Seit etwa zwei Jahrzehnten hat die Erforschung der Frömmigkeit, Kirche und Theologie im Zeitalter der Aufklärung in Deutschland durch Kirchenhistoriker Konjunktur. Auch wenn die Forschungsleistungen der Theologen noch lange nicht den Forschungsstand beispielsweise der Philosophie, der Geschichts- oder Literaturwissenschaft erreicht haben, so hat doch das neu erwachte Interesse an diesen Zeitraum der Kirchengeschichte, in dem sich Veränderungen vollzogen, die bis heute das Denken und Handeln der Menschen mitbestimmen, zu bemerkenswerten Erkenntnissen geführt. Eine gelungene Zusammenfassung der Ergebnisse der kirchenhistorischen Aufklärungsforschung und - darüber hinaus - der kulturwissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte bietet jetzt das Kompendium Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung", das der Münsteraner Kirchenhistoriker Albrecht Beutel verfaßt hat. Beutels Werk ist allerdings mehr als nur eine bloße Zusammenfassung von Forschungsergebnissen, sondern es ist ein großer Wurf und überzeugendes Ergebnis neuerer Forschungsansätze, in denen die Frömmigkeitspraxis, das kirchliche Leben und die theologische Theoriebildung unter Strukturgesichtspunkten und als Prozeß analysiert werden. Das Werk, das klar strukturiert ist, und in einer eingängigen Sprache geschrieben ist, wird sich zweifelsohne auch für die künftige Beschäftigung mit dem Thema als unentbehrliche Fundgrube erweisen.
Das vorliegende Kompendium ist allerdings keine Neuerscheinung, sondern bereits im Sommer 2006 als Faszikel des Handbuchs Die Kirche in ihrer Geschichte (hrsg. von Bernd Moeller, Bd.4, Lieferung O 2) erschienen. Bedauerlich ist, dass die seit 2006 erschienene neue Literatur zu dieser Thematik nicht als Literaturnachtrag angeführt worden ist.
Was ist Aufklärung? Einleitend beschäftigt sich der Verfasser mit der Begriffsgeschichte des Wortes Aufklärung. Er unterscheidet dabei drei Bedeutungen: Erstens Aufklärung als "Phänomen geschichtlicher Rationalisierungsprozesse" (17). Damit wird ein Strukturmoment von Aufklärung benannt, das "durch einen methodisch herbeigeführten Zuwachs an Wissen, durch programmatische Popularisierung wissenschaftlich-philosophischer Erkenntnisse, durch eine traditionskritische und darin zumeist pädagogisch akzentuierte Geisteshaltung sowie durch ein reflektiertes Modernitäts- und Epochenbewusstsein charakterisiert ist" (17f). Zweitens Aufklärung als geschichtsphilosophisches Postulat (freier Vernunftgebrauch) und drittens Aufklärung als historische Epochenbezeichnung. Für Beutel umfasst das Zeitalter der Aufklärung etwa die Zeit von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Kenntnisreich stellt der Verfasser auch den Forschungsstand zur theologischen Aufklärung dar. Daran schließt sich eine überblicksartige Darstellung des Profils der Epoche an. Hier werden neben der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft auch die Wissenschaften, die Philosophie, die Literatur und die Religion behandelt. Beutel versteht die Aufklärung zu Recht als transnationale Erscheinung, behandelt aber überwiegend die deutsche Entwicklung, die aufgrund der bikonfessionellen Kultur in Deutschland und der territorialstaatlichen Zersplitterung des Reiches in den einzelnen Territorien zudem spezifische Ausprägungen aufweist. Was sind die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der Aufklärung? Diese liegen ihm zufolge sowohl in der Renaissance, im Humanismus und der westeuropäischen Religionsphilosophie als auch im konfessionellen Zeitalter, im Pietismus, im Sozianismus und in der Reformation. Prägnant werden entsprechende Traditionslinien nachgezeichnet.
Die Darstellung der Erscheinungsformen aufgeklärten Denkens in Theologie und Kirche beginnt mit einer Beschreibung der ab 1650 einsetzenden Physikotheologie, die bestrebt war, durch Betrachtung von Gegenständen der Natur oder Prozessen in der Natur auf die Existenz Gottes und sein Schöpfungshandeln zu verweisen. Überraschend ist allerdings, dass er den Pietismus, der in der Regel als Vorläufer oder Wegbereiter der Aufklärung verstanden wird, in struktur- und problemgeschichtlicher Perspektive als "eine religiöse Spielart der Frühaufklärung" versteht (93). Weitere Frühformen der theologischen Aufklärung sind der Wolffianismus (Siegmund Jacob Baumgarten und Johann Gustav Reinbeck, dessen Bedeutung der Verfasser zurecht betont) und die Übergangstheologie, zu der Beutel Johann Franz Buddeus, Johann Georg Walch, Christoph Matthäus Pfaff und Johann Lorenz von Mosheim zählt. Der Begriff Übergangstheologie wird seit langem kontrovers diskutiert. So plädiert z.B. W.-F. Schäufele für eine Aufgabe des Begriffs und W. Sparn für eine Ersetzung des Begriffs durch eklektische Theologie. Beutel behält diesen Begriff sicherlich mit Recht - zumindest bis ein aussagekräftigerer Begriff gefunden wird - als Kennzeichnung für eine Gruppe von Theologen bei, die am Anfang der Aufklärung in Deutschland die traditionellen Lehraussagen zeitgemäß reformulierten und so zu einem zentralen Moment der Modernisierung der protestantischen Theologie wurden. Eine Untersuchung der theologischen Theoriebildung dieser Theologen zeigt, dass sich ihr Denken stetig weiter entwickelt hat. Eine spezifische Dynamik des Denkens kennzeichnet auch die weiteren Phasen der Aufklärungstheologie.
An diese Frühformen der theologischen Aufklärung schließt sich die Neologie an. Dabei bezeichnet Neologie die den Diskurs dominierende, "neue Argumentations- und Anwendungsformen erprobenden Gestalt der protestantischen Aufklärungstheologie" (112). Kennzeichnend für diese Theologie ist die Ablösung von der orthodoxen Dogmatik, aber gleichzeitig auch die Distanz zur pietistischen Bekehrungs- und Heiligungsschematik. Durch die Darstellung der kirchlichen (z.B. A.F.W. Sack, Jerusalem, Teller und Spalding) und akademischen Hauptakteure (z.B. Griesbach, Michaelis, Planck und Semler) dieser theologischen Richtung und durch viele Detailschilderungen gelingt es Beutel - der nicht allein aufgrund der von ihm herausgegebenen Kritischen Spalding-Ausgabe als ausgewiesener Fachmann für die Neologie gilt -, ein Panorama der Neologie als einer lebendigen theologischen Erkenntnisbildung zu entwerfen, deren Vertreter sich den Herausforderungen der Zeit in verantwortlicher Weise gestellt haben. "Dass die protestantische Theologie in Deutschland gleichwohl vor der fatalen Alternative bewahrt worden ist, sich entweder in Religionsphilosophie aufzulösen oder in anachronistischen Orthodoxien zu verkrusten, darin besteht die vielleicht bedeutendste geschichtliche Leistung der Neologie" (242). Allerdings: Nicht jeder von Beutel als Vertreter der Neologie bezeichnete Theologe ist auch wirklich ein Neologe gewesen. So war z.B. der Göttinger Theologe Christian Wilhelm Franz Walch sicherlich kein Neologe, sondern ein später Vertreter der lutherischen Orthodoxie in Deutschland, der die theologischen Vertreter der Aufklärung aufs schärfste bekämpft hat. Dies zeigt sich exemplarisch in seiner Rezension von Semlers programmatischer Schrift Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, nebst einer Antwort auf die tübingische Vertheidigung der Apocalypsis (Halle 1771) in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen (15.8.1771).
In älteren Darstellungen der Theologiegeschichte schließt sich an die Neologie immer die Untersuchung des Supranaturalismus bzw. des Rationalismus an. So ist es auch bei Beutel. Allerdings fat dieser den Rationalismus zu Recht nicht nur als eine Phase der Aufklärungstheologie auf, sondern als ein "durchgehendes Strukturmoment der Aufklärung" (151). Daher unterscheidet er einen vorkantischen Rationalismus von einem durch Kant beeinflußten Rationalismus (z.B. Paulus oder Wegschneider). Zurecht unterteilt er dabei den vorkantischen Rationalismus in zwei durch die Generationenabfolge bedingte Phasen, d.h. er unterscheidet zwischen einer ersten Generation von Rationalisten (Dippel, Edelmann, J.L. Schmidt) und einer zweiten (Reimarus, Bahrdt, Henke), deren intellektuelle Rationalisierung der Theologie sich gegenüber der ersten Generation durch ein höheres Reflexionsniveau sowie eine systematischere Darstellung ihres Systems unterscheidet.
Dass es auch eine katholische Aufklärung in Deutschland gegeben hat, ist in der Forschung seit langem nicht mehr strittig. Auch diese spezifisch katholische Entwicklung wird von Beutel anschaulich nachgezeichnet. Darauf behandelt er besondere Individuationen der Aufklärung (Lessing oder Lichtenberg), die Vorstellungen von Vertretern eines religiösen Antirationalismus (Hamann, Lavater und Claudius) und Metamorphosen der Aufklärung (Herder, Kant, Fichte und die Frühromantik). Der Band schließt mit einer Erörterung der Ergebnisse, die der theologische Diskurs in der Kirche und in der Theologie hatte, und einer Beschreibung der wichtigsten religiösen Debatten und Konflikte der Aufklärungszeit (z.B. die Unionsbestrebungen, die Diskussionen über den Verbindlichkeitsstatus der Bekenntnisschriften und über die Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen sowie die Auseinandersetzungen um das Woellnersche Religionsedikt).
Es ist unmöglich, die Fülle der Informationen und problemorientierten Analysen im Rahmen einer knappen Rezension zu würdigen. Beutel ist es gelungen, den überaus komplizierten kirchlichen und theologischen Diskurs im Zeitalter der Aufklärung ausgewogen und doch nuanciert darzustellen. Überzeugend erscheint vor allem der Nachweis, dass die Aufklärung innerhalb der Kirche und Theologie ein Phänomen eines Rationalisierungsprozesses war, dessen Ziel in einer zeitgemäßen Theologie bestand. Umfangreiche bibliographische Angaben zu allen Einzelthemen runden ein gelungenes Kompendium ab.
Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium (= UTB M; Bd. 3180), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 272 S., ISBN 978-3-8252-3180-4, EUR 19,90
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