"Stapelstadt des Wissens" nannte Goethe die Stadt Jena, um mit leichtem Ton all die Dinge aufzuzählen, die dem Besucher aus Weimar hier zur geistigen und leiblichen Nahrung mitgeteilt wurden. Diese Beschreibung stellt Katja Deinhardt ihrer Dissertation voran, deren leitmotivische Frage die Verwobenheit von Stadt und Universität ist und damit auch die Frage nach dem Verhältnis von städtischem Bürgertum und den Akademieangehörigen. Dabei reformuliert sie die innerhalb der Bürgertumsforschung kontrovers diskutierte Frage nach dem Modernisierungspotenzial von Stadtbürgertum und neuem Bürgertum: Inwieweit befruchteten sich die traditional stadtbürgerlichen Gruppen und die bildungsbürgerliche gegenseitig?
Entstanden ist die Arbeit im Rahmen des Jenaer Sonderforschungsbereichs "Ereignis Weimar - Jena. Kultur um 1800" und sie nimmt die so genannte Sattelzeit zwischen 1750 und 1850 in den Blick. Entsprechend des Ansatzes des Jenaer Forschungsbereichs konzipiert sie den Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft und besonders die Jahrzehnte um 1800 als Experimentierphase "in der Altes und Neues nebeneinander existierte, ehe sich der gesellschaftliche Wertekanon einer nunmehr bürgerlich gewordenen Welt wieder verengte". (14)
In diesem Forschungskontext stehend, betont die Autorin die Unerlässlichkeit der empirischen Arbeit an einem möglichst breiten Quellenfundus. Die detaillierte Analyse der Sozial-, Bevölkerungs-, und Wirtschaftsstruktur der Stadt ist das Fundament, auf dem die Analyse der Verfassungsentwicklung und der Interessensvertretungen von städtischem Bürgertum und Universität aufbaut. Prosopographische Untersuchungen, die auch das städtische Vereinswesen mit einbeziehen, nehmen die Verflechtungen der städtischen Eliten in den Blick, während Handlungsmuster und Machtverhältnisse in der Stadt anhand von zentralen städtischen Konflikten analysiert werden.
In seiner Bevölkerungsentwicklung war die kleine Universitätsstadt Jena auch im Vergleich mit anderen Universitätsstädten besonders abhängig von der Attraktivität der Akademie. Die teils rapide schwankenden Einwohnerzahlen und ein hoher Prozentsatz mobiler Bevölkerungsgruppen - um 1800 stellten Studenten, Lehrende, das mit ihm verbundene Dienstpersonal und Soldaten fast ein Viertel der Einwohnerschaft - hatten die Fragilität der städtischen Gesellschaftsbeziehungen zur Folge. Hinzu kam, dass bis 1810 die Organe bürgerlicher Selbstverwaltung schwach ausgebildet waren und sowohl der Stadt als auch dem Staat die genaue Verfassungslage unklar war. Dennoch trifft die für Weimar aufgestellte Behauptung, dass unter der Regierung Carl Augusts die Bürger zu einer Gruppe von einflusslosen Untertanen abgesunken waren, für Jena nicht zu. An vielen Einzelbeispielen gerade in den Krisenmomenten zeigt Deinhardt, dass die Bürgerschaft die Selbstverwaltung als ein ihr zustehendes Gut betrachtete und in zunehmenden Maß weitere Mitbestimmungsrechte einforderte.
Die genaue Analyse der städtischen Selbstverwaltungsinstitutionen sowie die der sozialen Herkunft der Amtsinhaber, die sich nicht nur auf Stadtrat und Bürgerschaft begrenzt, sondern auch das insgesamt selten beachtete städtische Kommissionswesen mit einbezieht, macht deutlich, wie sehr die Angehörigen von Universität und Stadtbürgertum doch in getrennten Welten lebten. Ein aktives Miteinander zugunsten des Gemeinwohls der Stadt oder staatlicher Reformen blieb in dem Untersuchungszeitraum immer die Ausnahme. So war das Verhältnis der Stadt zur Universität und auch zu dem "Ereignis Weimar-Jena" vor allem ökonomisch begründet. Nur wenige Bürger waren in die Kommunikationskreise von Hof und Universität eingebunden. Das "Ereignis" blieb so äußerlich, und auch in den Vereinen gab es kaum Berührungspunkte zwischen den Angehörigen beider Gruppen. Die Integration der Universitätsangehörigen gelang nur partiell, selbst nach der Einführung der Stadtverfassung von 1810, die das Stadtbürgerrecht für Universitätsangehörige öffnete. Insgesamt war die Bürgerschaft gesellschaftlich und politisch gegenüber den Angehörigen der Universität weit aufgeschlossener als es umgekehrt der Fall war. Hier scheitert das Projekt der ständeübergreifenden Gesellschaft, denn das Beharrungsvermögen der sich rein im akademischen Milieu bewegenden Bildungsschicht war im Großherzogtum Weimar besonders ausgeprägt.
In vielem hat Katja Deinhardt Grundlagenarbeit geleistet. Durch den reflektierten Umgang mit den Quellen, die hinsichtlich ihrer spezifischen Aussagekraft befragt werden, und die Berücksichtigung exogener Faktoren auf die Entwicklung Jenas werden kurzschlüssige, nur auf städtische Ereignisse bezogene Argumentationen vermieden. Entstanden ist so auch eine flüssig geschriebene moderne Stadtgeschichte, bei der man einige Redundanzen gerne überliest. Die Arbeit ist ein wichtiger Beitrag für die Erforschung des städtischen Bürgertums des bisher nicht explizit im Fokus stehenden Stadttypus der Universitätsstadt.
Katja Deinhardt: Stapelstadt des Wissens. Jena als Universitätsstadt zwischen 1770 und 1830 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Bd. 20), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, X + 424 S., ISBN 978-3-412-11806-8, EUR 49,90
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