In einem Text über die Physiognomie der Landschaft von 1885 bis 1886 schrieb Ferdinand Hodler: "Eine Landschaft muss Charakter haben, eine Leidenschaft oder eine Gefühlsbewegung ausdrücken." [1] Dass die Landschaft über eine Physiognomie und Gefühle verfüge, vertrat auch der in Hodlers Wahlheimat Genf Ästhetik und Literatur lehrende Henri-Frédéric Amiel in seinem 1883 veröffentlichten Journal mit dem für die Künstlergeneration des späten 19. Jahrhunderts notorisch gewordenen Satz: "Un paysage quelconque est un état de l'âme". [2]
Der zweiteilige erste Band des von Oskar Bätschmann und Paul Müller besorgten, auf vier Bände angelegten Catalogue raisonné der Gemälde Ferdinand Hodlers ist ausschließlich den Landschaftswerken (einschließlich Tierstücken) des Künstlers gewidmet. Mit dieser Grundsatzentscheidung für eine Ordnung nach dem Gattungsprinzip setzen die Herausgeber einen deutlichen neuen Akzent in der Hodlerforschung, indem sie die lange gegenüber den international erfolgreich ausgestellten Figurenbildern vernachlässigten Landschaften des Künstlers - Fritz Burger hatte sogar für seinen Vergleich zwischen Hodler und Cézanne aus dem Jahr 1913 nur die Figurenbilder herangezogen [3] - zu ihrem eigenen Recht verhelfen. Die Besprechung zusammengehöriger Motivgruppen wird so vereinfacht und es werden "Serien" erkennbar. Besonders spannend ist dies bei Motiven, die Hodler wiederholt aufgreift, wie die Gemälde des Thunersees mit Bergmassiven von 1887/1888 (Kat. 150-154), von 1904 (Kat. 305-308) und zwischen 1905 und 1909 (Kat. 393-395). Hier wird deutlich, wie der Künstler durch eine Suche des idealen Standorts und Bildausschnitts den symmetrischen Charakter der beidseitig des Sees aufragenden Bergmassive und ihrer Spiegelungen zu erfassen sucht und ihn sukzessive durch formale Synthese zuspitzt. Auch für die Datierung einiger strittiger Fälle erweist sich das Ordnungsprinzip nach Gruppen als günstig, da diese nun teilweise einer spezifischen Kampagne zugeordnet werden können (Vgl. Kat. 340-348, insbesondere die nun alle auf Frühjahr 1907 datierten Werke Schnee im Engadin, Kat. 340-342). In der Konzentration auf die Landschaftsgemälde kann zudem die Entwicklung von den frühen, vedutenhaften Landschaften zu den späteren, die Hodler von aller Staffage befreit und einer auffälligen Symmetrie unterwirft, schrittweise nachvollzogen werden.
Der einführende Beitrag, den die Herausgeber in aufeinander folgenden Unterabschnitten wechselweise verfasst haben, bereitet bestens auf eine solche Nahsicht durch die Analyse der Arbeitsprozesse des Künstlers vor. So beleuchtet Oskar Bätschmann Hodlers künstlerisches Programm, Paul Müller die enorme Bedeutung des gewählten Standortes, den der Künstler genauestens auf den gewünschten Bildausdruck und eine möglichst symmetrische Komposition hin ausgerichtet hat, ebenso wie die Bedeutung der Leinwandgröße, die Hodler häufig zugunsten der Bildwirkung modifiziert hat. Bätschmann analysiert Hodlers Einsatz von Licht und Farbe und stellt sein Werk in einen weiteren Kontext künstlerischer Entwicklungen seiner Zeit. Hodlers eigene Positionierung verdeutlicht Müller anhand seiner Ausstellungspraxis und seiner Verkaufsstrategie.
Der Katalogteil, den neben den beiden Herausgebern vier weitere Mitarbeiter des Schweizer Instituts für Kunstwissenschaft verfasst haben, ist eine höchst gelungene Verbindung von profunder Grundlagenforschung (einschließlich Provenienz, Literatur- und Ausstellungslisten aller Werke) und Analyse und weiß dies zudem mit einer mühelosen Handhabbarkeit zu verbinden. Dies betrifft die chronologische Anordnung mit der Gruppierung der "Serien", denen eine kurze, zusammenfassende Einleitung vorangestellt ist. Dies betrifft aber auch die großzügige Entscheidung, alle Werke, bis auf die mit fraglicher Zuschreibung im Anhang, in einer hohen Qualität farbig abzubilden. Ebenso trägt das Layout zur Übersichtlichkeit bei, indem hier auf den ersten Blick die stets oben stehenden, teils auch ganzseitig abgedruckten katalogisierten Werke von den in den Katalogeinträgen (ebenfalls farbig) abgedruckten Skizzen und Vergleichsabbildungen geschieden werden können und zusammenfassende Einträge farbig und typographisch abgesetzt sind. Hilfreich sind zudem die Anhänge mit Ausstellungs- und Literaturliste, Biografie und Konkordanz zwischen Archiv- und Katalognummern sowie zu dem ersten vierbändigen Werkkatalog von Carl Albert Loosli von 1921 bis 1924 und dem Band zu Hodlers Landschaftswerken von Werner Müller (jeweils noch nahezu ohne Abbildungen). [4] Ein Kartenteil, in dem Hodlers Wohnorte und Ateliers in Genf und seine Standorte für die verschiedenen Kampagnen dargestellt sind, sowie ein Index runden diesen ersten, zweiteiligen, Band ab. Zusätzlich zu dem Katalog vergibt das Schweizerische Institut für Kunstwissenschaft auch Zugangsrechte für eine Datenbankversion des Katalogs, die nicht so anschaulich ist wie die Papierausgabe, die allerdings durch Stichwort- oder Titelsuche ein wertvolles Forschungsinstrument an die Hand gibt, mittels dem die Werke auch anders gruppiert werden können als im gedruckten Katalog. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, in diesem Band bereits die wichtigsten Schriften des Künstlers zur Landschaftsmalerei, wie etwa die oben erwähnte abzudrucken, doch offenbar bleibt dies dem vierten und letzten Band überlassen, der den Dokumenten gewidmet ist und der 2016 den Œuvrekatalog abschließen soll. Liegt der gesamte Katalog dann (in einer immerhin erstaunlich raschen Erscheinungsdichte) vor, mit den Bildnissen und Selbstbildnissen im zweiten (2012), den Figurenbildern im dritten (ebenfalls zweiteiligen) (2015), und dem vierten Band, so wird diese Einschränkung jedoch nicht weiter ins Gewicht fallen.
Dank der Konzentration kann Hodlers Landschaftswerk unabhängig von seinen symbolistisch sprechenden Figurenbildern gesehen werden - was ihm durchaus zum Vorteil gereicht. Es schält sich so das Bild eines Künstlers heraus, der sich streng an das Naturvorbild hält, ja sogar - wie Oskar Bätschmann zeigen kann - mit wissenschaftlichem Interesse an der geologischen Beschaffenheit des Gesteins. Eines Künstlers aber auch, der zunehmend seine Kompositionen auf zugrundeliegende Symmetrien zurückführt, die er der Kunst wie der Natur entnimmt und somit deren Einheit erweist. Statt diese Gegensätze wie bisher durch einen künstlerischen Reifungsprozess zu erklären, indem ein "realistischer Frühstil" von einen "symbolistischen Spätstil" geschieden wurde [5], werden sie hier als zwei Seiten einer malerischen Suche nach Naturdurchdringung erkennbar. Und statt Hodler als Seelen- oder Gedankenkünstler darzustellen [6], versuchen die Herausgeber aus der Analyse seiner Verfahrensweisen das Bild einer spezifischen "künstlerischen Intelligenz" (49) zu gewinnen. Diese neue Einordnung ist außerordentlich geglückt: Ebenso wie es durch die erstmalige erschöpfende Präsentation von Hodlers Landschaftswerk in der Breite gelungen ist, einen neuen Blick auf Hodler als Landschaftsmaler anzuregen, ist es in der Tiefe gelungen, ein Verständnis für die eigenständigen künstlerischen Strategien dieses Werkkomplexes zu erwecken. Hodlers Landschaften haben Physiognomie und Gefühl, ohne notwendig subjektiv zu sein. Als Amalgame eines wissenschaftlichen, ästhetischen, emotionalen und metaphysischen Blicks sind sie nicht allein Paradebeispiele einer "nordischen Romantik", wie Rosenblum dies diagnostizierte. [7] Sie sind Produkte einer "künstlerischen Intelligenz", die sich darin auch mit denen solcher Zeitgenossen wie Georges Seurat, Paul Gauguin oder Paul Cézanne vergleichen lassen.
Anmerkungen:
[1] Ferdinand Hodler: Physiognomie der Landschaft, heute verlorengegangenes Manuskript, bislang vollständig einzig in englischer Übersetzung publiziert: Jura Brüschweiler: Physiognomy of Landscape (1885-1886?), in: Ferdinand Hodler, Ausst. Kat. Berkeley, University Art Museum, 1972-1973, 111f., Kommentar 112f. Hier zitiert nach Guido Magnaguagno: Landschaften. Ferdinand Hodlers Beitrag zur symbolistischen Landschaftsmalerei, in Ferdinand Hodler, Ausst. Kat. Berlin und Zürich, Bern 1983, 309-320, 311.
[2] Henri-Frédéric Amiel: Fragments d'un journal intime (1883), 2 Bde., Genf 1915, Eintrag vom 31. Oktober 1852, 62.
[3] Fritz Burger: Cézanne und Hodler. Einführung in die Probleme der Malerei der Gegenwart, München 1913.
[4] Carl Albert Loosli: Ferdinand Hodler. Leben, Werk und Nachlass, 4 Bde., Bern 1921-1924; Werner Y. Müller: Die Kunst Ferdinand Hodlers, Bd. 2: Reife und Spätwerk, Zürich 1941.
[5] Hans Mühlestein und Georg Schmidt: Ferdinand Hodler - Sein Leben und sein Werk, Erlenbach / Zürich 1942, 436-462; Peter Dietschi: Der Parallelismus Ferdinand Hodlers. Ein Beitrag zur Stilpsychologie der neueren Kunst, Basel 1957; kritisch dazu: Magnaguagno (wie Anm. 1).
[6] John Rewald: Post-Impressionnism, New York 1978, 151-152; Robert Goldwater, Symbolism, New York 1979, 241; vgl. dazu: Stephen F. Eisenman: Ferdinand Hodler und die Landschaft des Wesentlichen, in: Ferdinand Hodler. Landschaften, Kat. Ausst. Wight Art Gallery, University of California, Los Angeles u. a., hg. von Oskar Bätschmann / Stephen F. Eisenman / Lukas Gloor, Zürich 1987, 9-23. Magnaguagno (wie Anm. 1) konstatiert ein antinomisches Nebeneinander von Idealismus und Realismus.
[7] Robert Rosenblum: Die moderne Malerei und die Tradition der Romantik. Von C. D. Friedrich zu Mark Rothko [London, 1975], München 1981, 129-136.
Oskar Bätschmann / Paul Müller: Ferdinand Hodler: Catalogue raisonné der Gemälde. Band 1: Die Landschaften, Zürich: Verlag Scheidegger & Spiess 2008, 2 Bde., 628 S., 950 Abb., ISBN 978-3-85881-244-5, EUR 420,00
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