Das Interesse an römischen Vereinen ist in den letzten Jahren (wieder) enorm gestiegen. Dies führte nicht nur zu einer Reihe von Arbeiten, die sich mit Vereinen im griechischen Osten in römischer Zeit beschäftigten [1], sondern auch zu einer wissenschaftshistorischen Untersuchung, wie sie nun von Jonathan S. Perry vorgelegt wurde.
Jonathan S. Perry ist seit 2006 Sessional Assistant Professor am Department of History an der York University in Toronto. Bereits in seiner MA- und seiner PhD-Thesis (beide unveröffentlicht) befasste er sich mit römischen collegia. In seiner dritten Monographie widmet er sich nun Historikern, die zu römischen Vereinen publizierten. Dabei geht Perry der Frage nach, inwieweit die Persönlichkeit und der historische Kontext in eine wissenschaftliche Untersuchung von historischen Phänomenen - in diesem Fall römischen collegia - hineinspielt, bzw. was das Interesse an einem historischen Phänomen hervorruft.
Im Mittelpunkt der sechs Hauptkapitel stehen Theodor Mommsen, Jean-Pierre Waltzing, Francesco Maria De Robertis sowie weniger bekannte Wissenschaftler des faschistischen Italiens und schließlich ein Überblick der Forschungen zu den Vereinen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Abgeschlossen wird die 223 Seiten umfassende Abhandlung durch eine umfangreiche Bibliographie und einen nützlichen Index.
Nach einer sehr gelungenen Einleitung, in der Perry das Problem der Interpretation antiker Quellen am Beispiel einer Inschrift und den centonarii verdeutlicht, wendet er sich Mommsen und dessen Examensarbeit "De collegiis et sodaliciis" (Kiel 1843) zu. Dabei ging Mommsen davon aus, dass sich die als cultores einer Gottheit bezeichnenden Vereine ihren religiösen Charakter bereits bis zum Beginn der Kaiserzeit verloren hätten. Dies führt Perry auf Mommsens ablehnender Haltung gegenüber dem christlichen Glauben bzw. der Religion im Allgemeinen zurück. Darüber hinaus untersuchte Perry die wissenschaftliche Kontroverse zwischen Mommsen, der sich selbst als "homo minime ecclesiasticus" bezeichnete, und Giovanni Battista De Rossi, dem Begründer der "Christlichen Archäologie" und Scriptor der Vaticanischen Bibliothek, deren Meinung über den Zusammenhang zwischen collegia und frühen christlichen Gemeinden auseinander gingen. So war De Rossi der Auffassung, dass sich christliche Gemeinden freiwillig nach dem Model der traditionellen Vereine, die offiziell toleriert waren, organisierten.
Das zweite Hauptkapitel widmet sich Jean-Pierre Waltzing, dessen vierbändiges Werk über römische Berufsvereine heute noch ein nützliches Nachschlageinstrument darstellt. [2] Perry hebt dabei hervor, dass Waltzing maßgeblich durch seine Umgebung - Liège war ein Zentrum der industriellen Produktion - beeinflusst war. Dies lasse sich in Waltzings Werk an Urteilen erkennen, wie beispielsweise die Annahme, dass die römischen collegia essentielle soziale Institutionen gewesen wären, und dass die Untersuchung der collegia Einblicke in das Leben der unteren Schichten biete.
Die sich daran anschließenden drei (von insgesamt sechs) Kapitel bilden insofern eine Einheit, als sich Perry in diesen mit der Erforschung des antiken Vereinswesens im faschistischen Italien beschäftigt. Dabei stehen im Mittelpunkt des dritten Kapitels die faschistische Wirtschaftstheorie und die Doktrin des "Corporativismo". Zudem wurden zu dieser Zeit akademische Institutionen gegründet, wie beispielsweise 1934 in Bari die "Scuola di perfezionamento in studi corporativi", mit dem expliziten Ziel antike und moderne Vereine zu vergleichen. Dabei werden nicht nur die frühen Arbeiten von Francesco Maria De Robertis [3], einem der einflussreichsten Althistoriker des 20. Jahrhunderts, der sich mit römischen Vereinen beschäftigte, genauer untersucht, sondern Perry bezieht auch weniger bekannte Forscher in seine Analyse ein.
Auch das vierte, das fünfte und große Teile des letzten Hauptkapitels bleiben in Italien, driften jedoch sukzessive vom Thema der Arbeit, den römischen collegia ab. Vielmehr steht die Instrumentalisierung der "Romanità", bzw. was als solche propagiert wurde, durch Historiker des faschistischen Italien im Mittelpunkt. Dabei untersucht Perry die Zeitschrift "Roma" des Istituto Nazionale di Studi Romani (1922-1944), die Beziehung zwischen dem Ministro dell'Educazione Nazionale Giuseppe Bottai (1936-1938) und diesem Institut bzw. mit seinem Gründer und Direktor Carlo Galassi Paluzzi (1925-1944) sowie die Mostra Augustea della Romanità (1937-1938). Anschließend geht Perry nochmals auf die von Bottai 1939 veröffentlichte Schrift "Dalla Corporazione romana alla Corporazione fascista" ein. Ebenso beschäftigt sich das als Überblick über die historischen und intellektuellen Strömungen nach dem Zweiten Weltkrieg konzipierte sechste Kapitel zur Hälfte mit italienischen Publikationen. Doch gelingt es Perry hier den Bogen wieder zu den römischen collegia zu spannen.
Die knappe "Conclusion" (215-223) bietet weder eine Zusammenfassung der Ergebnisse, noch Schlussfolgerungen oder einen Ausblick, sondern enthält mehr oder minder allgemeine Gedanken zu dem Verhältnis der Althistorie zur Zeitgeschichte sowie zur Relevanz der antiken Geschichte für unsere heutige Zeit.
Abschließend bleibt die Frage, weshalb Perry sich auf die Untersuchung römischer Vereine konzentrierte. Denn seine Fragestellung schließt die Behandlung der griechischen Vereine nicht zwingend aus. [4] Dabei kann nicht als Erklärung dienen, dass sich Perry nur auf die Hauptvertreter der Vereinsforschung (wie Mommsen oder Waltzing) beschränkte, da er auch weniger bekannte Forscher in seine Untersuchung einbezog - aus gutem Grund, wie er treffend bemerkt: "One might also argue that it is the mediocre scholar, far more often than the towering genius, who better reflects trends in the wider world" (113).
Der Grund ist wohl darin zu sehen, dass Perry sich in der Hauptsache mit dem faschistischen Italien auseinandersetzt, wo die "Romanità" und der "Corporativismo" eine besondere Rolle spielten. Dies führt jedoch zu einer etwas unglücklich geratenen Konzeption der Untersuchung: Während Mommsen und Waltzing jeweils ein Kapitel gewidmet wird, erstaunt es, warum die Erforschung des römischen Vereinswesens im faschistischen Italien drei (wenn auch interessante) Kapitel einnimmt. Dies entspricht jedoch nicht der Bedeutung, die diesen Arbeiten in der Vereinsforschung zukommt. Auch die abschließende Forschungsgeschichte seit 1945 wurde nur kursorisch abgehandelt. Gerade die Untersuchung der Arbeiten von Schulz-Falkenthal hätte lohnenswert sein können. Doch Perry widmet ihm nur eine knappe Seite und kommt zu dem lapidaren Schluss, dass marxistisches Gedankengut in dessen Arbeiten zu antiken Vereinen nicht zu finden ist (203). [5]
Gleichwohl bleibt hervorzuheben, dass Perry durch seine Fremdsprachenkenntnisse überzeugt; gerade die englischen Übersetzungen deutscher, italienischer und französischer Zitate machen die für die Argumentation wichtigen Texte einem breiten Leserkreis zugänglich. Auch ist der Fokus einer wissenschaftshistorischen Untersuchung auf ein Phänomen, dessen Behandlung man durch die Zeit hindurch verfolgt, ertragreich. Perry verdeutlicht dabei mit aufschlussreichen Episoden das Problem der Abhängigkeit des Historikers von der Zeit, in der er schreibt.
Anmerkungen:
[1] I. Dittmann-Schöne: Die Berufsvereine in den Städten des kaiserzeitlichen Kleinasiens, Stuttgart 2001; C. Zimmermann: Handwerkervereine im griechischen Osten des Imperium Romanum, in: Römisch-Germanisches Zentralmuseum Monographien 57, Mainz 2002; U. Egelhaaf-Gaiser / A. Schäfer (Hgg.): Religiöse Vereine in der römischen Antike. Untersuchungen zu Organisation, Ritual und Raumordnung, Tübingen 2002; Ph. A. Harland: Associations, Synagogues, and Congregations, Minneapoli 2003; St. Sommer: Rom und die Vereinigungen im südwestlichen Kleinasien (133 v. Chr.-284 n. Chr.), Hennef 2006.
[2] Jean Pierre Waltzing: Étude historique sur les corporations professionnelles chez les Romains, 4 Bde., Louvain 1895-1900.
[3] F.M. De Robertis: Corporativismo romano e corporativismo fascista, Il Diritto del Lavoro (1934), 226-237. Ders.: Il diritto associativo romano dai collegi della Repubblica alle corporazioni del Basso Impero, Bari 1938.
[4] Schließlich sind zur selben Zeit auch die maßgeblichen Arbeiten zum griechischen Vereinswesen entstanden: E. Ziebarth: Das griechische Vereinswesen, Leipzig 1896; F. Poland: Geschichte des griechischen Vereinswesens, Leipzig 1909.
[5] Dies widerspricht im Übrigen der Auffassung von F. M. Ausbüttel: Untersuchungen zu den Vereinen im Westen des römischen Reiches, FAS 11, Kallmünz 1982, 13.
Jonathan S. Perry: The Roman Collegia. The Modern Evolution of an Ancient Concept (= Mnemosyne. Supplementa; Vol. 277), Leiden / Boston: Brill 2006, xii + 247 S., ISBN 978-90-04-15080-5, EUR 99,00
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