Da werden Erinnerungen lebendig. Deshalb stehen zwei durch die Lektüre des Bandes evozierte Erinnerungsstücke am Anfang. Das erste: Vor einigen Jahren durfte ich anlässlich des Stiftungsfests eines Bischöflichen Theologenkonvikts den akademischen Festvortrag halten. Inhaltlich ging es um die Geschichte eben jenes Konvikts, nicht zuletzt um die Ursachen und näheren Umstände seiner Gründung in den 1850er Jahren. Naturgemäß lag ein besonderes Gewicht auf den Intentionen der Initiatoren. Ausweislich einer Quelle waren diese - von mir als 'Hardliner' bezeichneten Geistlichen - der Meinung, ob das Konvikt den Vorgaben des Trienter Konzils entspreche oder nicht, sei gänzlich egal, es müsse einfach in bestimmter Absicht gegründet und strukturiert werden. Nach dem Vortrag erklärte ein jüngerer Kleriker, es sei doch entsetzlich. Warum habe es denn nur in seinem Heimatbistum so lange gedauert, bis endlich die Vorgaben des Trienter Konzils zur Seminarerziehung des Priesternachwuchses erfüllt wurden? Ein älterer Geistlicher, der in jüngeren Jahren einen (für zeitgenössische Verhältnisse teilweise deutlich kritischen) Beitrag zum Verhältnis von tridentinischer Norm und Priesterausbildung geschrieben hatte, lächelte resigniert und ließ müde die Schultern sinken. Das zweite: Eine der während meiner Studienzeit manchmal recht hitzig geführten Diskussionen über Zustand und Lehre der katholischen Kirche hatte sich festgelaufen. Da man einander persönlich wohl gesonnen war, ging es darum, einen versöhnlichen Abschluss zu finden. Einer der sonst eher konservativen Kombattanten erklärte nachdenklich, auch die Kirche im Allgemeinen und der Papst im Besonderen machten schon Fehler. So sei die Stellung in Fragen der Sexualmoral - das Stichwort "Humanae Vitae" fiel - eindeutig nicht richtig. Danach könne das eigene Handeln insbesondere als junger Mensch nicht ausgerichtet werden, obgleich der Papst in der Enzyklika sehr schöne Worte über den Charakter der menschlichen Liebe finde.
Man sieht es wohl: Der Schreiber dieser Zeilen ist katholischer Theologe, und, wie er gern hinzufügt, mit Leidenschaft Historiker, und, wie er hinzufügen zu sollen meint, Nichtkleriker, d. h. Laie. Seine Perspektive auf die Erinnerungsorte des Christentums ist mehr von spezifisch katholischen Traditionen und eigenen Erfahrungen geprägt, als er es sich vor der Lektüre des in vielfachem Sinne schön geratenen Bandes hätte vorstellen können und zugestehen mögen.
Zunächst "Trient". Wie der Verfasser des Artikels (Günther Wassilowsky) generell konstatiert, wird im kirchlich-katholischen Raum im "Medium der Erinnerung an Ereignis und Ergebnis eines Konzils [...] Sinn konstruiert, gemeinsame Identität fundiert, künftiges Handeln motiviert." (396) So habe eine ganze Klerusgeneration Berufungsentscheidung, priesterliches Selbstbild und seelsorgliche Praxis im Blick auf das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) definiert. Das Zweite Vatikanum war für diese Generation Bedingung der Möglichkeit einer besseren, weil den katholisch-christlichen Grundwerten und den Forderungen der Zeit mehr entsprechenden Zukunft. Demgegenüber war und ist für andere Kleriker, und darunter sind nicht wenige jüngere, immer noch und wieder neu das Trienter Konzil (1545-1563) der Bezugspunkt. Hier seien die wahren katholischen Prinzipien kodifiziert worden, und über Jahrhunderte habe eine entsprechende Ausrichtung von Lehre und Praxis zum Erfolg des kirchlichen Lebens beigetragen. Das müsse beibehalten werden, und deshalb müssten bestimmte, mit und nach dem Zweiten Vatikanum eingeführte Dinge korrigiert werden. Die Lefebvrianer etwa nahmen darüber auch eine grundlegende Entzweiung in Kauf. Für alle jedoch, gleichviel ob sie sich auf das Zweite Vatikanum oder Trient beziehen, ist "das Konzil von Trient ein Hort der Gegen-Moderne" (396).
Nur war das Trienter Konzil eben dies genau nicht. Aus vielerlei Perspektiven hat die (kirchen-) historische Forschung beschrieben, wie "das Tridentinum und seine Erinnerungsgeschichte als Faktoren innerhalb eines fundamentalen Modernisierungsprozesses [zu] begreifen sind, der die europäische Gesellschaft und Politik in der Frühen Neuzeit erfasst und schließlich zur Entstehung des modernen Staates beigetragen hat." (410) Für den Klerus z. B. lässt sich zeigen, wie die tridentinische Verknüpfung von sakramentaler Weihe und guter Lebensführung langfristig konstitutiv für die Reichweite klerikaler Einflussnahme vor Ort und mittelbar verantwortlich für die modernisierende Reglementierung der Ansichten und Praktiken von Laien war. Erst im 19. Jahrhundert wurde "Trient" zum Hort gegen alle Neuerungen erhoben und diente als Legitimationsbasis für das Bild der Kirche als vollkommene Gesellschaft, die unbeeinflusst von den Zeitläufen keine Entwicklung mehr kennt, sondern nur noch ihr durch die Moderne zugefügte äußere Schicksale erleidet. Außerdem war das Zweite Vatikanum zwar wohl in vielerlei Hinsicht anders als das Trienter Konzil oder gar das Erste Vatikanum (1869-1870). Vom Selbstverständnis her und mit direktem Bezug auf Trient war es jedoch ein Konzil mit ähnlicher Intention wie Trient, es wollte in der "Gegenwart aggiornamento, ein radikales Eingehen der Kirche auf die Zeichen der Zeit, kurz: Modernisierung von Kirche." (412) Die Schlussfolgerung, es sei für den heutigen "historisch informierten Zeitgenossen [...] die Erinnerung an das Konzil von Trient sehr authentisch in der Erinnerung des Zweiten Vatikanums aufgehoben" (412), und es brauche, wer Trient treu sein wolle, keine tridentinische Messe zu feiern, ist schlicht der Sache angemessen. Diese Arbeit an diesem "Erinnerungsort des Christentums" hat in bestem Sinne aufklärenden Charakter.
"Humanae Vitae" - mit dieser Wortkombination verbinden auch die meisten Nichttheologen etwas, nicht selten fallen Worte wie "Pillenpaul", "Herrschaft über die Leiber" oder "Freiheit statt Kirche". Wenn es ein übergreifendes gesellschaftliches Bewusstsein geben sollte, dann steht "Humanae Vitae" dafür, wie fern vom heutigen Leben der Menschen und ihren Problemen das kirchliche Lehramt sei. Und genau das war die Absicht des päpstlichen Verfassers - nicht wie die Menschen aktuell leben, sondern was die christliche Wahrheit sei, müsse Maß aller Dinge sein. In Norbert Lüdeckes gut konzipiertem und geschriebenem Artikel über die 1968 publizierte Enzyklika wird dies mit Bezug auf den größeren historischen Kontext rekonstruiert. Dramatik und Bedeutung des Geschehens werden sprachlich angemessen dargestellt. Denn: "Es geht um alles" (534) - das zeigen die Anfangsworte des Rundschreibens, nach denen es wie andere päpstliche Enzykliken bezeichnet wird, und das zeigen die Ausführungen des Verfassers. Das engere Thema der Enzyklika ist zwar die Empfängnisverhütung, im weiteren Sinne geht es jedoch um den "Vorrang des Sozialen vor dem Individuellen" (540), es "sollte das Individuum in seiner Disposition völlig entzogenen Ordnungszusammenhängen gehalten und so vor Selbstzerstörung bewahrt werden." (538) Seit dem 19. Jahrhundert wurden in dieser Absicht "Kirche und Familie [...] zu Parade- und Partnerinstitutionen." (538) Denn bei aller Dichte des seelsorglichen Netzes, des Vereinswesens, des Lebens im Rhythmus der Glocken konnte die Weitergabe des Glaubens nur in einer in bestimmtem Sinne katholisch geprägten Familie gelingen. Aus Sicht des Lehramts war dieser Zusammenhang gottgegeben, unabänderlich und der Schauplatz schlechthin im "Kampf um die Wahrheit."(546) Der selbstkreierten Logik nach kann es in dieser Frage keine Kompromisse geben. Und zwar unabhängig davon, wie die Praxis der Mehrzahl der Katholikinnen und Katholiken aussieht, unabhängig davon, ob auch unter ansonsten Treuen in dieser Frage eine Grundhaltung praktiziert wird, für die sich in den USA die Bezeichnung 'Cafeteria-Christentum' gefunden hat.
Im Artikel über "Humanae Vitae" finden sich weiterführende Perspektiven und illustrative Einzelfunde. So etwa, wenn in einem im ursprünglich im "Osservatore Romano", dann in Übersetzung in der "Deutschen Tagespost" veröffentlichten Kommentar zur Enzyklika geraten wird, die Gläubigen sollten ohne Widerspruch folgen, wie die Soldaten im letzten Weltkrieg, die ja auch einfach die Befehle ihrer Offiziere ohne Kenntnis der großen Strategie ausgeführt hätten. Entscheidend ist jedoch, dass sich im Artikel methodisch fundierte, sachlich informierte Anregungen für die notwendige Weiterentwicklung der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung finden. Dringend ist die Frage nach neuen und eigenständigen Analyseansätzen, die sich freilich nur im Zusammenhang mit der Bearbeitung bestimmter Themen werden entwickeln lassen.
Im Blick auf das in den letzten etwa 20 Jahren dominierende Forschungsparadigma wäre in weiterführenden Untersuchungen zu fragen, was nach dem Abschied vom Milieu bzw. seinem Verfall kam. Zugespitzt formuliert: Die Abschieds- und Verfallsrhetorik kann trügerisch sein. Wie im Artikel gezeigt wird, ist vielmehr eine gewisse Stabilisierung eingetreten. Paul VI. und seine Nachfolger haben keinesfalls einen durchgängig konfrontativen Kurs gefahren. Es seien zwar disziplinarische Maßnahmen eingesetzt worden. Zugleich sei aber der Kurs der deutschen Bischöfe, die in einer vielbeachteten Erklärung 1968 die Freiheit der Gewissensentscheidung als vereinbar mit der Lehre zu bezeichnen schienen, toleriert worden. Diese hätten gerade durch die Vermeidung einer weiteren Eskalation eine irreparable Beschädigung ihrer Autorität vermieden und Zeit für Befriedung und kirchliche Einhegung gewonnen. Das klingt nach der Fortschreibung bisheriger Verhältnisse. Und so sieht es auch der Verfasser des Artikels. Es bleibt aber zu fragen, wie z. B. in den Diskursen um die Enzyklika vielleicht religiöse Semantiken entstanden, die eben jenes angesprochene Auswahlchristentum und damit eine andere Sozialform von Christentum legitimierten.
Nicht alle der in den Erinnerungsorten des Christentums versammelten Beiträge sind so anregend oder weiterführend wie die Artikel "Trient" und "Humanae Vitae". Wären sie es oder wäre auch nur der Versuch in eine solche Richtung gegangen, hätte der Band freilich ein anderes Gesicht und würde kaum das bildungswillige Publikum im deutschsprachigen Raum derart leicht erreichen, wie es wohl die Absicht von Herausgebern und Verlag ist. So wie die Dinge stehen, dürfte dies gelingen, zumal der Band als repräsentatives Weihnachtsgeschenk fungieren kann. Die Beschenkten finden unter den drei Großabschnitten "Zentralorte", "Reale Orte" und "Übertragene Orte" 44 Artikel vor, die jeweils alphabetisch angeordnet sind. Die Reise geht von "Bethlehem" nach "Wittenberg", von "Altötting" nach "Trient", von der "Bibel" zu den "Vereinen". Dazwischen finden sich u. a. "Genf", "Jerusalem" und "Rom", "Bethel", "Leipzig" und "Taizé", "Christusbilder", "Kreuz" und "Pfarrhaus".
Ob es dabei Lücken zu verzeichnen gäbe, den Herausgebern etwa vorgehalten werden kann, "ihre Auswahl sei zu subjektiv, mancher Beitrag setze einen falschen Akzent und wichtige Orte seien ganz und gar vergessen worden?" (726) Selbstverständlich. Über die Aufnahme zweier nordwestdeutscher Orte - Emden und Münster - hätte man ebenso beraten und positiv befinden können wie über die übertragenen Orte "Klerus" oder "Reliquien". Und: Wäre nicht nach "Sankt Martin I" (von Hubert Wolf) und "Sankt Martin II" (von Christoph Markschies) das Lemma "(Kirchen-)Historiker I und II" möglich gewesen? Gleichwohl ist es den Herausgebern gelungen, eine Vielzahl von Orten zu identifizieren, "die konfessionsübergreifend [...] einen Kernbestand christlicher Erinnerungskultur ausmachen." (727) Es gibt viel zu erfahren, es ist wohl sogar "ein Kompendium christlicher Erinnerungskultur" (727) entstanden. - Und dennoch gibt es Unterschiede in der Qualität und Durchführung. Manche gelungenen Artikel wie jener über "Montecassino" beinhalten eine themenorientierte Reflexion über die allgemeine Thematik 'Erinnerungsorte'. Das musste so sein, denn die Modi des kollektiven Gedächtnisses sind im Mittelalter andere als etwa im 19. Jahrhundert. Andere Artikel bieten überaus plastische, auch sprachlich hervorragende Darstellungen des Themas, wie zum Beispiel diejenigen über "Bethlehem" und "Taizé". Manchmal mag es auch falsche Sachinformationen geben, wenn etwa im Artikel über "Nationalsozialismus und Kirchen" nahe gelegt wird, es sei eine neue Erkenntnis der Forschung, der spätere Papst Pius XII. habe nicht im Nationalsozialismus, sondern im Kommunismus die Hauptgefahr gesehen. Atemlosigkeit verursachte die Lektüre des Artikels über "Rom", die aber durch Lektüre desjenigen über "Wittenberg" behoben werden konnte. In schöner konfessioneller Eintracht nehmen zwei hochrangige Vertreter ihrer Kirchen (Walter Kasper und Wolfgang Huber) ihren Gegenstand zum Anlass nachdenklicher Meditation. Dabei ist der Optimismus des Protestanten (Freiheit eines Christenmenschen!) doch größer als der des Katholiken (Katakomben! Märtyrer!).
Nicht zu beneiden sind die Autoren einiger Artikel im Teil "Übertragene Orte", die eher oder sogar sehr dicht an die Gegenwart heranführen. Denn es geht um vergehende Größe. Manche lösen die Aufgabe eher sachlich distanziert wie im Artikel "Vereine" (Urs Altermatt), andere spiegeln dann doch die - Verzeihung - angesprochene Problematik ihres Gegenstandes wider, wie z. B. "Christliche Politik" (Antonius Liedhegener). Mit gutem Recht lässt sich wohl argumentieren, eine "faktisch breite Aufnahme des christlichen Menschenbilds ins politische Denken Deutschlands ist Teil der Erfolgsgeschichte der Stabilisierung der zweiten deutschen Demokratie." (443) Ja, aber die Bereitschaft zur Aufnahme hat doch einen längeren Vorlauf, so dass vielleicht einige Sätze über christliche Politik im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Kontext der deutschen Geschichte angebracht gewesen wären. Und selbst wenn mit Ernst-Wolfgang Böckenförde "der demokratische Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann" (442), wäre doch die Frage, ob die Rolle der Kirchen als kritische Wegbegleiter im politischen System Deutschlands nicht langfristig zur Auszehrung eben jener Voraussetzungen führt. Aber das ist womöglich eine Frage, die sich mit den Mitteln historischer Forschung erst mit einigem Abstand beantworten lassen wird.
Ein Diktum in katholischen Kreisen, vielleicht in den 1980er Jahren geprägt, lautete sinngemäß: Sobald eine Fronleichnamsprozession mehr Zuschauer als aktive Teilnehmer aufzuweisen habe, werde sie sinnlos. Dokumentiert das Erscheinen der Erinnerungsorte des Christentums ein strukturähnliches, aber ungleich gewichtigeres Phänomen? Christentum ist im Kern eine "Erinnerungsreligion" (15), also auf in vielfacher Weise gelebte Erinnerung angewiesen. Die Herausgeber des Bandes meinen zwar, "daß es zu weit führen würde, undifferenziert von einem flächendeckenden, abrupten Traditionsabbruch des Christentums in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu sprechen", aber dennoch scheine Deutschland "sein christliches Gedächtnis zu verlieren" (14). Das klingt finster. Doch es gibt historisch begründete Hoffnung - siehe den Hinweis auf Luther (18 f.) sowie die Artikel "Assissi" und "Taizé" -, und zwar auf die "Eigendynamik des kollektiven Gedächtnisses", auf die Überwindung kirchlich-konfessioneller Reglementierungen von Erinnerung, auf den "Eigensinn" (24) christlicher Erinnerung als einer Verlebendigung des Ursprungs. Glückauf denn, und keine Sorge, liebe Leserin, lieber Leser, es droht vermutlich keine unmittelbare Gefahr, durch die Lektüre dieses Erinnerungskompendiums zum neuen Franziskus, Luther oder Roger Schutz zu werden. Doch wer weiß?
Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hgg.): Erinnerungsorte des Christentums, München: C.H.Beck 2010, 800 S., 126 Abb., ISBN 978-3-406-60500-0, EUR 38,00
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