Die Problematik der Grenze in ihren zahlreichen Facetten, Funktionen und Bedeutungen ist im letzten Jahrzehnt ein sozial- und kulturwissenschaftlicher Schwerpunkt geworden. Eine wachsende Sensibilisierung für Grenzen in ihrer nicht nur räumlichen, sondern auch kulturellen und sozialen Funktion als Trenn- und Verbindungslinien in Exklusions- und Inklusionsprozessen trug zu dieser Entwicklung ebenso bei wie die politischen und kulturellen Umwandlungen, die die staatlichen Grenzen in Europa erfuhren. Indem Grenzen und Grenzregionen einen höheren Stellenwert in der europäischen Politik und Integration erhielten und dadurch eine stärkere Aufmerksamkeit der Geographie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Ethnologie auf sich zogen, wurden auch neue Impulse zur Historisierung des gesamten Phänomens gegeben. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die historische Grenzthematik heutzutage auffallend häufig im Rahmen von transnationalen Projekten und Netzwerken mit Europabezug angesprochen wird, die in europaweiten Kooperationsprogrammen entwickelt oder sogar im Rahmen von EU-Programmen gefördert werden. Damit ist die Inter- und Transnationalität, zugleich aber auch eine gewisse Europäizität des Forschungsbereichs von allen Seiten gegeben.
Der vorliegende Sammelband, der aus einer Tagung und Ausstellung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf von 2001 resultiert, knüpft an diese Voraussetzungen in mehrerer Hinsicht an und entwickelt diese weiter. Da die Düsseldorfer Tagung von der Abteilung für Osteuropäische Geschichte des dortigen universitären Historischen Seminars in Zusammenarbeit mit der Adalbert-Stiftung-Krefeld, dem Herder-Institut Marburg und dem Leibniz-Institut für Länderkunde Leipzig organisiert wurde, erscheint die Orientierung auf Ost- und Ostmitteleuropa logisch. Insofern ist der Band durchaus als ein interessanter Beitrag zur Geschichte und Gegenwart der Grenzen in dieser Region zu werten. Allerdings scheint diese Orientierung doch eher von einem exemplarischen als von einem fundamentalen Charakter zu sein. Nirgendwo wird eine besondere Absicht formuliert, gezielt osteuropäische Grenzen in ihren Besonderheiten zu analysieren, und diese werden auf keinerlei Weise thematisiert, konstruiert oder abgelehnt. Im Resultat kann daher die ost- bzw. ostmitteleuropäische Ausrichtung des Bandes zufällig und mager erscheinen, da wenige in diese Richtung gehende Aussagen getroffen werden. Andererseits aber ist das vielleicht einer der Wege zur Normalisierung dessen, was man gerne Ost- bzw. Ostmitteleuropa-Forschung nennt.
Der Umgang mit Grenzbegriffen und -vorstellungen ist in dem Sammelband alles andere als essentialistisch, ohne jedoch in radikalen Konstruktivismus zu geraten. Er ist interdisziplinär, da historiographische, politikwissenschaftliche, soziologische, kultur- und sogar sprachwissenschaftliche Perspektiven präsentiert werden, nicht in einem nutzlosen Nebeneinander, sondern in einer stellenweise spannenden Verknüpfung. Trotz seiner Themenvielfalt fällt der Sammelband inhaltlich nicht auseinander, zumal sich alle Beiträge auf die zentralen Fragen der Funktionalität räumlicher Grenzen beziehen.
Der einführende Text von Hans Hecker resümiert und problematisiert die wichtigsten Fragen, die gegenwärtig diskutiert werden: sowohl die Problematik von räumlichen, geographischen Grenzen, ihrer Konstruktion, Funktion und Instrumentalisierung, als auch das Verständnis von Abgrenzung als eine Art anthropologische, wenn auch historischem Wandel unterliegende, Konstante.
Im darauffolgenden Beitrag greift Michael G. Esch diese These kritisch auf. Seine Feststellung, dass die "Abschließung von Grenzen [...] keine anthropologische Konstante, sondern ein Phänomen der Moderne" ist (27), vermag sie jedoch nur scheinbar zu entkräften: denn Esch, der seine Aussage auf den modernen Nationalismus bezieht, meint hier eher eine dichte Abschließung statt einer kollektiven Grenzziehung im Allgemeinen. Esch beschäftigt sich ausdrücklich mit räumlichen Grenzen moderner europäischer Staaten des 19. Jahrhunderts, in denen die hermetische Abschließung von Grenzen postuliert wurde. Nach Esch ist dies als eine Folge der Nationalisierung zu verstehen. Allerdings lassen sich die Hermetisierung von Grenzen und die Nationalisierung von Gesellschaft auch als zwei parallele Entwicklungen begreifen, die sich aus der modernen Staatsbildung ergeben und spätestens im 18. Jahrhundert mit der neuen herrschaftlichen und ökonomischen Funktionalisierung von Grenzen zu beobachten sind. Über die Wechselwirkungen zwischen Abgrenzung und Nationalisierung wäre also noch zu diskutieren. Sehr eindrucksvoll zeigt Esch des Weiteren, wie der 'Traum' einer hermetischen Grenze im Nationalsozialismus funktionierte und welche Implikationen sich daraus für dessen Verbrechen ergaben.
Dieter Nelles Aufsatz über "Internationalismus im Dreiländereck. Alfons Pilarski und der Anarchosyndikalismus in Oberschlesien in der Zwischenkriegszeit" zeigt auf, wie von Menschen, die in international geprägte Bewegungen eingebunden waren, Kontakte über Grenzen hinweg aufrecht erhalten wurden. Die von ihm untersuchten ostmitteleuropäischen Anarchosyndikalisten überwanden im Dreiländereck zwischen Polen, dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakei nicht nur die Grenzen zwischen den Staaten, sondern auch die Grenzen zwischen den Nationalitäten. Damit eröffnet sich eine spannende und wenig bekannte Thematik, die um so interessanter erscheint, als sich der Autor von der zeitlichen Eingrenzung im Titel seines Beitrags nicht daran hindern lässt, zumindest ansatzweise die Schicksale des grenzübergreifenden Anarchosyndikalismus und seiner Vertreter in dieser Region weiter zu verfolgen.
Marita Krauss befasst sich in ihrem unter Mitwirkung von Herbert Will entstandenen Beitrag mit Grenzüberschreitungen in den Erinnerungen von Emigranten der NS-Zeit. Sie schildert eindrucksvoll die Möglichkeiten, die sich aus der Analyse der in diesen Erinnerungen vorkommenden Erzählfiguren und Symbole ergeben. Sie nutzt ihren Aufsatz dazu, an konkreten Beispielen die von ihr vertretene Methode überzeugend darzustellen. Man muss sich dabei allerdings fragen, ob die eingangs kritisch dargestellte "traditionalistische", angeblich auf Oberflächen orientierte und die Innenansichten kaum thematisierende Historiographie hier tatsächlich dem Bild entspricht, das sich die Autorin von der modernen historischen Forschung macht, oder ob eine solche Schilderung nicht vielmehr eine Erzählstrategie darstellt, um die Vorteile der eigenen Methode vor einem negativen Hintergrund besser hervorheben zu können.
Christoph Pallaske stellt die zeitweise sehr schnellen Wechsel in den Migrationsstrategien von polnischen Migranten in der Bundesrepublik in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dar. Es zeigt sich, dass nicht nur politische Wenden und Restrukturalisierungsprozesse, sondern auch einzelne Gesetzesmaßnahmen tief greifende Veränderung in der polnischen Migration hervorrufen konnten.
Ruth Leiserowitz thematisiert den "Schmuggel als Lebensform" an der preußisch-russischen Grenze im ostpreußisch-litauischen Gebiet im späten 19. Jahrhundert. Der Beitrag entspricht mit seiner Betonung der lebensweltlichen Ebene, die in der Thematisierung der sozialen Legitimität und Funktion des Schmuggels hervortritt, vielen anderen Forschungen zum 19. Jahrhundert in Europa. Die Aufmerksamkeit der kulturhistorischen Grenzforschung verdient er vor allem deshalb, weil er einige Spezifika der untersuchten Grenzregion herausarbeitet.
Zu den umfangreichsten Texten des Bandes gehört die von Heidi Hein-Kircher verfasste Analyse der Funktionierung des Antemurale-Mythos im polnischen Selbstverständnis von der Frühneuzeit bis heute. Pavel N. Donec versucht, am Wort Grenze und an verwandten Begriffen die Anwendung einer semantischen Komponentenanalyse zu demonstrieren.
Etwa ein Viertel des Buches besteht aus 28 farbigen Reproduktionen von Karten, die verschiedene Grenzen in Ostmitteleuropa, insbesondere während des 20. Jahrhunderts darstellen. Das hier gesammelte kartographische Material stellt damit auch einen Katalog der Düsseldorfer Ausstellung dar, die die Darstellung der Grenzen auf Karten problematisieren und hinterfragen wollte. Leider werden trotz des einführenden Textes von Wolfgang Kreft und der kurzen Begleitnotizen zu jeder Karte nur wenige Kommentare in diese Richtung gemacht, so dass der Betrachter hier mit seinem eigenen kritischen Umgang auskommen muss. Neben den Karten finden sich auch Fotoaufnahmen der Grenzverläufe und -übergänge im Baltikum. Bedauerlicherweise ohne jeglichen Kommentar, verweisen diese Fotografien von Christoph Waack doch auf die Entdeckung der Poetik der Grenze und der Grenzübergänge, wie sie vor allem bei bildlichen Darstellungen der letzten Jahre häufiger zu beobachten ist.
Der Sammelband gehört eher nicht zu den Werken, die man unbedingt lesen müsste, wenn man sich mit der Grenzthematik beschäftigt. Dies war offensichtlich auch nicht der Anspruch der Herausgeber. Es kann auch nicht behauptet werden, dass die weitere Grenz(raum)forschung nicht ohne den Band auskommen würde. Wer ihn dennoch rezipiert, wird dies jedoch nicht vergeblich tun: Die meisten Beiträge vermitteln nicht nur zahlreiche Forschungsergebnisse, sondern geben vor allem viele Inspirationen für die sozial- und kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Grenze. Die thematische und methodische Reichweite der einzelnen Themen einerseits und der dennoch kohärente Eindruck des gesamten Bandes andererseits machen ihn in dieser Hinsicht fast vorbildlich.
Hans Hecker (Hg.): Grenzen. Gesellschaftliche Konstitutionen und Transfigurationen (= Europäische Schriften der Adalbert-Stiftung-Krefeld; Bd. 1), Essen: Klartext 2006, 243 S., ISBN 978-3-89861-386-6, EUR 24,90
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