Die Beziehung zwischen den Ideen der europäischen Aufklärung und der Entstehung von Kolonialismus und Imperialismus ist in einer Vielzahl von Studien für unterschiedliche kulturelle Räume gründlich erforscht worden. Tibet als Ziel imperialer Träume wurde bisher aber nur selten untersucht, wohl deshalb, weil es an den Rändern der großen europäischen Imperien lag. Das vorliegende Werk macht die Peripherie zum Zentrum und rückt Tibet in den Mittelpunkt der Analyse. Der Autor verspricht sich von einer solchen "corner-of-the-eye perspective" (12) tiefere Einsichten über die Zusammenhänge zwischen Aufklärung und Imperialismus. Er fragt in der Einleitung, ob die Ideen der Aufklärung tatsächlich einen entscheidenden Einfluss auf die sich herausbildenden imperialen Ideologien ausübten. Die Beantwortung dieser Frage verfolgt er in diachroner Perspektive und einem mikrohistorischen Zugriff: Er konzentriert sich auf zwei Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Epochen, zum einen auf George Bogle, der im Auftrag der East India Company 1774/75 nach Westtibet reiste, zum anderen auf Francis Younghusband, der 1904 die britische "Expedition" nach Lhasa anführte. Beide Akteure gehörten nicht zu den führenden Intellektuellen ihrer jeweiligen Epoche, sondern waren im Handel, als Diplomaten und Soldaten aktiv. Können wir in den von ihnen hinterlassenen Dokumenten Einflüsse der zeitgenössischen Intellektuellendiskurse ausmachen, und wie bestimmten diese ihre Wahrnehmung der fremden Kulturen? Stewart geht in seinem Werk einer ganzen Reihe von Aspekten nach, die mit dem imperialen Projekt verbunden waren, von Wirtschaft und Politik bis hin zu kulturellen Vorannahmen und sexuellen Beziehungen zwischen Kolonialherren und den Kolonisierten.
Das Werk ist in sechs Kapitel unterteilt. Die ersten drei Kapitel behandeln Bogle und seine Tibetreise im Jahr 1774/75. Gegenüber der 2006 erschienenen Monographie von Kate Teltscher (The High Road to China. George Bogle, the Panchen Lama and the first British expedition to Tibet, London) enthält dieser Teil wenig Neues. Zudem ist Teltscher in Bezug auf tibetologisches Detailwissen ungleich präziser. Stewart widmet ein Kapitel der mysteriösen Bibi Bogle, bringt jedoch keine neuen Fakten (die hatte schon Hugh Richardson 1982 zusammengetragen), sondern bettet diese Episode in Bogles Leben verdienstvollerweise in den größeren Kontext der Genderbeziehungen im kolonialen Kontext ein. Das vierte Kapitel konzentriert sich auf Younghusband. Stewart arbeitet hier die kulturellen Vorannahmen heraus, die in den Beschreibungen Younghusbands zutage treten und einen Paradigmenwechsel in der Bewertung des asiatischen "Anderen" anzeigen. Während Bogles Schilderungen einer unbekannten Kultur von Neugier und einer gewissen neutralen Distanz geprägt sind, durchziehen Younghusbands Berichte abwertende Urteile über die Primitivität der Tibeter.
Im fünften Kapitel werden die Berichte von Bogle und Younghusband miteinander verglichen. Stewart zeigt auf, wie sehr die in der Aufklärung entwickelten Klassifikationsschemata auch vermeintlich neutrale Beobachter wie Bogle prägten und in die Wahrnehmung des asiatischen "Anderen" einflossen. Die sich im 19. Jahrhundert verändernde britische Wahrnehmung asiatischer Völker, die nicht mehr als ebenbürtig, sondern als minderwertig angesehen wurden, führt Stewart auf den zunehmenden Evangelikalismus in der britischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zurück.
Im letzten Kapitel ordnet Stewart die britischen Reaktionen auf Bogles und Younghusbands Tibet-Berichte in die "westliche" Rezeptionsgeschichte Tibets als Shangri-La hinter dem Himalaya ein. Darüber hinaus geht er der Frage nach, welche Spuren Bogles Besuch in Tibet selbst hinterlassen hat. Hierfür bezieht er sich auf den berühmten "Wegführer nach Shambhala" des 3. Panchen Lama, den er in der ungenügenden Übersetzung von Albert Grünwedel zitiert. Auch dieses Thema hat schon Teltscher behandelt (High Road to China, 140). Stewart portraitiert den Panchen Lama als tibetischen "Aufklärer". Die Parallelisierung von Aufklärung und buddhistischer Weltsicht verfehlt allerdings ihr Ziel, verschiedene Arten von "Aufklärung" als gleichwertig zu etablieren. Stattdessen schreibt sie die Dichotomie vom säkularen "Westen" und spirituellem "Osten" fort. In asiatischen Regionen wurde demnach Religion zur Legitimierung imperialer Agenden genutzt, im "Westen" übernahm diese Rolle die Aufklärung (258). Hier wäre es sinnvoll gewesen, sowohl asiatische staatspolitische Theorien einzubeziehen als auch die impliziten religiösen Fundierungen der europäischen Aufklärung herauszuarbeiten. Die Dichotomie Westen = Aufklärung (Rationalität, Säkularität etc.) versus Osten = Religion hätte sich dann schnell aufgelöst.
Es ist für Historiker eine besondere methodische Herausforderung, über Regionen zu arbeiten, deren Sprachen sie nicht beherrschen und deren schriftliche Hinterlassenschaften sie nicht lesen können. Dessen ist sich Stewart wohl bewusst. Er hat sich in den ihm fremden Forschungskontext eingearbeitet, aber teilweise auf überholte Fachliteratur wie die Werke von Tsepon Shakabpa zurückgegriffen. An der Bruchstelle zwischen geschichts- und asienwissenschaftlichem Fachdiskurs weist das Werk seine größten Schwächen auf. Falsche Übersetzungen aus dem Tibetischen (22), der Gebrauch veralteter und längst als europäische Konstrukte entlarvter Begriffe wie "Dhyani Buddha" (22) oder "lamaist Buddhism" irritieren ein wenig. Leider finden sich auch altbekannte Tibet-Stereotypen, wie z.B. die Interpretation des Verhältnisses zwischen Tibet und China während der Qing-Zeit als ausschließliche "'patron-client' - relationship", eine Interpretation, die inzwischen als rezente, exil-tibetische Neuinterpretation dekonstruiert worden ist.
Weitere Schwächen zeigen sich in der Behandlung der Geschichte Tibets. Stewart suggeriert, dass Tibet einen singulären, nicht genau geklärten Sonderstatus im Qing-Reich innehatte ("[...] while the Chinese claimed authority over Tibet they knew that it was not simply another province within their empire", 256). Wie die mongolischen Regionen war auch Tibet dem Lifan yuan, "Amt für die Verwaltung der Außengebiete", zugeordnet. Es war tatsächlich keine "Provinz" Chinas, sondern gehörte zu den "Außenregionen" des Reichs. Sein Status war damit im Rahmen der Qing-Administration genau bestimmt. Die koloniale Politik der mandschurischen Qing-Dynastie ist in den letzten Jahren intensiv erforscht worden. Stewart greift jedoch für die wenigen Hinweise zur Qing-Politik gegenüber Tibet allein auf Philipp Forêts Studie zu Chengde, der Sommerresidenz der Qing-Herrscher, zurück. Die Wahl erscheint wenig einsichtig, da es sich um eine geographische Studie handelt, deren Analyserahmen entsprechend limitiert ist.
Hinsichtlich der beiden Tibetmissionen von Bogle und Younghusband bietet der vorliegende Band keine neuen Informationen. Sein Verdienst liegt vielmehr in der Einordnung der Missionen in den größeren kulturgeschichtlichen Kontext von Aufklärung und Imperialismus. Es gelingt dem Autor, am Beispiel von fast hundertfünfzig Jahren britischer Tibet-Politik die vielfältigen Verflechtungen aufklärerischer Ideen und Wissensordnungen mit imperialen Legitimierungsstrategien und politischen Agenden offen zu legen. Hier leistet das Buch einen Beitrag zur aktuellen Debatte.
Gordon T. Stewart: Journeys to Empire. Enlightenment, Imperialism, and the British Encounter with Tibet, 1774-1904, Cambridge: Cambridge University Press 2009, XV + 280 S., ISBN 978-0-521-73568-1, GBP 18,99
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