Im Jahr 2006 erinnerten zahlreiche Ausstellungen und Fachtagungen an das Ende des Alten Reichs und die damit einhergehende territoriale Umgestaltung Deutschlands vor 200 Jahren. Dem Fach - wie auch dem breiteren Publikum - wurde damit die Schlüsselbedeutung dieser Epoche für die deutsche Geschichte vor Augen geführt. Der hier anzuzeigende Band über Baden und Württemberg reiht sich in diese Riege ein und sucht der Entwicklung im deutschen Südwesten unter der Leitfrage "Beginn der Modernisierung?" nachzugehen. Dabei steht nach den Worten der Herausgeber vor allem die "widersprüchliche Ambivalenz zwischen Revolution und Beharrung, dem Janusgesicht von Untergang und Neubeginn" (6) im Mittelpunkt der insgesamt sieben Beiträge, die auf eine Ludwigsburger Tagung im Mai 2006 zurückgehen.
Mit Erlangung ihrer Souveränität suchten die beiden neuen Mittelstaaten, ihre zusammen gewürfelten Staatswesen im Innern zu konsolidieren und ihnen eine einheitliche Grundlage zu geben. Die im Reichsdeputationshauptschluss formulierten Privilegien etwa der ehemaligen Reichsstädte mussten vor diesem Hintergrund mehr als störend wirken; entsprechend blieben sie in Württemberg, wie Klaus-Peter Schröder in seinem Beitrag darlegt, bloße Makulatur. Denn als das Vertragswerk im Februar 1803 in Kraft trat, waren seine Bestimmungen längst von der Realität der seit Herbst 1802 betriebenen Eingliederungspolitik überholt. So wurden weder die geforderte Zuständigkeit der Landstände für die Reichsstädte noch ihre Ausnahme von Konskriptionen seitens der württembergischen Politik beachtet.
Gemäßigter im Vorgehen war zunächst die Integrationspolitik in Baden, wie Armin Kohnle am Beispiel der Integration der Kurpfalz darstellt. Erst die von Napoleon beeinflusste Regierungsumbildung 1809 brachte hier eine Kehrtwende, durch die einer rationalen, zentralistischen Modernisierungspolitik Bahn gebrochen wurde. Einen Zusammenstoß von Tradition und Moderne beschreibt Bernd Wunder am Beispiel der württembergischen Staatsdiener. König Friedrich I. drängte erfolgreich den Berufsstand der Schreiber zurück, der sich bis dato primär altwürttembergischen Traditionen verpflichtet sah. Stattdessen suchte er den Beamtenstand stärker an seine Person zu binden, was der Logik eines modernen Staates und Staatsbeamtentums eigentlich widersprach. Erst seinem Nachfolger, König Wilhelm I., sollte es vorbehalten bleiben, für eine zeitgemäße Verrechtlichung der Stellung der Staatsdiener zu sorgen.
"Die Kehrseite der Souveränität" beschreibt Ute Planert in ihrem Beitrag über die permanenten Kriege, denen sich die Zeitgenossen über Jahrzehnte hin ausgesetzt sahen. Deutlich wird dabei, wie sehr die Einberufung zum Militär - was vor allem die Unterschichten betraf - vom Bürgertum als Fanal eines drohenden sozialen Abstiegs wahrgenommen wurde. Gert Kollmer-von Oheimb-Loup wendet sich der spannenden Frage nach den unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen Badens und Württembergs für das industrielle Wachstum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu. Dabei konstatiert er ungeachtet aller noch bestehenden Forschungslücken weitgehend identische Startpositionen der beiden Länder. Die Rolle der Dynastien zu Beginn des 19. Jahrhunderts steht im Mittelpunkt des Beitrags von Katharina Weigand. Ihnen kam - nicht zuletzt dank der Familienpolitik Napoleons - geradezu eine Schlüsselrolle für die politische Weichenstellung zu, nachdem sie im Zuge der Französischen Revolution in die Defensive geraten waren.
Den Blick über den südwestdeutschen Raum hinaus richtet schließlich Dieter Langewiesche in seinem Beitrag über die Reichsidee in der deutschen Politik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dezidiert stellt er sich dabei gegen die Vorstellung der "Reichsverächter", als deren aktuellen Exponenten er Heinrich August Winkler identifiziert. Ihnen zufolge sei der Reichsmythos die "Unglücksbrücke zwischen dem alten Deutschland und dem nationalsozialistischen" gewesen (28) und somit hauptverantwortlich für den "deutschen Sonderweg". Dieser Einschätzung setzt Langewiesche eine Analyse des Reichsgedankens im 19. Jahrhundert entgegen, derzufolge etwa das Bismarckreich von den Zeitgenossen nicht in der Tradition des Alten Reichs gesehen wurde. Auch die Reichsidee als "völkisches Eroberungsprogramm" sei in der Zeit der Weimarer Republik lediglich ein kleiner Aspekt der Reichsrezeption gewesen; vielmehr wäre die Idee des Reichs als vielgestaltige "Föderativnation" vorherrschend gewesen, die bis heute in der Gestalt des modernen deutschen Föderalismus fortwirke.
Mit dieser Ehrenrettung des Reichs steht Langewiesche, wie zahlreiche Publikationen des Jubiläumsjahrs zeigen, keineswegs allein. Pauschalisierenden Einschätzungen ist in der Tat die differenzierte Betrachtung vorzuziehen, was auch die übrigen Beiträge des vorliegenden Bandes in der Beantwortung der Leitfrage nach dem Beginn der Modernisierung des deutschen Südwestens im Jahr 1806 unterstreichen. Besonders in einer so dichten und ereignisreichen Epoche wird das Neben-, Gegen-, aber auch Miteinander von Tradition und Moderne augenfällig. Dies zu untermauern, ist das Verdienst der hier beteiligten Autoren, deren Beiträge mit insgesamt 46 schwarz-weißen Abbildungen und ausführlichen Bildunterschriften vorteilhaft abgerundet werden. Eine Klarstellung sei an dieser Stelle jedoch erlaubt: Abbildung 21 "Mannheimer Bürgerwehr erwartet Kurfürst Karl Friedrich 1803" ist in das Jahr 1811 zu datieren, zeigt sie doch die Empfangsdelegation mit dem neuen Mannheimer Oberbürgermeister Johann Wilhelm Reinhardt anlässlich der Ankunft des badischen Großherzogs Karl.
Anton Schindling / Gerhard Taddey (Hgg.): 1806 - Souveränität für Baden und Württemberg. Beginn der Modernisierung? (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen; Bd. 169), Stuttgart: W. Kohlhammer 2007, XXII + 212 S., 46 Abb., ISBN 978-3-17-019952-1, EUR 19,00
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