Ralf Michael Fischer untersucht in der vorliegenden Studie die Konstruktion von Raum und Zeit im filmischen Werk Stanley Kubricks, der zu den bedeutendsten Regisseuren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt. Mit seiner Monographie leistet Fischer einen wichtigen Beitrag zur Kubrick-Forschung, indem er sich eines bislang vernachlässigten Themas annimmt: Der Autor betont im umfangreichen ersten Kapitel, die Filme des US-Regisseurs "sind nicht von handelnden Menschen bevölkert, sondern verorten Menschen im Raum, der sie zugleich in sich hervorzubringen, in sich aufzunehmen und abzuweisen scheint" (13-14). Von dieser Prämisse ausgehend erschließt Fischer die Konstruktion von Raum und Zeit, die "in einer unauflösbaren Wechselwirkung" zueinander stehen (14), chronologisch in Kubricks Gesamtwerk. Dabei setzt sich Fischer, wie er selbst schreibt, über immer noch in Teilen der Kunstgeschichte im Hinblick auf die Beschäftigung mit Film und anderen Elementen populärer Kultur existierende Vorurteile hinweg. Im folgenden Kapitel, das einen detaillierten Überblick über die bestehende Kubrick-Forschung, Kontroversen und Debatten bietet, liefert der Autor dann einen umfangreichen methodologischen Vorbau zu den vier sich daran anschließenden Hauptkapiteln (Kapitel 3-6).
Im Wesentlichen gelangt Ralf Michael Fischer bei seiner Analyse zu vier Hauptthesen. Als ein durchgehendes, werkimmanentes Charakteristikum der Raum- und Zeitgestaltung in Stanley Kubricks Filmen muss laut Fischer die Thematisierung von "Formen der Gefangenschaft und Grenzüberschreitungen" gesehen werden. "Damit korrespondiert zum einen die Anlage des filmischen Raums als Käfig und/oder Labyrinth und zum anderen ein Umgang mit zeitlichen Artikulationen, der von 'korsettartigen' Gleichzeitigkeitsstrukturen bis zum nahtlosen Ineinandergreifen unterschiedlicher Zeiten reicht" (16). Kubricks frühe Werke bis hin zu Dr. Strangelove, or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (1963) seien zudem von Experimenten in der Raum- und Zeitkonstruktion gekennzeichnet. Zum einen sieht der Autor hier eine Beeinflussung Kubricks durch den film noir und zum anderen durch die Tätigkeit des Regisseurs sowohl als Fotograf für das Magazin Look als auch als Dokumentarfilmer. Das dritte Kapitel befasst sich mit der Frühphase von Kubricks Œuvre und untersucht neben Dr. Strangelove Filme wie Killer's Kiss (1955), The Killing (1956), Spartacus (1960) oder Lolita (1961). Fischer gelingt es hier auf eindrucksvolle Weise aufzuzeigen, wie Kubrick durch seine fotografischen Arbeiten für Look und seine ersten Gehversuche als Regisseur von Dokumentarfilmen wie Day of the Fight (1951) oder The Seafearers (1953) seine Konzeption von Raum- und Zeitgestaltung entwickelte. Gerade in dem Unterkapitel zu Look profitiert Fischer dabei von seinem Hintergrund als Kunsthistoriker. Dieser Brückenschlag gelingt dem Autor auch in späteren Kapiteln etwa zu Barry Lyndon (1975) immer wieder (366-70).
Auf die noch sehr von Heterogenität geprägte Frühphase in Kubricks Werk folgt dann eine laut Fischer sehr viel homogenere Hauptphase, die mit 2001: A Space Odyssey (1968) beginnt und sich über A Clockwork Orange (1971), Barry Lyndon (1975), The Shining (1980) und Full Metal Jacket (1987) bis hin zu dem auf Arthur Schnitzlers Traumnovelle basierenden Eyes Wide Shut (1999) erstreckt. Während der Autor im vierten Kapitel eine detaillierte Analyse von 2001: A Space Odyssey vorlegt, widmet er sich im daran anschließenden Kapitel den anderen oben genannten Filmen in kompakterer Form. Am Ende seiner Untersuchung kommt Fischer zu dem Schluss, Kubrick habe "Im Zuge seiner kohärenten wie offenen Raum- und Motivverflechtungen in Eyes Wide Shut [...] ein letztes Mal die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen Individuum und Allgemeinheit aufgeworfen, indem er seine Protagonisten durch das Labyrinth des vertrauten Fremden und des fremden Vertrauten irren lässt." In viel deutlicherer Form als in früheren Werken demonstriere Stanley Kubrick in Eyes Wide Shut "die Erfahrung der Unabwägbarkeiten und Ungewißheiten der menschlichen Existenz, indem er die Narration in ein discontinuum aus Raum und Zeit auflöst" (474-75). Dieses "discontinuum", so Fischer, habe Kubrick aus dem von ihm ja in seiner Frühphase stark in Anspruch genommenen film noir in der Hauptphase seines Werkes weitergeführt und -entwickelt. Dieser Sachverhalt konstituiert eine weitere, dritte These Fischers und leitet zu seinem vierten Hauptpunkt über, nämlich "ein[em] Ästhezismus bzw. Hermetismus, der als umfassender Ausdruck von Agnostizismus und Skeptizismus zu deuten ist." Dabei, so der Autor, veranschaulichen Kubricks Filme "keine mythologischen, religiösen, philosophischen, naturwissenschaftlichen oder historischen Erklärungsmodelle, sondern sie verweigern deren Ansprüche auf Allgemeingültigkeit und Gewissheit, indem sie ihre Inhalte evozieren, ohne die damit vollzogenen Sinnstiftungsangebote einzulösen" (16).
Abgerundet wird das Buch durch ein sechstes Kapitel, das sich mit Steven Spielbergs posthumer Verfilmung des Kubrick Projektes Artificial Intelligence (2001) auseinandersetzt. Hier gelingt es Fischer in eleganter Form, das Nachleben von Kubricks Werk zu untersuchen. Im Anschluss daran folgt eine umfangreiche Schlussfolgerung, die die Ergebnisse nochmals zusammenfasst und einen Ausblick bietet. Im Allgemeinen untermauert Fischer seine Thesen überzeugend und bietet dem Leser eine Vielzahl von Abbildungen, um seine Argumente anschaulich darzustellen. Zudem enthält das Buch die Sequenzprotokolle der besprochenen Filme.
Fischers insgesamt sehr überzeugende Studie weist jedoch kleinere Schwächen auf, die gerade im Bereich der Kontextualisierung einzelner, besprochener Filme liegen. Auch wenn der Autor einer "neoformalistischen Filmanalyse" (27-32), d.h. einem formorientierten Untersuchungsmodell folgt, hätte die Analyse in einigen Fällen sowohl von einer stärkeren Einbettung einzelner Filme in ihren Gesamtkontext als auch von mehr intertextuellen Vergleichen - etwa im Fall von Dr. Strangelove - profitiert. Während Fischer das Verhältnis von Raum und Zeit in Kubricks dunkler Atomkriegssatire im Detail analysiert und auf den von Ken Adam entworfenen War Room im Pentagon hinweist, wäre hier ein stärker komparatistisch angelegter Ansatz von Nutzen gewesen. So fehlen etwa Hinweise auf ähnliche, von Adam geschaffene Set Designs wie Dr. Nos Hauptquartier im gleichnamigen James Bond Film (1962). Neben Adams Kulissen erscheint der fehlende Verweis auf Sideney Lumets Spielfilm Fail-Safe (1964) geradezu als frappierend. Nicht nur erschien der Film zeitgleich zu Dr. Strangelove und behandelte ebenso das Thema eines durch einen Unfall ausgelösten Atomkrieges bzw. dessen Abwendung, sondern der Großteil der Handlung spielte sich auch in einem Kommandobunker ab. Hier wäre ein intertextueller Vergleich beider Filme erhellend gewesen. An anderen Stellen im Buch, etwa im Falle von Full Metal Jacket, erfolgen derartige Kontextualisierungen wie etwa vor dem Hintergrund des Vietnam-Kriegsfilm-Genres (420, besonders Fußnote 339). Diese Kritikpunkte sind aber insgesamt als geringfügig anzusehen verglichen mit dem Beitrag, den Fischers Buch zur Kubrick-Forschung leistet.
Ralf Michael Fischer: Raum und Zeit im filmischen Œuvre von Stanley Kubrick (= Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst; Bd. 7), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2009, 627 S., ISBN 978-3-7861-2598-3, EUR 89,00
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