In dieser prachtvollen, reich bebilderten Ausgabe liegt die von Andreas Wittenburg kongenial übersetzte deutsche Fassung von Alain Schnapps 1993 erschienenem Werk "La conquête du passé. Aux origines de l'archéologie" (Paris, Éditiones Carré) vor. Der Autor, Professor für Archäologie der Universität Paris I, sieht die Auseinandersetzung mit den Relikten des Gewesenen zu Recht im Zentrum menschlichen Denkens: "Die Vergangenheit ist ein Fragment dessen, was sich ereignet hat, oder, wie die Inder sagen würden, eine 'Schuld', die die Menschen der Gegenwart an ihre Vorgänger bindet, ohne dass sie sich dessen immer bewusst sind." (9)
Nicht von ungefähr verweist Schnapp in seinem Vorwort auf Indien: Obschon sich das Buch in seinem Kern auf europäische Texte und Personen vom 13. bis zum 19. Jahrhundert bezieht, zeigt der Verfasser in Einleitung, erstem Kapitel und Fazit durch eine Gegenüberstellung abendländischer mit asiatischen Quellen auf, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte gemeinsamen Kriterien unterliegt. In allen Kulturen, so Schnapp, werden Orte der Erinnerung im Sinne Pierre Noras geschaffen, dienen Relikte vorangegangener Epochen der Rechtfertigung dynastischer Kontinuität und der historischen Legitimation der Nachgeborenen - oder es sind schlicht "Schätze", die es dem Boden zu entreißen gilt. Eine "zweckfreie" Betrachtung zur Befriedigung wissenschaftlicher Neugier ist vor allem in Antike und Mittelalter kaum zu verzeichnen. Dennoch werden, mit Herodot und vor allem Thukydides, in der Antike die Grundlagen einer historischen Methode gelegt, die eine analytische Sichtung der Vergangenheit auf der Basis der erhaltenen Texte und Artefakte vornimmt, zwischen Historikern und Antiquaren unterscheidet (73) und damit den frühneuzeitlichen Antiquaren den Weg weist.
Mit dem Siegeszug des Christentums wurden die Relikte der Vergangenheit mit dem Stigma des Heidnischen versehen und nicht selten der Zerstörung überlassen. An die Stelle der Geschichtsschreibung war Hagiografie getreten, die primär eine "Säuberung" bzw. eine religiös akzeptable Umdeutung der Relikte anstrebte. Im Rahmen der so genannten mittelalterlichen Renaissancen unter Karl dem Großen und sodann den Ottonen änderte sich dies: Aufgrund des translatio imperii-Gedankens an einer Anbindung an die römisch-kaiserliche Vergangenheit interessiert, wurden Spolien in eigene Bauten integriert und das Kunstschaffen orientierte sich verstärkt an antiker Kunst.
Ein grundsätzlicher Wandel in der Beschäftigung mit den Hinterlassenschaften der Geschichte setzt jedoch das Differenzbewusstsein zwischen der eigenen Zeit und der Vergangenheit voraus. Dieses etablierte sich bekanntermaßen zunächst in Italien mit Petrarca und Bocaccio, die sich langsam einer Autopsie des Gewesenen zuwandten. Im 15. Jahrhundert schließlich traten eine Reihe von Persönlichkeiten - z.B. Cyriacus von Ancona und Enea Silvio Piccolomini - auf, die begannen, sich intensiv mit Texten und Monumenten der Vergangenheit zu beschäftigen und die eigene Anschauung gegenüber der auctoritas des Textes favorisierten.
Im zweiten Teil seines Werkes charakterisiert Schnapp "Das Europa der Antiquare", das sich zunächst im Rom des 16. Jahrhunderts zu konstituieren begann (Flavio Biondo, Pirro Ligorio) und von Wissendurst wie Sammelfieber gleichermaßen motiviert wurde. Immer deutlicher rückte dabei der Gegenstand anstelle des Textes ins Zentrum des Interesses. Bedauerlich ist, dass der Autor hier kaum auf die Ende des 16. Jahrhunderts einsetzende systematische Erforschung frühchristlicher Überreste eingeht, die in zahlreichen publizistischen Großprojekten resultierte wie Baronios Annales ecclesiastici (1588) oder Bosios Roma sotteranea (1632). Denn eine Beleuchtung solcher Werke hätte ein weiteres movens in der Auseinandersetzung mit der Antike gezeigt: dass anhand greifbarer Artefakte die Wahrhaftigkeit der frühen Kirchenüberlieferung (vor allem gegenüber protestantischen Zweiflern) und damit zugleich die Legitimation der apostolischen Nachfolge belegt werden sollte.
Diese Publikationen trugen zu einer Popularisierung der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bei, die sich bald als einer der Kernpunkte in der République des lettres etablierte, wie Schnapp am Beispiel des Universalgelehrten Nicolas Fabri de Peiresc zeigt. Spannend sind seine Ausführungen zum Beginn systematischer Grabungen und Forschungen in England, Deutschland und vor allem Skandinavien.
Auch wenn die Funde - oft auf der Suche nach der nationalen Vergangenheit studiert - in vielen Fällen fehlgedeutet wurden, weist der Autor in seiner Untersuchung skandinavischer Altertumsforschungen interessante und höchst moderne Ansätze nach: Dort hatten die Gelehrten weder mit einer etablierten (antiken) Texttradition zu kämpfen, die zunächst in Frage gestellt werden musste, noch wurden sie in vergleichbarem Maße von der religiösen Überzeugung einer biblischen Chronologie gehindert wie ihre südeuropäischen Kollegen. Schnapp zeichnet die Autopsie der Quellen sowie den Versuch des Dänen Ole Worm, ein Regelwerk der archäologischen Aufnahme und Rekonstruktion zu erstellen, ebenso nach, wie die von Christian IV. von Dänemark erlassenen ersten Kulturschutzmaßnahmen (1622; 194), die Arbeit Olof Rudbecks, der in seinem kuriosem Versuch, Atlantis in Schweden zu lokalisieren, erste Ansätze zu einer Bodenstratigrafie vorlegte (220-223), oder die Publikationen des Dänen Jen Jacob Worssae, der im 19. Jahrhundert das Konzept der Frühgeschichte "erfunden" hat (325-327).
Die in ganz Europa betriebenen Grabungen stießen immer wieder auf prähistorische Relikte, die zunächst als Überreste der Kelten, Römer oder der Völkerwanderungszeit missdeutet wurden. Der Grund hierfür lag in der weitgehenden Akzeptanz der Bibel als Maßstab der Chronologie und der daraus resultierenden Überzeugung, dass die Naturgeschichte und die Menschheitsgeschichte keine Analogien aufweisen könnten. Schnapp widmet diesem fast anderthalb Jahrhunderte sich hinziehenden Ringen das vierte Kapitel seiner Abhandlung und zeigt wie die Chronologie der Vergangenheit trotz vereinzelter Vorstöße seit dem 16. Jahrhundert auf der Stelle trat: So sah sich Isaac Lapeyrère, Leibarzt des Prinzen von Condé, der 1655 eine "Vorgeschichte" des Menschen, des sog. "Prä-Adamiten", vorlegte, infolge dessen einem Häresieprozess ausgesetzt. Er schwor seinen Thesen, in Gegenwart von keinem Geringeren als dem Antikensammler und Kunstmäzen Barberini, zwei Jahre später ab (241-255). Seine Überlegungen trafen jedoch in Skandinavien und England auf fruchtbaren Boden.
Datierung, Klassifizierung und Kontextualisierung wurden immer drängendere Fragen - auch in Frankreich, wo im 18. Jahrhundert die Arbeiten Montfaucons und vor allem des Comte de Caylus große Fortschritte erzielten, indem sie Ansätze zu einer Typologie der Artefakte vorlegten. Diese griff sodann Johann Joachim Winckelmann auf, der in seinen Schriften den entscheidenden Schritt vom Antiquar zum Archäologen vollzog und damit auch die Basis für die wissenschaftliche Kunstgeschichte legte.
Im fünften Kapitel, "Die Erfindung der Archäologie", stellt Schnapp nochmals die Problematik der Chronologie ins Zentrum und belegt, dass die im 19. Jahrhundert vollzogene Akzeptanz des hohen Alters des Menschen den letzten entscheidenden Schritt zu einer wissenschaftlichen Basis des neuen akademischen Faches Archäologie bot, die sich so von der Philologie emanzipieren konnte: die Einsicht, dass Natur- und Menschheitsgeschichte parallel verlaufen. Die in den vorangegangenen Jahrhunderten von den Antiquaren zusammengetragenen Einzelfakten wurden schließlich in die drei methodischen Säulen "Typologie, Technologie und Stratigraphie" gebunden, welche bis heute eine wichtige Basis (nicht nur) archäologischer Forschung darstellen (311-317).
Dem zusammenfassenden Fazit folgt der umfangreiche Anhang: den Endnoten, die zumeist auf den Nachweis wörtlicher Zitate beschränkt sind, schließt sich eine instruktive Auswahl von übersetzten "Texten zur Archäologie" an, die mittels eines gesonderten Inhaltsverzeichnisses erschlossen werden und Äußerungen einzelner, im Buch bereits vorgestellter Autoren entnommen sind (360-405). Die Bibliografie ist weniger an den Spezialisten gerichtet und gegenüber der Originalausgabe von 1993 leider kaum aktualisiert. [1] Ein benutzerfreundliches Personenregister schließt das Buch ab.
Alain Schnapps Buch ist ein Wissenschaftsschmöker im besten Sinne, der sich stellenweise so spannend wie ein Krimi liest. Obschon primär an den kulturell interessierten Laien adressiert, gibt es auch für Geisteswissenschaftler viel zu entdecken - beispielsweise die Signifikanz skandinavischer Antiquarik. Nicht zuletzt wartet das Buch mit einer opulenten Bebilderung auf, die rein wissenschaftliche Literatur aus Kostengründen in der Regel weder quantitativ noch qualitativ vorweisen kann. Wie wichtig eine solche umfassende Illustrierung ist, demonstrieren die mit eigenen Kommentaren sinnvoll ergänzten Abbildungen in Schnapps Buch: Sie erreichen die Form eines parallelen Diskurses zum Text und unterstreichen somit indirekt den Primat des Objekts, der im Zentrum der Argumentation steht.
Anmerkung:
[1] Es fehlen z.B. die neueren Arbeiten von Peter Burke: Eyewitnessing. The Uses of Images as Historical Evidence, Ithaca 2001; ders.: Image as Evidence in Seventeenth-Century Europe, in: Journal of the History of Ideas 64 (2003), 2, 273-296 oder Anthony Grafton: The Antiquary as Pariah, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 62 (1999), 241-267; ders.: Bring out your Dead. The Past as Revelation, Cambridge, Mass., 2004; ders.: What was History? The Art of History in Early Modern Europe, Cambridge 2006.
Alain Schnapp: Die Entdeckung der Vergangenheit. Ursprünge und Abenteuer der Archäologie, Stuttgart: Klett-Cotta 2009, 424 S., ISBN 978-3-6089-3359-8, EUR 39,90
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