Es gehört inzwischen zu den Topoi der Impressionismus-Forschung, wissenschaftshistorische Theoreme der Erklärung von Sehprozessen auf die Bildwelten impressionistischer Malerei zu beziehen. Für die Moderne haben vor allem Jonathan Crary und Christoph Asendorf gezeigt, in welcher Weise wissenschaftliche und technisch-apparative Standards an der Herausbildung visueller und skopischer Kulturen beteiligt waren. [1] Gottfried Boehm sprach angesichts veränderter, gleichsam in Bewegung geratener Seherfahrungen am Ende des 19. Jahrhunderts von einer "Krise der Wahrnehmung" und einer "kopernikanischen Wende des Blicks", die gerade in der Malerei des Impressionismus sichtbar werde. [2] Formale und motivische Brüche mit hergebrachten mimetischen und perspektivischen Darstellungsmustern, die Auflösung statischer Bildräume manifestierten letztlich das Bemühen, die Temporalität des Sehvorgangs auch malerisch zu vergegenwärtigen, Wahrnehmungs- und Bildprozess miteinander zu verschränken.
Vor dem Horizont dieser Fragestellungen bewegt sich auch die an der Freien Universität Berlin entstandene interdisziplinäre Dissertation von Annika Lamer, die dem historischen Betrachter impressionistischer Bilder über eine philologisch fundierte, tiefenanalytische Auswertung kunstkritischer Schriften näherzukommen sucht.
Im Zentrum der Arbeit stehen Kunstkritiken von Émile Zola, Joris-Karl Huysmans und Félix Fénéon. Alle drei Autoren traten als Verfechter impressionistischer Malerei schreibend gegen das offizielle akademische Pariser Kunstestablishment an. Und alle drei wählen in ihren Rezensionen häufig den Modus der Bildbeschreibung, der dazu zwang, eine dem impressionistischen Bildverständnis analoge Sprache zu entwickeln. Als Reflexion über einen Wahrnehmungsvorgang stelle die Bildbeschreibung schließlich so etwas wie eine Brücke zum Publikum dar, von der aus das "authentische Kunstleben" zu greifen sei, ein Postulat, das allerdings leicht Gefahr läuft, die soziokulturelle Rolle von Malern und Kunstkritikern und die Bedeutung künstlerischer wie literarischer Selbststilisierung zu marginalisieren.
Die französische Kunstkritik stand jüngst auch im Mittelpunkt eines ähnlich gelagerten Buchprojekts: Carla Cugini arbeitete ihre Thesen über die wechselseitigen Beziehungen zwischen Impressionismus, kunstkritischem Schrifttum, Kunsttheorie und physiologischer Optik fast zeitgleich mit Annika Lamer aus. [3] Sie wies nach, dass erst die sukzessive Infiltration mit Erkenntnissen über die Funktion der Netzhaut oder der Verarbeitung farbiger Sinneseindrücke, etwa durch Helmholtz, zu einem insgesamt besseren Verständnis impressionistischer Malerei seitens der Zeitgenossen führte. Demnach habe vor allem die Kunstkritik das Fundament für das heute allgemeingültige Denkmuster einer Allianz von impressionistischer Malerei und naturwissenschaftlichen Sehtheorien gelegt.
Lamer leugnet zwar den fundamentalen Einfluss physiologischer und optischer Theorien nicht, bringt aber eine zweite Grundidee ins Spiel: Nicht das naturwissenschaftliche, sondern ein ästhetisches Konzept von Wahrnehmung, so die These, hätte der Malerei des Impressionismus und letztlich auch den Kunstkritikern den Weg gewiesen. Dreh- und Angelpunkt der folgenden Kapitel ist John Ruskins kunsttheoretische Utopie des innocent eye. Die Figur des blind geborenen Kindes, das, plötzlich sehend, die Welt mit dem Blick des unschuldigen Auges erfährt, entspräche der impressionistischen Vorstellung von Wahrnehmung, in der das Auge, nur reticula, ohne intellektuelle Vorleistungen seine Seheindrücke empfängt. Dem ist der Blick, als mental konditionierter, entgegengestellt.
Welche Auswirkungen dieses Modell auf Malerei und Kunstkritik hatte, verfolgt Lamer in sieben Kapiteln, denen texthistorische Skizzen vorangestellt sind, die die persönlichen Verbindungen von Zola, Huysmans und Fénéon zum Impressionismus beleuchten. Die nicht immer glückliche Ordnung der text- und bildanalytischen Abschnitte rechtfertigt die Autorin mit der nicht unwidersprochenen Prämisse, impressionistische Malerei definiere sich vor allem formal; das Motiv spiele keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle. Kunstwerke und Kunstkritiken werden in bildorganisatorische Prinzipien wie "Farben", "Licht und Luft", "Raum und Fläche", "Farbauftrag und Farbfläche" sowie "Wahrnehmung und Illusion" zerlegt. Dass indes Farben und Farbauftrag, aber auch räumliche und illusionistische Bildfaktoren kaum voneinander zu trennen sind, sondern bildtechnisch eng zusammenhängen, darauf deuten nicht zuletzt die vielen in den Text integrierten Rück-, Vor- und Querverweise.
Inwieweit Zola, Huysmans oder Fénéon mit der ekphratischen Tradition brechen, zeigt sich besonders dort, wo sich Bildbeschreibungen intensiver als mit dem Bildgegenstand mit dem Farbeindruck oder den Pinselstrichen auseinandersetzen. Aufschlussreich sind jene Passagen, in denen Lamer vorführt, mit welchen Beschreibungsstrategien zur Fläche geronnene Illusionsräume zurückerobert, wie Irritationen über abbrechende Wegeführungen oder perspektivische Ungereimtheiten verbalisiert werden.
Das Bild vom unschuldigen Auge erweist sich jedoch, und das wird sehr bald deutlich, als eine im Höchstfall sporadisch verwendete Metapher, nie als philosophisch ausgearbeitete Kunsttheorie. Das bemerkt die Autorin selbst, wenn sie bei Ruskin, aber auch bei Zola, Huysmans und Fénéon und schließlich in der Malerei bei Caillebotte, Manet oder Monet Widersprüche konstatiert, die eine solche Konzeption letztlich wieder in Frage stellen.
So begreifen Zola und Huysmans den impressionistischen Bildvorwurf weiterhin als Einladung zum assoziativen Spiel mit der Wirklichkeit, Stilleben lösen Geruchsempfindungen aus, Caillebottes Fensterszene verführt zu phantasievollen Exkursen über Charakter und Lebensführung der Dargestellten - weit entfernt von dem, was auf der Leinwand tatsächlich sichtbar ist. Wenn derartige Assoziationsverfahren als Rückschritt bezeichnet werden, ist jedoch die Tatsache vernachlässigt, dass narrative Qualitäten auch nach 1850 kein alleiniges Privileg akademischer Malerei waren. Nur Fénéon erarbeitet sich einen rein formalistischen Zugang zu Degas' femmes nues, wie die Autorin im letzten Kapitel darlegt.
Die eigentliche Textanalyse orientiert sich am literaturwissenschaftlichen Verfahren des close reading, das sein Aufkommen den Möglichkeiten moderner Textverarbeitungsprogramme verdankt, einzelne Wörter oder ganze Wendungen auszuzählen. Es fällt in Anbetracht des geringen Ertrags dieses Verfahrens nicht weiter ins Gewicht, dass nur zwei Textcorpora, Zolas und Huysmans, digital vorlagen. Ein Beispiel: Die Autorin bemerkt die generelle Häufigkeit einzelner Farbwörter, Fénéon verwende außerdem überproportional häufig blau und grün, Zola dagegen schwarz und weiß. Mit Hilfe tabellarischer Statistiken wird demonstriert, dass Farbwörtern - wohl kaum eine Überraschung - in Texten über Malerei ein höherer Stellenwert zukommt, als dies in der gewöhnlichen literarischen Produktion der Fall ist. Die Dominanz bestimmter Farben erklärt sich mit den besprochenen Sujets: Zola hat sich mehrheitlich mit Stadtansichten, Fénéon mit Landschaftsbildern beschäftigt.
In der Konzentration auf nur drei Autoren und der mangelnden Kontextualisierung liegt eine der Stärken, aber auch eine der größten Schwächen des Buches, denn das, was an sprachlichen Besonderheiten bei Zola, Huysmans oder Fénéon herausgearbeitet ist, relativiert sich im Blick auf die rhetorischen Finessen französischer Kritikerkollegen. Zolas Vorliebe für das Wort "délicat", oder Huysmans Ausrufe "Hélas", schließlich auch Metaphern, in denen Farben zu handelnden Protagonisten eines kriegerischen Schauspiels werden - all dies sind rhetorische Techniken aus dem gängigen Repertoire eines kämpferischen Kunstjournalismus - kaum geeignet, einzelne Schreibstile zu charakterisieren oder voneinander abzugrenzen.
Manche der hochgesteckten Ziele geraten im Laufe der Arbeit aus dem Blickfeld; der historische Betrachter verschwindet hinter den individuellen literarischen, journalistischen oder ideellen Ambitionen einzelner Kunstkritiker. Die an sich verdienstvolle Textnähe ist zudem keine Legitimation für eine äußerst selektive Auswertung des gegenwärtigen kunstwissenschaftlichen Forschungsstandes, die besonders augenfällig wird, wenn pauschale Urteile über Fotografie, akademische Malerei und das "klassische Bild" an der postulierten Modernität impressionistischer Kunst gemessen werden. [4] Lamer tradiert auf diese Weise eine längst revidierte Auffassung von der Polarität "avantgardistischer" und "akademischer" Kunst im 19. Jahrhundert.
Anmerkungen:
[1] Jonathan Crary: Techniques of the observer. On vision and modernity in the nineteenth century, Cambridge, Mass. 1990; Christoph Asendorf: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Gießen 1984 (Weimar 22002).
[2] Gottfried Boehm: Die Intelligenz des Auges. Die Krise der Wahrnehmung im Impressionismus, in: Festschrift für Eberhard W. König zum 80. Geburtstag, Bern 2003, 107-115.
[3] Carla Cugini: "Er sieht einen Fleck, er malt einen Fleck". Physiologische Optik, Impressionismus und Kunstkritik (Dissertation Zürich 2001), Basel 2006.
[4] Vgl. Gottfried Boehms Aufsätze zum Thema, oder beispielsweise Arbeiten von T.J. Clark, Albert Boime und Michael F. Zimmermann. Literaturstand auch bei Matthias Krüger: Das Relief der Farbe. Pastose Malerei in der französischen Kunstkritik 1850-1890, München 2007.
Annika Lamer: Die Ästhetik des unschuldigen Auges. Merkmale impressionistischer Wahrnehmung in den Kunstkritiken von Émile Zola, Joris-Karl Huysmans und Félix Fénéon (= Epistemata. Würzburger Wissenschaftlicher Schriften. Reihe Literaturwissenschaft; Bd. 663), Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, 281 S., ISBN 978-3-8260-4017-7, EUR 38,00
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