sehepunkte 10 (2010), Nr. 11

Otfrid Pustejovsky: Christlicher Widerstand gegen die NS-Herrschaft in den Böhmischen Ländern

Im August 2005 fasste die tschechische Regierung den Beschluss, in einem breit angelegten Projekt das Schicksal derjenigen deutschen Bürger der Tschechoslowakei zu erforschen, die sich seit 1938 gegen den Nationalsozialismus und gegen die nationalsozialistische Okkupation der böhmischen Länder gestellt hatten. Das im Jahr 2008 abgeschlossene Vorhaben stellt in Publikationen und Ausstellungen ihr Verhalten gegenüber der Diktatur sowie ihr Schicksal in der Nachkriegszeit dar. Ein großer Teil der Betroffenen wurde in der wiedererrichteten Tschechoslowakei formal als "Antifaschist" eingestuft. Die meisten von ihnen mussten, wenn auch überwiegend unter besseren Bedingungen als der Großteil der deutschen Bevölkerung der böhmischen Länder, nach 1945 das Land verlassen.

In dem genannten Projekt wurde vornehmlich das Schicksal von Sozialdemokraten, zum Teil auch von Kommunisten deutscher Nationalität erforscht. Aus wissenschaftlicher Perspektive lag dies aus zwei Gründen nahe. Zum einen war diese Personengruppe durch den Quellenzugang relativ leicht zu erfassen, da der Status eines Antifaschisten nach Kriegsende vornehmlich an Sozialdemokraten und Kommunisten deutscher Nationalität verliehen worden war. Zum anderen, und das ist in gewisser Hinsicht eine der Ursachen für den ersten Grund, waren Sozialdemokraten und Kommunisten unmittelbar vor wie auch nach dem Münchener Abkommen die Einzigen, die sich als organisierte Gruppen grundsätzlich gegen den Nationalsozialismus stellten und deswegen auch nach dem Einmarsch der deutschen Truppen verfolgt wurden.

Otfrid Pustejovsky kritisiert in der vorliegenden Publikation für das Gesamtbild der Geschichte des Widerstands in den böhmischen Ländern die fehlende Perspektive auf den christlich bzw. konservativ motivierten Widerstand (11). Sein als Bestandsaufnahme verstandener Band möchte diese Lücke schließen und zugleich zu weiteren Forschungen anregen. Dabei stützt er sich auf eigene Archivstudien, bereits vorliegende Publikationen zu einzelnen Lebensläufen sowie auf schriftliche Einsendungen von Zeitzeugen und deren Nachfahren, die auf einen Zeitzeugenaufruf der Ackermann-Gemeinde, der katholischen Gemeinschaft vertriebener Sudetendeutscher, zurückgehen.

Ein Abgleich von Titel und Inhalt verdeutlicht bereits zwei grundlegende Schwächen des Bandes. Zum einen suggeriert der Titel eine Perspektive, die christlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus in den böhmischen Ländern insgesamt berücksichtigt, in der Umsetzung erfolgt allerdings konfessionell eine Beschränkung auf Angehörige der katholischen Kirche, ethnisch finden allein Angehörige deutscher Nationalität Berücksichtigung. Zum anderen, und dies ist mit Blick auf Struktur und Aussage des Bandes noch wichtiger, erfolgt keine Definition, was unter "christlichem Widerstand" zu verstehen ist. Gefragt wird weder nach Hintergründen und Motivationen nonkonformen Handelns noch nach Zielsetzungen. Dabei hat die umfassende Beschäftigung mit gegen die nationalsozialistische Herrschaft gerichteten Handlungen und Haltungen in den letzten Jahrzehnten deutlich gemacht, wie wichtig ein Blick auf Hintergründe und Motivationen für spontane Resistenz oder geplanten Widerstand ist. Es kann freilich nicht darum gehen, das Verhalten Einzelner relativieren zu wollen. Vielmehr steht dahinter die Frage nach der Herrschaftspraxis einer Diktatur wie auch nach Prozessen von Anpassung und Ablehnung in der Bevölkerung. Auch der Begriff "christlich" wird nicht ausgeleuchtet. Handelte es sich bei den geschilderten Fällen um christlich motivierte Fundamentalkritik am System oder lässt sich bei zahlreichen Beispielen nicht auch eine verbreitete Form der Milieuresistenz feststellen, bei der es um den Schutz kirchlicher Traditionen und Interessen im Rahmen des Systems ging? Die fehlende theoretische Auseinandersetzung mit dem Widerstandsbegriff führt im vorliegenden Band z.B. dazu, dass ohne Kontextualisierung im Kapitel über "Umrisse, Inhalte und Formen" des Widerstands zu lesen ist: "den netzförmigen 'Schnüffeleien' wurde geradezu listig durch Parteieintritt in die NSDAP begegnet." Entgegen dem Forschungsstand erklärt der Autor damit "z.T. auch die enorm hohe Mitgliederzahl an Parteimitgliedern in den Sudetengebieten" (71).

Der Band gliedert sich in vier Teile, wovon der erste Teil am interessantesten ist. In ihm setzt sich der Autor unter anderem kritisch mit dem Geschichtsbild der Sudetendeutschen auseinander, in dem teilweise bis zum heutigen Tag der Einmarsch der deutschen Wehrmacht und die im direkten Anschluss daran beginnende Verhaftung von Regimegegnern und die Verfolgung der Juden als "Befreiung" verstanden werden. Darauf folgt der zweite Teil, in dem unterschiedliche Formen des Widerstands dargestellt werden. Der dritte Teil stellt Biografien von Menschen vor, die sich gegen die nationalsozialistische Herrschaft gestellt haben und deswegen verfolgt wurden. Im vierten Teil finden sich schließlich abgedruckte Dokumente, Statistiken und Karten.

Ablehnung gegen die nationalsozialistische Herrschaft zu zeigen oder gar Widerstand zu organisieren, war im "Sudetengau" wie auch in den anderen an das Deutsche Reich angegliederten, mehrheitlich deutsch besiedelten Regionen der zerstörten Tschechoslowakei tatsächlich eine besonders schwierige Angelegenheit. Bereits seit dem Frühjahr 1938 hatte die deutsche Bevölkerung der Tschechoslowakei, forciert durch die Sudetendeutsche Partei, einen Prozess der Selbstgleichschaltung vollzogen. Neben der Selbstauflösung bürgerlicher Parteien und Verbände (darunter auch der katholischen Kirche nahe stehender Gruppen) führte dies bereits zum aggressiven Vorgehen gegen Juden, Tschechen und politisch Andersdenkende. Für organisierten Widerstand oder Formen der Resistenz bot diese Entwicklung zusammen mit der Anschlusseuphorie nach dem Münchener Abkommen und der raschen, nicht zuletzt durch sudetendeutsche Nationalsozialisten unterstützten Machtdurchsetzung des nationalsozialistischen Regimes denkbar schlechte Bedingungen. Widerstandsaktivitäten Einzelner wie auch Formen der Ablehnung im Alltag, wie sie sich tatsächlich zum Teil im kirchlichen Milieu zeigten, und ihre Einordnung in den Kontext der Geschichte des Protektorats, des Sudetengaus und der weiteren an Deutschland angegliederten Gebiete sind in der Tat ein noch nicht ausreichend bearbeitetes Thema. Der vorliegende Band, in dem leider zahlreiche Tipp- und Formatierungsfehler auffallen, bietet hierzu Anregungen und Diskussionsstoff, ohne seine eigene Zielsetzung einlösen zu können.

Rezension über:

Otfrid Pustejovsky: Christlicher Widerstand gegen die NS-Herrschaft in den Böhmischen Ländern. Eine Bestandsaufnahme zu den Verhältnissen im Sudetenland und dem Protektorat Böhmen und Mähren (= Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert; Bd. 18), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2009, 296 S., ISBN 978-3-8258-1703-9, EUR 29,90

Rezension von:
Martin Zückert
Collegium Carolinum, München
Empfohlene Zitierweise:
Martin Zückert: Rezension von: Otfrid Pustejovsky: Christlicher Widerstand gegen die NS-Herrschaft in den Böhmischen Ländern. Eine Bestandsaufnahme zu den Verhältnissen im Sudetenland und dem Protektorat Böhmen und Mähren, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 11 [15.11.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/11/19039.html


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