Zur Einschätzung der Geschichte spätmittelalterlicher Klöster ist schnell der Topos zur Hand, gemäß der vielerorts feststellbaren religiösen Agonie auch von einem ökonomischen Niedergang der einzelnen Gemeinschaft auszugehen. Zumindest die Benediktinerklöster unterliegen leicht dieser Generalannahme, und die sprichwörtliche Berufungsgrundlage vom 'Spätmittelalter als Krisenzeit' wie der Bezug auf die Agrardepression des 15. Jahrhunderts tun ein Übriges, dieses Bild oberflächlich zu runden.
Zu Recht weist Regina Keyler in der Einleitung ihrer Arbeit, einer Tübinger Dissertation, darauf hin, dass derart stereotype Vorannahmen nach eingehender Einzelfallprüfung oft erheblicher Differenzierung bedürfen. Zum einen kann sich auch für die klösterlichen Grundherrschaften erweisen, was zuletzt verstärkt für die niederadligen Herrschaften herausgearbeitet worden ist: dass sie nämlich, wegen des Löwenanteils der Naturalabgaben an ihren Einkünften, von der chronischen Geldentwertung des Spätmittelalters mitunter gar nicht allzu hart getroffen wurden. Zum andern bleibt selbst im Blick auf die Agrarkrise zu beachten, dass diese sich vorzugsweise in der Getreidewirtschaft niederschlug, nicht jedoch im Bereich der Viehwirtschaft oder diverser Sonderkulturen. Folglich gilt es erst einmal, jeweils die Zusammensetzung der grundherrlichen Einkünfte zu klären.
Von diesen grundsätzlichen Erwägungen geht die vorliegende Arbeit aus. Und sie kann sich auf die Erfahrungswerte stützen, die eine rege Urbarforschung in den letzten Jahrzehnten aus der üppigen Lagerbuchüberlieferung seit dem 13. Jahrhundert gezogen hat, insbesondere für Verhältnisse im Südwesten des deutschen Sprachraums. Derlei Erkenntnisse mittels neuer Einzelfallanalyse quellenkundlich zu schärfen, ist ausdrücklich ein zentrales Anliegen dieser Studie Regina Keylers.
Dazu hat sie sich der Wirtschaftsgeschichte Reichenbachs im Murgtal angenommen, heute Ortsteil des Schwarzwälder Tourismusmagneten Baiersbronn. 1082 als hirsauisches Priorat gegründet, erwuchs der zunächst kleinen Zelle an der Einmündung des Reichenbachs ein recht kompakter Besitzkomplex im Murgtal selbst, am oberen Neckar sowie um die obere Nagold, hinzu kam noch Streubesitz außerhalb des Schwarzwaldes im Rheintal und am unteren Neckar. Der nie sonderlich stark besetzte Konvent rekrutierte sich vor allem aus dem Landadelsnachwuchs des unmittelbaren Einzugsbereichs. Die Vogtei hatten zunächst die Grafen von Calw inne, sodann die Pfalzgrafen von Tübingen, ehe sie im 14. Jahrhundert als bischöflich-straßburgisches Lehen an die Grafen von Eberstein fiel. Diese wiederum traten nach der Grafschaftsteilung 1399 eine Hälfte an die benachbarten Markgrafen von Baden ab, die sie als wichtigen Baustein ihren Territorialisierungsbestrebungen einzufügen wussten. Das bekam bald auch das Kloster Reichenbach zu spüren, dem Markgraf Bernhard von Baden 1420 neue Besitzstands- und Einkünfteverzeichnisse abverlangte. In direkter Konsequenz entstand offenbar das 1427 ausgestellte älteste Urbar Reichenbachs, das Regina Keyler schon vor einigen Jahren als Basis ihrer gründlichen Untersuchung ediert hat.
Diese Intimität mit dem Quellentyp wie auch mit dem spezifischen Überlieferungsträger kommt der Arbeit natürlich zugute, deren Autorin sich als Archivarin gezielt mit seriellen Quellen und deren Erschließung auseinandersetzt. So versteht sich das leitende Untersuchungsanliegen, und insofern ist es nur folgerichtig, dass sich die Autorin in ihren ersten beiden (von insgesamt sechs) Untersuchungskapiteln einer eingehenden Erörterung der Quellentypen annimmt: und zwar nicht allein der Urbarüberlieferung, sondern zuvor noch der Reichenbacher Rechnungen, ihren Vorstufen und aparten Erscheinungsformen - von einzelnen Zetteln und Quittungen über ein klitterbuch (Sudelbuch) bis zum vieh buchlin - wie auch den Umständen der Rechnungslegung. Dieses zweite Kapitel des Buches besitzt einen markanten Eigenwert auch deshalb, als es sich einer bislang weitgehend vernachlässigten Quellengattung annimmt, deren Sichtung und Auswertung mühsame Feinarbeit erfordert. Doch hat dieses Untersuchungskapitel im Gesamtgefüge des Buches seinen besonderen Sinn dadurch, dass die Interpretation des Reichenbacher Rechnungswesens im 15./16. Jahrhundert nicht nur auf der Auswertung der Urbare bzw. ihrer Erneuerungen des gleichen Zeitraums beruht (von 1427 bis 1585/87), sondern zugleich auf deren sachlichem Korrektiv. Stellen doch erst die Rechnungen heraus, was die in den Urbaren registrierten Rechts- und Besitzstandstitel tatsächlich an Einnahmen bescherten, und sie klären im weiteren darüber auf, wie über zahlreiche Käufe bzw. Verkäufe die unterschiedlichen Verzeichnisangaben der einzelnen Urbare zustande kamen.
Dieser Abgleich bildet die methodische Strukturgrundlage des Buches und ermöglicht erst verantwortbare Aussagen zur wirtschaftlichen Entwicklung Reichenbachs in den "beiden Epochen [...] um das Jahr 1500" (2), das heißt zwischen den Wirtschaftsären von Agrardepression und Preisrevolution. Mit diesem Quellenabgleich im Spannungsfeld von rechtlichem Anspruch und wirtschaftlicher Praxis motiviert Frau Keyler auch den schlagkräftigen Titel ihres Buches.
Doch erfährt man in ihm kaum etwas über die Kontenführung der Reichenbacher Benediktiner als vielmehr über deren praktische Unternehmungsführung. Die detailgesättigten Erkenntnisse, die Frau Keyler dem eher spröden Material abringt, lassen immerhin für den Untersuchungszeitraum unterschiedliche Verwaltungstraditionen in der Rechnungsführung hervortreten, ohne dass sich allerdings die Autorin weitere Gedanken über die Rationalitätsimpulse dieses Verwaltungshandelns machte. Dafür kann sie ganz konkret den Rechnungen Einnahme- und Ausgabesituationen entnehmen, die beispielsweise die Verwendung von immerhin drei Geldwährungen im Untersuchungszeitraum offen legen, aber auch über deren Verbreitung ermitteln, woher das Kloster, das noch im 16. Jahrhundert einen letzten Ausbau betrieb, seine Handwerker heranholte, von wo es welche Rohstoffe oder Produkte bezog und nicht zuletzt, wo die Reichenbacher Absatzmärkte lagen. Die Urbare wiederum dokumentieren die Struktur der Reichenbacher Grundherrschaft. Sogar für die Klostergrundherrschaft vor der Anlage des ältesten Urbars erlauben sie gewisse Rückschlüsse, etwa bezüglich der elf großen Fronhöfe, die dank der Urbarangaben jetzt identifiziert werden konnten. Solche auch diachronen Untersuchungsergebnisse wiegen umso schwerer, als sich die Überlieferungslücke zwischen den Angaben zur Ausstattung während der Reichenbacher Gründungsphase im hochmittelalterlichen Schenkungsbuch und den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Quellen sonst nicht überbrücken ließe.
Als Gesamtergebnis bilanziert Regina Keyler im achten Kapitel für die allgemeine Krisenzeit des 15. Jahrhunderts "ein großes Beharrungsvermögen" Reichenbachs, muss aber zugleich einräumen, dass für den gesamten Untersuchungszeitraum weder eine Intensivierung von Herrschaftsrechten noch, von der (im 6. Kapitel eigens behandelten) Ausnahme des Klosterbesitzes in Gemmrigheim abgesehen, eine erhebliche Einnahmensteigerung bescheinigt werden kann. Doch bezeugen die Rechnungen zumindest die Erschließung neuer Ressourcen im 16. Jahrhundert sowie die Konditionen der klösterlichen Eigenwirtschaft. Dieses eher magere Resultat wird aber, wie Frau Keyler mit einigem Recht in ihrem Schlusssatz für das Buch in Anspruch nimmt, durch einen Zugewinn paradigmatischer Einsichten aufgewertet, die über den konkreten Fall hinaus für die wissenschaftliche Erschließung und Interpretation von Urbaren und Rechnungen erzielt werden konnten.
Das sorgfältig ausgestattete Buch umfasst neben einem Orts- und Personenindex auch noch ein Anhangskapitel, das mit einer tabellarisch-peniblen Komplettübersicht über die Rechnungen, die Rechnungslegungen wie die an ihr beteiligten Personen, einer Liste der großen Höfe nach ältestem Urbar sowie der Textwiedergabe des Lehnsbriefs für den Reichenbacher Hof in Gemmrigheim von 1482 aufwartet. Demgegenüber müssen andere, sicher gut gemeinte Serviceteile als eher unglücklich angesehen werden wie manch eingestreute Graphik, die offensichtlich bunt konzipiert war, im Druck aber nur schwarz-weiß wiedergegeben werden konnte und somit die vorzuführende Aussagekraft einbüßt (24, 65). Aber solchen Tribut entrichten wissenschaftliche Autoren in Zeiten, in denen sie neben der Abfassung des Textes auch gleich noch die Satzherstellung übernehmen, während sich die Verlage bequem auf den Buchvertrieb zurückziehen.
Regina Keyler: Soll und Haben. Zur Wirtschaftsgeschichte des Hirsauer Priorats Reichenbach (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde; Bd. 55), Ostfildern: Thorbecke 2005, XII + 282 S., ISBN 978-3-7995-5255-4, EUR 39,90
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