Johannes Bugenhagen (1485-1558) gehört sicherlich zu den einflussreichsten Persönlichkeiten aus dem Kreis der Wittenberger Reformatoren. Besonders als Verfasser einer Anzahl bedeutender Kirchenordnungen prägte er die Organisation und Herausbildung der Evangelischen Kirche in Norddeutschland. So tragen die Kirchenordnungen für Braunschweig (1528), Hamburg (1529), Lübeck (1531), Hildesheim (1542), für die Herzogtümer Pommern (1535) und Schleswig-Holstein (1542), das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel (1543) sowie das Doppelreich Dänemark-Norwegen (1537) seine Handschrift. Lorentzen geht nun in seiner zum 450. Todesjahr Johannes Bugenhagens erschienenen Dissertation gezielt der Frage nach, inwieweit dieser auch als Reformator der öffentlichen Fürsorge anzusehen ist. Er vertritt dabei die zentrale These, dass Bugenhagen vom Evangelium ausgehend zu einem höchst charakteristischen Fürsorgekonzept gelangte, "das ausdrücklich unter dem Primat christlicher Liebe stand und sich damit signifikant von stärker polizeilich geprägten Kirchenordnungen Südwestdeutschlands unterschied, erst recht von der säkularen Bettelgesetzgebung jener Zeit" (8). Darüber hinaus möchte Lorentzen in seiner Arbeit erstmals die Leistungsfähigkeit dieses Systems überprüfen.
Lorentzen greift damit zentrale Fragestellungen der aktuellen Armutsforschung zur Frühen Neuzeit auf, die seit den 1990er-Jahren wieder vermehrt nach konfessionsspezifischen Besonderheiten der Armenfürsorge fragt.
Die Monografie folgt dabei einer grundlegenden Zweiteilung. In einem ersten Teil behandelt Lorentzen die theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation sowie die Entwicklung derselben in Bugenhagens Schriften (65-208), um dann in Analogie zu seiner doppelten Fragestellung in einem zweiten Teil Organisation und diakonische Leistungen von Bugenhagens Fürsorgemodell eingehend zu erörtern (209-452).
Im ersten Hauptteil fragt Lorentzen vor allem nach den Brüchen bzw. Kontinuitäten der Armenfürsorgemotivation. Als methodisch innovativ ist dabei besonders die Heranziehung der Almosenbretter als eigenständige Quellen zur Erforschung der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fürsorgemotivation herauszustellen. Vor der Reformation sieht er die Bereitschaft zur Hilfe vor allem in der Heilsversicherung durch die guten Werke gegeben und charakterisiert sie entsprechend als Jenseitsvorsorge. Dieses Motiv fiel bei den evangelischen Almosenspenden weg, allerdings wurden die guten Werke weiterhin als notwendige Folge des Wortes Gottes verstanden. Lorentzen stellt vor diesem Hintergrund die Entwicklung der Fürsorgekonzeption bei Johannes Bugenhagen ausführlich dar und führt dabei aus, inwieweit sie Eingang in die Kirchenordnungen gefunden hat. Argumentativ überzeugend grenzt er dabei die Position Bugenhagens von derjenigen Luthers ab und zeigt seine Eigenständigkeit und Originalität z.B. in Fragen des Zusammenhangs von Fürsorge und Gesetz auch im Unterschied zu süddeutschen Städten wie Ulm, Straßburg und Augsburg. Ebenfalls betont er die Neuartigkeit des Fürsorgemodells gegenüber spätmittelalterlichen polizeilichen Verordnungen. Der Ansicht, die evangelischen Ordnungen als bloße Weiterentwicklung zu sehen, erteilt er eine klare Absage. Er weist darauf hin, dass die Neugestaltung der öffentlichen Fürsorge nicht vorrangig als ein Säkularisierungs-, sondern vielmehr als ein Sakralisierungsprozess zu deuten sei. Ebenso sieht er große Differenzen zu späthumanistischen, altgläubigen Fürsorgekonzepten.
In dem zweiten Hauptteil seiner Arbeit geht Lorentzen auf die konkrete Organisation der Fürsorge und die daraus resultierenden diakonischen Leistungen ein. Er stellt dabei die Bandbreite der Fürsorgemaßnahmen, die ausgehend von Bugenhagens Kirchenordnungen tatsächlich umgesetzt wurden, ausführlich dar. Verdienstvoll ist, dass der Autor um eine empirische Absicherung seiner Aussagen bemüht ist. Zu diesem Zweck wertet er die Braunschweiger und Stolper Armenregister sowie die Spitalrechnungen und Matrikel der Geschworenen Bruderschaft der Hausarmen zu Kiel exemplarisch aus. Diese Darstellung der tatsächlich geleisteten Fürsorge ist für die Erforschung von Armenfürsorge von großem Wert, da solche Auswertungen bisher die Ausnahme darstellen.
Die generalisierende Deutung der frühen städtischen Armenordnungen als Akte gezielter obrigkeitlicher "Sozialdisziplinierung" lehnt Lorentzen nicht nur von seinen theologischen Überlegungen zur Fürsorgemotivation bei Bugenhagen sowie deren Festschreibung in den Kirchenordnungen her ab, sondern auch im Hinblick auf die geübte Spendenpraxis. So hätten die Diakone sich in der Ausspendepraxis keineswegs streng an Exklusionskriterien orientiert, mit denen Arme und Kranke sozialdisziplinatorisch hätten klassifiziert und kontrolliert werden sollen. Vielmehr lasse sich ein konzilianter Umgang mit Fremden und Schuldnern feststellen.
Insgesamt eröffnet Lorentzens theologische Perspektive eine Vielzahl von Fragen, Deutungs- und Erklärungsmodellen, die in der bisherigen, vor allem sozialhistorisch orientierten Forschung wenig Beachtung gefunden haben. Die Arbeit stellt unter diesem Aspekt eine Bereicherung dar. Vor allem macht sie deutlich, dass bei der nicht unüblichen Gleichsetzung von protestantischer Fürsorge und Sozialdisziplinierung Vorsicht geboten ist. Die Arbeit von Lorentzen gibt einen außerordentlich guten und differenzierten Überblick über die theologisch fundierten evangelischen Fürsorgekonzepte im Reformationszeitalter und geht damit über eine alleinige Darstellung der bugenhagenschen Gedankenwelt weit hinaus. Bei der Bewertung des Wandlungsprozesses sowie der Einordnung der norddeutschen Kirchenordnungen stellt sich jedoch die Frage, ob durch die Fokussierung auf die theologische Perspektive nicht anderen Entwicklungen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. So fehlt z.B. eine Auseinandersetzung mit Theorien zur Herrschaftsbildung, die Armenfürsorge nicht allein unter dem Blickwinkel der Sozialdisziplinierung betrachten, sehr wohl aber als Möglichkeit der Herrschaftsstabilisierung. Die politisch-gesellschaftlichen Interessen, die zur Übernahme der Reformation sowie zur Neuordnung der Fürsorge führten, bleiben weitestgehend ausgeblendet. Insgesamt erscheint das norddeutsche Fürsorgewesen bei Lorentzen als ein Erfolgsmodell für die Bedürftigen, als eine "vorrangige Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten" (452). In dieser Hinsicht gelingt es dem Autor zu zeigen, dass die theologischen Überzeugungen der Reformatoren größeren Einfluss auf die Ausbildung der Fürsorgeorganisation und Fürsorgepraxis hatten, als ihnen bisher in der Forschung zugebilligt wurde. Darüber hinaus kann er plausibel machen, dass sie sich deutlich von den stärker norm- und kirchenzuchtorientierten süddeutschen Konzepten absetzt. Eine offene Frage bleibt jedoch, ob sich dieser Umgang mit Armut tatsächlich ebenso eindeutig von den als chaotisch und krisenhaft deklarierten vorreformatorischen sowie von neueren Formen der altgläubigen Fürsorge unterscheidet. Für einen solchen Vergleich hinsichtlich der direkten Auswirkungen für die Armen selbst fehlt aber bisher die empirische Basis, sodass Aussagen darüber, welches Modell die besseren Optionen für Arme eröffnete, kaum getroffen werden können. Allerdings bildet gerade in dieser Hinsicht Lorentzens Buch - nicht zuletzt dank seiner gründlichen Archivarbeit - für künftige Arbeiten ein geeignetes Referenzwerk, das zu weiteren Diskussionen anregt und nicht nur für Bugenhagenspezialisten, sondern für die gesamte Armutsforschung von Interesse ist. Ein Bibelstellen-, Personen- und Ortsregister runden den gut lesbaren Band ab.
Tim Lorentzen: Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation; 44), Tübingen: Mohr Siebeck 2008, XII + 532 S., ISBN 978-3-16-149613-4, EUR 109,00
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