Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen Bischof Moritz Mitzenheim und der "Thüringer Weg", d.h. die besondere Entwicklung dieser Kirche in der Zeit der DDR. Dazu werden einleitend der historische Kontext geschildert, sowie der Wiederaufbau der Landeskirche nach 1945. Kennzeichnend für Thüringen waren die Schaffung einer einheitlichen Landeskirche erst nach dem Ersten Weltkrieg, ein starker theologischer Liberalismus sowie die frühe und radikale Hinwendung zum Nationalsozialismus, wozu auch die Bemühungen um eine konfessionsübergreifende Nationalkirche gehörten. Die Lutherische Bekenntnisgemeinschaft entstand 1934. Mitzenheim gehörte zunächst zu den Deutschen Christen (DC), der Bekenntnisgemeinschaft trat er 1936 bei. Die kirchliche Entnazifizierung vollzog sich dann auch in Thüringen ausgesprochen schonend. Die meisten ehemaligen Deutschen Christen blieben im Amt.
Den Hauptteil der Arbeit bilden die Kapitel 4 (Die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Staat und Landeskirche 1949-1958/59) und 5 (Der "Thüringer Weg" - eine kirchenpolitische Sonderposition). Während der Verfolgung der Jungen Gemeinde und der Studentengemeinden durch die FDJ, die SED und staatliche Organe verteidigte Mitzenheim die jungen Christen gegen die falschen Anschuldigungen. Nicht berichtet wird hier allerdings, dass er - anders als seine Amtskollegen - 1953 nicht um Verständnis für die Aufständischen warb, sondern nach der Niederschlagung des Volksaufstands die Ausschreitungen scharf verurteilte und für die Normalisierung der Verhältnisse mitsamt der Forderung eines starken Staates eintrat.
Bei der Jugendweihe überschätzten alle Kirchen in der DDR ihre Stärke. Die Einsicht in die bittere ideologische und politische Realität nötigte sie dann, zurückzurudern. Die Unmöglichkeit, innerhalb der EKD zu einer einheitlichen Regelung der Konfirmation zu kommen, zwang die evangelischen Kirchen in der DDR, jeweils eigene Lösungen zu suchen. In Thüringen wurden dann diejenigen, die zur Jugendweihe gingen, konfirmiert, wenn sie es ernsthaft wünschten. Bei Mitzenheim spielte der Gesichtspunkt eine Rolle, dass es sich bei der Jugendweihe nun um eine allgemeine staatliche Einrichtung handelte.
Bei der "Loyalitätserklärung" der Kirchen am 21. Juli 1958 gegenüber dem Staat handelte es sich keineswegs um einen Alleingang Mitzenheims. Die Vertreter der evangelischen Kirchen berieten sich seit Wochen über diese Frage, bei den Verhandlungen spielte dann der pommersche Bischof Krummacher eine entscheidende Rolle. Doch bei der Beurteilung des Kommuniqués gingen die Deutungen weit auseinander. Mitzenheim unterstrich nachdrücklich den Erfolg des Unternehmens und wollte auch weiterhin nur Positives sehen. Das war gewiss einseitig, jedoch nicht völlig falsch, weil das Regime Mitzenheim und seiner Kirche aufgrund dieser Haltung in vielen Einzelheiten demonstrativ entgegenkam. Dass der Bischof dadurch faktisch die Zielsetzung der SED unterstützte, die Front der Kirchenführer aufzuspalten, fiel für ihn offenkundig nicht ins Gewicht.
Was sah Mitzenheim, was konnte und wollte er sehen? Die Autorin belegt, in welchem Ausmaß er zunehmend von seinem juristischen Dezernenten Gerhard Lotz abhängig wurde. Reicht diese Erklärung zum Verständnis des Verhaltens von Mitzenheim aus? Daneben wird eine theologische Begründung angeboten, die allerdings falsch genannt werden muss. Die lutherische "Zwei-Reiche-Lehre" basierte sehr viel weniger auf Luther, als auf dem Neuluthertum des 19. Jahrhunderts. Die traditionelle theologische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium setzte dabei ein doppeltes Verständnis des göttlichen Gesetzes voraus: Einmal bildete es die Norm für das gesellschaftliche Zusammenleben. Zum andern diente es, in einem vertieften, theologischen Sinn betrachtet, als Hinweis auf die Fehlbarkeit des Menschen, gemessen an den radikalen Forderungen der Bergpredigt. Gottes Gesetz bildete also den logischen und theologischen Zusammenhang zwischen den "Zwei Reichen". Dabei ist zu betonen, dass es sich dabei nie um eine dogmatische "Lehre" handelte. Diese Formulierung entstammte zudem der Polemik der Gegner des konfessionellen Luthertums. Sie zielte auf die problematische Veränderung des Gesetzesverständnisses im Neuluthertum im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Um sozialethisch konkret argumentieren zu können, wurde das im Dekalog zusammengefasste Gesetz Gottes ausgeweitet mit so genannten Schöpfungsordnungen: Ehe und Familie, Staat - dann auch Volk und Rasse. Sie galten als Konkretionen des Dekalogs und mithin als Gottes Gesetz, dem alle Menschen zu gehorchen hatten, Christen ebenso wie Heiden. Nicht die im Protestantismus (und Katholizismus!) allgemein akzeptierte Gehorsamspflicht nach Römer 13 bildete also das Problem, sondern jene Ausweitung des Gesetzesbegriffes. Nachdrücklich erwähnt werden muss dabei, dass es hierbei nie um einen bedingungslosen Gehorsam ging, dass vielmehr stets der Gehorsam gegenüber Gott die Grenze des irdischen Gehorsams bildete. Allerdings folgte aus solchem Widerspruch nicht das Recht zum politischen Widerstand. Der Christ musste in einem solchen Fall laut und öffentlich protestieren - dann aber auch bereit sein, für dieses Verhalten zu leiden.
In dieser Tradition stand Mitzenheim. Die nationalsozialistische Verfolgung der Juden fiel, entsprechend der in den Schöpfungsordnungen gegründeten Aussagen über die Rassenfrage, für den lutherischen Christen in die Verantwortung des Staates. Die Diskriminierung der "nichtarischen Christen" dagegen durfte nicht hingenommen werden, weil sie in den Bereich des Evangeliums eingriff, in dem durch die Taufe rassische Unterschiede keine Rolle mehr spielen durften. Die SED griff nicht oder jedenfalls nicht eindeutig in den Bereich der kirchlichen Lehre ein, weshalb es hier vertretbar erschien, der DDR im Blick auf Volk und Staat weit entgegen zu kommen. Richtig ist also, dass Mitzenheim seine theologische Position nicht verändert hat. Ob der "Thüringer Weg" jedoch darum primär das Werk der SED war, erscheint mir nicht ebenso klar.
Insgesamt stößt die Arbeit überall da auf klare Grenzen, wo es theologisch, aber auch historisch über die Grenzen Thüringens hinausgeht. Einige Beispiele müssen genügen: Dibelius akzeptierte keineswegs das Kommuniqué "ohne Vorbehalte" (223f.). Die SED wollte keinen eigenen evangelischen Kirchenbund in der DDR, sondern lebte gut mit ihrer Differenzierungspolitik; und niemals hoffte sie, mit Adenauer zu einer Wiedervereinigung im sozialistischen Sinn zu kommen (282).
Die Darstellung ist breit angelegt und reich an Wiederholungen. Eine Reihe von Sätzen ist wohl dem Computer zufolge unvollständig, auch unverständlich. Und was soll man dazu sagen, dass die Stuttgarter Schulderklärung vor einer "ökonomischen" Delegation abgegeben wurde (83)? Zusammengefasst: Die Studie informiert ausführlich über die Entwicklung der evangelischen Thüringer Kirche, vor und nach 1945. Sie durchleuchtet die verschiedenen theologischen und kirchenpolitischen Gruppierungen in dieser Kirche, erhellt insbesondere die Aktivitäten der Personen, die mit der SED sowie der Stasi kooperierten. Deutlich wird dabei auch, dass Pragmatik und Politik eine viel größere Rolle spielten als die Theologie. Offen bleibt jedoch zuletzt, in welchem Verhältnis bei Mitzenheim das Nicht-Wissen-Wollen und das tatsächliche Nicht-Wissen über die Verhältnisse in den evangelischen Kirchen in der DDR stand.
Christine Koch-Hallas: Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen in der SBZ und Frühzeit der DDR (1945-1961). Eine Untersuchung über Kontinuitäten und Diskontinuitäten einer landeskirchlichen Identität (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte; Bd. 25), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009, 420 S., ISBN 978-3-374-02687-6, EUR 48,00
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