensreise, Berlin 1997 (russische Ausgabe nur in Auszügen vorhanden: Sergej Kovalev: Polet beloj vorony. Glavy vospominanij, in: Novoe vremja 1997, Heft 19, 36-38, Heft 20, 34-37).
[2] Zu den neueren biografischen Arbeiten über Sacharov und Solženicyn gehören u. a. Donald M. Thomas: Solschenizyn. Die Biographie, Berlin 1998; Roj Medvedev: Solženicyn i Sacharov, Moskau 2002; Richard Lourie: Sacharow. Biographie, München 2003.
[3] Die Autorin nennt hier beispielsweise Lawrence R. Klein/Marshall Pomer (Hrsg.): The New Russia. Transition Gone Awry, Stanford 2001; Ander Aslund/Martha Brill Olcott (Hrsg.): Russia after Communism, Washington 1999. Für die deutschsprachige Forschung ist diese Beobachtung ebenfalls zutreffend.
Emma Gilligan: Defending Human Rights in Russia. Sergei Kovalyov, Dissident and Human Rights Commisioner, 1969-96 (= BASEES/RoutledgeCurzon Series on Russian and East European Studies), London: RoutledgeCurzon 2004, x + 253 S., 12 ill., ISBN 978-0-415-32369-7, GBP 65,00
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