sehepunkte 8 (2008), Nr. 5

David von Mayenburg: Kriminologie und Strafrecht zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus

Hans von Hentig war ein impulsiver Abenteurer mit wenig Respekt vor Autorität. Und er war ein extrem schreibfreudiger Wissenschaftler, der zu den Begründern einer modernen, durch die Verbindung juristischer und medizinisch-psychologischer Kenntnisse und Zugänge bestimmten Kriminologie gehörte. Hans von Hentig wurde 1887 als Sohn des Rechtsanwalts Otto Hentig geboren. Dieser hatte zunächst in Berlin praktiziert, bevor er als Spezialist für Wirtschaftsrecht 1893 zum Verwalter der Güter Karl Egon IV. zu Fürstenberg und 1900 zum Staatsminister des Herzogtums Sachsen Coburg und Gotha wurde; letzteres Amt brachte der Familie die Nobilitierung ein.

Standesgemäß studierte der Sohn nach dem Abitur in Paris, München und Berlin Jura, scheiterte aber zweimal am Staatsexamen (offenbar vor allem aus Unwilligkeit, erwartungskonform zu antworten), bevor er 1912 promoviert wurde. Da ihm die Anwaltskarriere somit verschlossen war, versuchte er sich als Wissenschaftler zu etablieren. Sein Interesse galt spätestens seit dem Studium bei Franz von Liszt den Kontroversen um das Strafrecht und seine Auswirkungen. Das Ziel, die Debatten zwischen Juristen und Psychologen zu überwinden oder gar abzuschließen, brachten Hentig dazu, neben einer intensiven Publikationstätigkeit ein Medizinstudium aufzunehmen.

1914 machte der Krieg bisherige Karrierepläne zunichte. Zunächst an der Westfront eingesetzt, suchte Hentig (der freiwillig von der Kavallerie zur Infanterie gewechselt war) neue, aufregendere Aufgaben; Versetzungen führten ihn nach Bulgarien, in die Mitte der Somme-Schlacht, nach Istanbul, Aleppo, Damaskus, zurück an die Westfront und schließlich fast an die Spitze der im Dezember 1918 in Berlin ankommenden Truppen. Nach dem Krieg, den er 1919 in "Mein Krieg" auch publizistisch verarbeitete, zog es ihn zumindest publizistisch zunächst stärker in die Politik als in die Wissenschaft, wobei er sich - nach dem Schock der Münchener Revolution und deren Unterdrückung, an der er am Rande teilnahm - dem nationalistischen Flügel der Kommunistischen Partei anschloß und sich 1923 an der Vorbereitung eines kommunistischen Aufstands beteiligte. Als Hentigs Rolle der Justiz 1925 bekannt wurde, floh er nach England, Frankreich, Italien und Rußland, um sich schließlich doch zu stellen und entgegen seinem ausdrücklichen Wunsch auf einen Prozeß 1926 amnestiert zu werden.

Geldnöte und Karrierewünsche trieben Hentig seit 1927 zurück in die Wissenschaft: Lehraufträge und Habilitation zum Thema "Wiederaufnahmerecht" führten 1931 zur Berufung auf einen Lehrstuhl in Kiel, 1934 in Bonn. Ein Jahr später holte ihn seine linke Vergangenheit ein: Gemäß den Bestimmungen des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" wurde Hentig in den Ruhestand versetzt. Obgleich er einer der deutschen Wissenschaftler war, die sich nach 1919 intensiv für die Wiederaufnahme internationaler Kontakte eingesetzt hatten, bedeutete die Emigration in die USA (mit der diese Biographie endet) eine Zäsur in seiner Publikationstätigkeit. 1951 kehrte er auf einen "Wiedergutmachungslehrstuhl" nach Bonn zurück, ohne jedoch seine zentrale Rolle wiederzuerlangen.

Diese farbenprächtige Biographie spielt in David von Mayenburgs hervorragender Studie allerdings bisweilen nur eine Nebenrolle. Ziel der Untersuchung ist nichts weniger, als die Entwicklung der Kriminologie als Wissenschaft zwischen Strafrecht und Psychologie in Deutschland zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus im Detail zu rekonstruieren. Dabei geht es Mayenburg vor allem darum, die bisherigen verdienstvollen Forschungen zur Entwicklung der Vorstellungen von Verbrechern, Strafvollzug, Eugenik und staatlicher Strafpolitik um die (rechts-)wissenschaftliche Binnenperspektive zu erweitern. Hans von Hentig ist in diesem Zusammenhang interessant, weil er sowohl ideologisch (er war ein eher internationalistisch eingestellter, linker Intellektueller) als auch inhaltlich (er war Gegner der Todesstrafe, eugenischer Verfahren, des Antisemitismus und Sonderbestimmungen gegen Zigeuner und Arbeitsscheue) nicht in das Bild passt, das eine geradlinige Entwicklung der Kriminologie vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus suggeriert. Dennoch teilte Hentig nicht nur die Karrierewege der 'rechten', bald für Programme der 'Ausmerzung' plädierenden Kriminologen, sondern auch viele ihrer methodischen Prämissen.

Mayenburgs sorgfältige Analyse, die ein enorm breites, auf profunder Sachkenntnis und akribischer Recherche basierendes Bild der Entwicklung von Strafrechtslehre, Kriminologie, Kriminalpsychiatrie, Strafvollzug und wichtigen Forschungsprogrammen zeichnet, kann hier nicht im Detail resümiert werden. Es ist allenfalls möglich, auf grobe Linien hinzuweisen. Hentigs wissenschaftlicher Werdegang erfolgte in einer Zeit, in der (natur-)wissenschaftliche Versuche der Klassifikation von Verbrechertypen drohten, Strafrecht und Strafprozeßrecht obsolet werden zu lassen. Die professionelle Konkurrenz zwischen Juristen und Medizinern verband sich dabei mit einer von Hentig geteilten Suche nach Verwissenschaftlichung und Differenzierung des als zu schematisch empfundenen Strafrechts, die einer Medikalisierung der Sprache der Kriminologie Vorschub leistete. Diese Medikalisierung entwickelte sich in Hentigs Aufsätzen oft von der Metapher zur methodischen wie inhaltlichen Prämisse, der aber eine wissenschaftliche Basis fehlte.

Ähnliches galt für die statistischen Grundlagen kriminologischer Erkenntnisse. Einerseits war Hentig ein sorgfältiger Interpret des vorhandenen Datenmaterials - und seiner Unzulänglichkeiten. Andererseits teilte er unreflektiert bestimmte Annahmen (wie der Existenz von Rassen) und operierte ungehemmt mit vermeintlich gesicherten, oft eher zufällig aneinandergereihten qualitativen historischen Beispielen. Besonders in seinen Äußerungen zu Frauen (denen Hentig beispielsweise die Fähigkeit, Geschworene zu sein, absprach) dominierten in ihren Wurzeln leider nicht zu ermittelnde Vorurteile, die gar keiner Verifikation mehr unterzogen wurden. Insofern leistete Hentig methodisch und sprachlich vielem von dem Vorschub, was er im Ergebnis - als sich nach 1933 die "Ausmerzungskriminologie" Bahn brach - heftig zurückwies.

Bleibt das Problem, warum Prämissen von Wissenschaftlichkeit im Bereich der sich entwickelnden Kriminologie - trotz vereinzelter Kritik der Kollegen an methodischen Kurz-, Zirkel- und Fehlschlüssen - offenbar versagt haben. Mayenburg widmet sich dieser Frage eher indirekt. Zentral erscheinen aber die enge Verbindung zwischen wissenschaftlicher Forschung und politischer Agitation, welche viele Phasen des im Entstehen begriffenen kriminologischen Diskurses prägte, sowie die Ausbildung personeller Netzwerke, welche über Berufungen entschieden - wobei vor allem die geringe Zahl der ausgewiesenen Experten dafür sorgte, dass eine eher unkonventionelle Gestalt wie Hentig Karriere machen konnte. Mayenburgs spannend zu lesende Wissenschaftsgeschichte hat viele unschätzbare Verdienste. Sie widerlegt vor allem die Annahme, es habe eine gute 'linke' und eine schlechte 'rechte' Kriminologie gegeben; stattdessen lenkt sie den Blick auf allgemeine methodische Probleme des Faches, die viele aktuelle Fragen immer noch begleitet. Das äußerlich schlicht präsentierte Buch, das eine neue Reihe eröffnet, sollte daher Pflichtlektüre für alle sein, die sich für die Geschichte - und auch die Gegenwart - der intellektuellen Ursprünge von Methoden der Verbrechensbekämpfung und Verbrecherbestrafung interessieren.

Rezension über:

David von Mayenburg: Kriminologie und Strafrecht zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Hans von Hentig (1887-1974) (= Rheinische Schriften zur Rechtsgeschichte; Bd. 1), Baden-Baden: NOMOS 2006, 492 S., ISBN 978-3-8329-1883-5, EUR 89,00

Rezension von:
Andreas Fahrmeir
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Fahrmeir: Rezension von: David von Mayenburg: Kriminologie und Strafrecht zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Hans von Hentig (1887-1974), Baden-Baden: NOMOS 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 5 [15.05.2008], URL: https://www.sehepunkte.de/2008/05/13221.html


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