Das Buch war stets ein nützlicher Reisebegleiter. Ob zur Unterweisung in die Geschichte der bereisten Landstriche und die Sitten der besuchten Völker oder als Ausgleich zum zuweilen mühsamen Reisegeschäft, kleinere oder größere Reisebibliotheken fanden sich fast immer im Gepäck. Wenn auch nur wenige so umfangreich waren wie Napoleons Feldbibliothek, die zeitweilig bis zu tausend Bände umfasste, wurde die Auswahl sorgfältig nach Geschmack, Nützlichkeit und Unterhaltungswert getroffen, sodass sich noch heute aus der Zusammenstellung einer Reisebibliothek auf den Zweck und Charakter der Unternehmung rückschließen lässt. Insbesondere Bildungsreisende suchten ihre Lektüre unterwegs zu ergänzen, sodass eine solchermaßen gewachsene Bibliothek auch Auskunft über die Auseinandersetzung mit der bereisten Kultur zu geben vermag. Der Bücherkauf konnte dabei Formen eines Initiationsritus in den Kreis der Gelehrten und Kunstkenner vor Ort annehmen. So inszeniert Goethe in seiner Italienischen Reise den Besuch einer Buchhandlung in Padua, in der er einen Nachdruck von Palladios gesammelten Werken erwarb, als Eintritt in eine Welt der Gleichgesinnten und Begegnung mit einheimischen Kunstfreunden, die ihn in seinem Geschmack bestätigten.
Buchhandlungen, die sich ausschließlich auf die Bedürfnisse eines durchreisenden Lesepublikums spezialisiert hatten, gab es zur Zeit Goethes noch nicht. Sie entstehen, wie die Münchner Buchwissenschaftlerin Christine Haug in ihrer Geschichte des Verkehrsbuchhandels darlegt, erst in den 1840er Jahren mit der Durchsetzung der Eisenbahn als Verkehrsmittel. Die Entwicklung folgte dem Ausbau des Eisenbahnnetzes und setzte zunächst in Großbritannien ein, bevor auch an deutschen Bahnhöfen, etwa in Nürnberg, Würzburg, München, Stettin und Heidelberg, zunächst fliegende Händler ihre Buchstände am Gleis aufschlugen. Am Ende des Untersuchungszeitraums wird deutlich, dass die Geschäftsidee eines auf die Bedürfnisse von Reisenden spezialisierten Buchhandels so erfolgreich war, dass sie sich nicht nur auf die Schifffahrt, sondern auch auf den Luftverkehr ausdehnen ließ.
Haugs Studie zeichnet die Geschichte des frühen Verkehrsbuchhandels von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik aus zwei Perspektiven nach, die bereits durch den Titel angedeutet werden: Nach einer kurzen Einführung in die Geschichte des modernen Tourismus widmet sich der erste Teil der Frage, wie sich das Verhältnis von Reisen und Lesen durch die Industrialisierung der Verkehrsmittel und der damit einhergehenden Beschleunigung rezeptionsästhetisch und daran anknüpfend auch auf dem Gebiet der Publikationsformen verändert hat. Der zweite Teil beschreibt am Beispiel der wichtigsten Bahnhofsbuchhandlungen und einzelner Problemfelder, wie der Lizenzierung, der Rabattstrukturen und der Pacht, die historische Ausdifferenzierung des Verkehrsbuchhandels. Ergänzt wird der geschichtliche Überblick um ein Querschnittskapitel zur Einwirkung der Zensur auf die Publikations- und Vertriebsformen des Verkehrsbuchhandels, der mehr noch als der Sortimentsbuchhandel unter dem Verdacht stand, politisch gefährdende und unsittliche Schriften außerhalb der Reichweite territorialer Zensurbehörden zu verbreiten.
Die knapp hundertjährige Ausdifferenzierung des Buchhandels in einen Sortiment- und einen Verkehrsbuchhandel lässt sich nach Haug in drei Phasen unterteilen: Eine verhältnismäßig lange Etablierungsphase, die von 1850 bis zur Gründung der Standesvertretung der deutschen Bahnhofsbuchhändler 1905 reichte, eine kurze Konsolidierungsphase, die mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs endete und durch zunehmende Konkurrenz der Marktteilnehmer bestimmt war, und schließlich eine Phase der Professionalisierung und Internationalisierung, die nach der Kriegsunterbrechung einsetzte und sich bis zum Ende der Weimarer Republik erstreckte. Diese war vor allem von der Regulierung des Marktzugangs, der Liberalisierung der Öffnungszeiten und der Erweiterung des Geschäftsfeldes geprägt.
Bemerkenswert ist, dass die Kriegswirtschaft zwar zum Erliegen des eigentlichen Verkehrsbuchhandels führte, diese Einschnitte jedoch schnell durch den Aufbau eines kommerziellen Feldbuchhandels kompensiert werden konnten. Oftmals wurden die gleichen Titel in einer angepassten Aufmachung - die werbewirksam in leuchtendem Grün, Gelb und Rot gestalteten Einbände wichen dem uniformen Feldgrau - in Buchreihen für Soldaten wie den Tornister-Bibliotheken oder der Reihe Feld-Bücher verkauft. Besonders wurde dabei auf ein handliches, kleines Format und die Reduktion von Gewicht geachtet. Allerdings nahm die inhaltliche Spezifik dieser Reihen ab, da das Lesepublikum an der Front sozial wesentlich heterogener zusammengesetzt war als das Reisepublikum.
Für die Kulturgeschichte des Lesens, insbesondere aber für die Frage, wie das Medium Buch durch den Kontext seiner Rezeption bedingt ist, liefert vor allem der erste Teil der Studie, in dem das Verhältnis von industrialisiertem Reisen und Lesen ausgeleuchtet wird, fundierte Ergebnisse. So wurde die Lektüre auf einer organisierten Eisenbahnfahrt zunehmend von der Funktion entlastet, die Reise selbst mit Informationen und Hintergründen zu begleiten. An die Stelle von Reisebeschreibungen und der darin literarisch "imaginierten Ersatzlandschaft" (74) traten vielmehr Formen der Unterhaltungsliteratur, die keinen Bezug mehr zur konkret unternommenen Reise hatten, wenngleich das Thema Reisen besonders häufig den Hintergrund von humoresken oder kriminalistischen Texten abgab. Besonders beliebt waren Kriminalgeschichten, welche einen Eisenbahnmord zum Thema hatten und so die Angstlust der Reisenden bedienten. Die "Abteilphobie" (114), die darin begründet war, dass man im abgeschlossenen Coupé zwischen zwei Stationen den Mitreisenden auf der Strecke hilflos ausgeliefert war, nährte die Phantasie und hatte erst nach 1870 mit der Einführung des Durchgangswagens als Inspirationsquelle für zahllose Mordgeschichten ausgedient.
In den Themen und Formen der Reisebibliotheken spiegelt sich vor allem das Bestreben wider, die Reiselangeweile zu vertreiben, die - seit jeher gefürchtet - im Zeitalter des seriellen und durchorganisierten Tourismus eine der letzten Herausforderungen für Reisende darstellte. Selbst die Publikationsformen griffen die Bedürfnisse einer mobilen Leserschaft auf, obwohl die abonnementfreien Reisebibliotheken auch von Daheimgebliebenen gerne gelesen wurden. Schon die kleinformatige Aufmachung, meist Sedez oder Oktav, und die auffällige Gestaltung der einfachen Pappeinbände in Signalfarben kam den Reisenden entgegen, die ihr Gepäck nicht unnötig beladen wollten und sich meist schnell vor der Abfahrt für eine Lektüre am Bahnhof entscheiden mussten.
Ein besonderes Verdienst der Studie von Haug besteht darin, annähernd fünfzig Reihen von Reise- und Eisenbahnbibliotheken rekonstruiert zu haben, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen. Deren Einzelbände sind heute nur noch schwer auffindbar und in der Regel aufgrund ihres Gebrauchscharakters nicht mehr in ihrem seriellen Zusammenhang erhalten. Hierzu gehören etwa die erfolgreiche Tauchnitz-Edition, die Humoristische Eisenbahn- und Reise-Bibliothek, die Conversations- und Reisebibliothek sowie Lorck's Eisenbahnbibliothek. Anhand der Reisebibliotheken kann Haug plausibel nachzeichnen, dass die Reiselektüre im Zeitalter des industriellen Reisens einem grundsätzlichen Funktionswandel unterworfen war, der die Popularisierung der Lesekultur beförderte. Reisebibliotheken bilden in ihrer jeweiligen inhaltlichen Ausrichtung, etwa auf Geschichtskolportagen, Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen oder Kriminalistisches, eine Brücke zwischen den frühen Klassikerreihen und den Kolportageromanen der Jahrhundertwende um 1900. Die Auswahl der Autoren, von Willibald Alexis über Friedrich Wilhelm Gerstäcker bis zu Ernst Adolf Willkomm, die etwa Brockhaus für seine Reihen traf, zeigt, dass die Verleger bemüht waren, auch in ihren Reisebibliotheken einen Querschnitt der beliebtesten Genres der Zeit anzubieten und auch politische Stimmen, wenngleich meist in der Form der Satire, zu Wort kommen zu lassen.
Haug gelingt es, das produktions- wie rezeptionsästhetische Verhältnis von Lesen und Reisen anhand von zum großen Teil erstmals ausgewerteten Quellen zur Geschichte des Verkehrsbuchhandels medial wie ökonomisch neu zu bestimmen. Dabei erschließt die Studie bisher vernachlässigte Quellen zur populären Lesekultur und erhellt, wie außerliterarische Bedingungen bis in die literarischen Formen und Stoffe hineinwirken. Das sorgfältige Quellen- und Literaturverzeichnis machen ebenso wie das Register, das auch die Namen von Verlagen und Institutionen erschließt, den vorliegenden Band für weitere Studien anschlussfähig.
Christine Haug: Reisen und Lesen im Zeitalter der Industrialisierung. Die Geschichte des Bahnhofs- und Verkehrsbuchhandels in Deutschland von seinen Anfängen um 1850 bis zum Ende der Weimarer Republik (= Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte. Veröffentlichungen des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens; Bd. 17), Wiesbaden: Harrassowitz 2007, 415 S., ISBN 978-3-447-05401-0, EUR 54,00
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