Der geläufige Begriff der Medienkunst ist streng genommen eine Tautologie. Es gibt keine Kunst, die nicht im weitesten Sinn von einen Medium abhängig ist, bestimmt wird von seinen spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten, die sie überhaupt erst materialisieren, zur Erscheinung bringen, dauerhaft und für alle sichtbar machen. Darüber gibt es in der Kunst und Kunstgeschichte, ohne dass der Begriff des Mediums je explizit gemacht wurde, immer schon ein Wissen, nicht zuletzt Wettbewerb und bewertenden Kanon. Doch war es die technisch revolutionäre Medienkunst im engeren und gegenwärtigen Sinn, d.h. die Phänomene der maschinell, längst elektronisch und digital generierten Kunst, die hierfür das Bewusstsein in besonderer und nachhaltiger Weise ausgeprägt hat. Umgekehrt hatten es die mechanisch hergestellten Bilder, die wiederum eine viel längere Geschichte haben als die der sogenannten Neuen Medien, immer schon schwer, mit der idea der hohen, genialen und freien Kunst seit der Renaissance gleichgestellt und überhaupt als Medien der Kunst anerkannt zu werden. Die Geschichte der Fotografie als dem ältesten der Neuen Medien ist hierfür ein prägnantes Beispiel. In den Bilderströmen der Gegenwart fällt es indessen immer schwerer, überhaupt noch die Grenzlinien zwischen Kunst, Wissenschaft, Technik, Unterhaltung und Kommerz auszumachen. Und die bloße Anwendbarkeit komplexer Technologie garantiert längst noch nicht eine künstlerische Qualität der Medienbilder.
Der englischsprachige Sammelband "MediaArtHistories", herausgegeben von Oliver Grau und erschienen in der namhaften Leonardo-Reihe der MIT Press, vereint insgesamt 22 Beiträge von international renommierten und interdisziplinär ausgerichteten Wissenschaftlern, Künstlern und Kuratoren zu diesem weiten Themenfeld. Er bietet viele Einblicke, mediengeschichtliche Referenzen und kritische Diskussionen zu einem längst unüberschaubaren Feld an Namen und Werken, von denen viele nach wie vor schwer zugänglich und selbst deren Klassiker immer noch wenig bekannt sind. Das Buch, das teils aus der Konferenz "Refresh! The First International Conference on the Histories of Media Art, Science, and Technology" 2005 am Banff New Media Institute hervorgegangen ist, verfolgt ein mehrfach angelegtes Ziel: Die digitale Kunst in ihren Phänomenen und theoretischen Konsequenzen als Teil der Kunstgeschichte zu begreifen und darzustellen. Doch dies geschieht nicht, wie lange üblich und geleitet von einem technozentristischen Diskurs, allein auf der Grundlage der fundamental und rasant veränderten, alle Lebensbereiche durchdringenden Technologie, sondern innerhalb einer weiter gefassten, interdisziplinär und nicht zuletzt interkulturell orientierten Kunstwissenschaft. Nur in einer größer angelegten historischen, die Phänomene zugleich genau beschreibenden, analysierenden, in ihrer Qualität beurteilenden Perspektive, die nicht kurzsichtig zwischen alten und neuen Medien trennt, sondern Verbindungen und Wechselverhältnisse aufzeigen kann - nur in einer solchen Perspektive, wie sie dieser Band vorgibt, wird das Neue verständlich, werden aber die kulturellen Vorgaben deutlich und das Neue in den alten Medien sichtbar. Das Spektrum der Aufsätze reicht vom islamischen Mittelalter zur Laterna magica und bis zu Fotografie, Film und Video, von der Kunst Duchamps bis zur digitalen Medienkunst der Gegenwart.
Den Auftakt bildet ein kurzer Essay des Altmeisters der Wahrnehmungspsychologie, Rudolf Arnheim, dessen weltbekannte Bücher zur Kunst auch auf das Fach großen Einfluss haben. Sein Anliegen, die neue Medienkunst in den Horizont der überlieferten Geschichte zu integrieren, steht gleichsam als Plädoyer für das ganze Buch. Die erste Sektion heißt daher bezeichnend: "Origins: Evolution versus Revolution". Peter Weibel macht in seinem erhellenden Beitrag deutlich, dass der teils überstrapazierte Begriff des Virtuellen bereits in der kinetischen Kunst der 1960er Jahre auftaucht; während Edward Shanken darüber reflektiert, wie das Verhältnis zwischen "Art, Science, and Technology" (kurz AST genannt) methodisch und historiografisch in die Kunst der 1960er Jahre eingefügt werden kann: in eine Epoche, die konzeptuell wie technisch so gut wie alle überlieferten Rahmen gesprengt und und damit nicht zuletzt dem Verhältnis von Betrachter und Kunstwerk neue Koordinaten hinzugefügt hat. Gerade auch in ihren theoretischen, oft von den Künstlern selbst formulierten Texten wurde dies immer wieder reflektiert. Leitend ist der bekannte Aufsatz "Beyond Modern Sculpture" von Jack Burnham von 1968 und die vielen Diskussionen innerhalb des amerikanischen Modernismus. Eher schlagwortartig, summarisch und wenig historisiert fallen jedoch die vorgeschlagenen Kategorien für die Medienkunst aus, wie "Networks, Surveillance, Culture Jamming", "Simulations and Simulacra", "Interactive Context", "Communities, Collaborations, Exhibitions, Institutions". Überzeugender und origineller argumentiert der Aufsatz von Dieter Daniels, der unter dem Begriff des Mensch und Maschine verbindenden Interface eine hypothetische Beziehung herstellt zwischen Duchamps vielfach theoretisiertem Schachspiel und der "universal machine" von Turing; ebenso der Beitrag von Oliver Grau selbst, aufbauend auf seinen viel beachteten (und im Fach erstmaligen) Studien zur Kunstgeschichte der Virtuellen Realität, über Praktiken und Utopien der Telepräsenz, Immersion und Phantasmagorien artifizieller und geisterhafter Erscheinungen, die bereits in vielen visuellen Experimenten des 18. Jahrhunderts angelegt sind.
In der zweiten Sektion "Machine - Media - Exhibition" werden einige der Schlüsselbegriffe der neuen Medienkunst verhandelt. Die "automatization" als Prinzip der Bildherstellung spielt hier eine wichtige Rolle; das mechanische, sich selbst gestaltende Prinzip, das zugleich bis zu den Handabdrücken der Altsteinzeit zurückverfolgt werden kann. Edmond Couchot versteht Abdruck wie optische Projektion als Basis aller nachfolgenden mechanischen Bildprozesse, die wiederum Grundlage der analogen Medien Fotografie und Film sind. Allerdings wird der Bruch zum digitalen Bild einmal mehr vor allem auf technischer Ebene beschrieben und in die Erzählschemata (und nicht zuletzt Erfolgsgeschichte) evolutionär fortschreitender Technologie eingefügt. Zweifelsohne haben sich die Verhältnisse von Objekt, Bild und Subjekt verändert. Fraglich bleibt, wie es Oliver Grau selbst favorisiert, ob Virtualität, Immersion, Interaktivität und Animation nicht immer schon in der Bildgeschichte angelegt und vielleicht ihre eigentlichen Motoren sind. So bleibt auch die Frage offen, ob mit den Möglichkeiten digitaler Bildgenerierung auch grundlegend neue ästhetische Kategorien, gar eine neue Ontologie und eine gänzlich neue Kultur der Kunst eingeführt wurden, wie sie in den Beiträgen von Andreas Broeckmann, Ryszard W. Kluszczynski, Louise Poissant und Christiane Paul diskutiert werden. In der darauffolgenden Sektion "Pop and Science" wird der inflationär verwendete Begriff der Interaktion im Beitrag von Ron Burnett noch einmal kritisch aufgegriffen, ausführlich, luzide und historisch weit verankert diskutiert. Gerade die dialektischen Verbindungen zwischen "alten" und "neuen" Medien werden hier sehr deutlich und überzeugend aufgezeigt. Doch sicherlich sind zugleich die Verbindungen, Zusammenarbeit und wechselseitigen Durchdringungen von Kunst, Wissenschaft, Technologie, Massenkommunikation, Softwareentwicklung, Popkultur und Unterhaltungsindustrie enger und unterscheidbarer denn je zuvor, wie das insbesondere die Beiträge von Lev Manovich und Timothy Lenoir ausführen.
Die vierte und letzte Sektion widmet sich schließlich dem, was aus dem deutschen Wort "Bildwissenschaft" wörtlich übersetzt als "Image Science" bezeichnet ist. Diese Übersetzung scheint nicht ganz glücklich, da, wie es W. J. T. Mitchell, einer der prominenten Beiträger dieses Bandes, einmal selbst ausgebreitet hat, unter "Image Science" etwas sehr anderes verstanden werden kann, vornehmlich ein Anliegen der Naturwissenschaft. Hier stößt dieser Band auch an die bestehenden Grenzen des Dialogs zwischen "Bildwissenschaft" und den angloamerikanischen "Visual Studies", die mitunter sehr verschiedene Ziele verfolgen und mit unterschiedlichen Begriffen operieren. Mitchells eigener Beitrag macht noch einmal deutlich: "There are no Visual Media"! Alle Bildmedien, insbesondere auch die "alten" sind in ihren Eigenschaften "mixed media". Dies zeigt einmal mehr an, dass die Grenzlinien zwischen alten und neuen, audiovisuellen Medien nicht so deutlich verlaufen, wie es manche Apologeten der Medienkunst gerne sehen. Den letzten Beitrag liefert die ebenso in Chicago lehrende, international renommierte Wissenschaftshistorikerin Barbara Stafford. Sie bringt abschließend den für alle bild- und medienwissenschaftlichen Diskussionen schwer greifbaren, aber entscheidenden Begriff der "Mental representation" ein. Unter dem Stichwort "Picturing Uncertainty" spannt sie einen weiten und erhellenden Bogen von der Romantik bis zu den Techniken mentaler Repräsentationen der Gegenwart.
Der Band "MediaArtHistories" ist ein sehr produktives Lesebuch, das die Diskussionen über den kulturhistorischen Status des Bildes, der Kunst und seiner aktuellen Medien in einem weiten Spektrum voranbringen wird - klug mit dem Plural versehen, der anzeigt, dass nicht eine einzige und noch weniger eine lineare Geschichte der Medienkunst geschrieben werden kann.
Oliver Grau (ed.): MediaArtHistories (= Leonardo), Cambridge, Mass.: MIT Press 2007, xii + 475 S., ISBN 978-0-262-07279-3, GBP 24,95
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