Die Arbeit von Gisela Miller-Kipp stellt in erster Linie ein Handbuch der insgesamt 39 zwischen 1815 und 1942 im preußischen Regierungsbezirk Düsseldorf existierenden jüdischen Volksschulen dar. Auf der Grundlage eines umfassenden Literatur- und Archivstudiums widmen sich fast zweihundert Seiten des Buches der jeweiligen Schulbeschreibungen. Anhand der Kategorien Soziokulturelle Lage, Lokalität, Institution, Größe, Schüler, Lehrer, Schulraum, Curriculum / Unterrichtsmaterial / Schulische Leistung, Schulleben, Gesellschaftliches Profil und Historische Funktion versucht Miller-Kipp weitestgehend schematisch, die spezifischen Charakteristika der einzelnen Schulen herauszuarbeiten (71-269). Hierbei gelingt es der Autorin, eine Vielzahl von verstreut liegenden Informationen zum jüdischen Volksschulleben aus zwei Jahrhunderten zusammenzutragen. Neben Angaben zu Schülern und Lehrern finden sich hier beispielsweise vereinzelte Anekdoten über innerschulische bzw. innergemeindliche Konflikte, über patriotische Feiern im Kaiserreich und über den Schulalltag allgemein.
Da Miller-Kipp gleich zu Beginn bewusst auf eine "historiographische Formalisierung" verzichtet und stattdessen den Fokus auf die "historische Individualität und Realität" legt (2), ist in den wenigen generalisierenden Ausführungen der Arbeit freilich wenig Neues zu lesen. Rein numerisch betrachtet folgte einer Boomphase zwischen den Jahren 1816 und 1869, ein "kontinuierlicher, gleichwohl in sich noch sprunghafte[r] Niedergang" bis 1942 (12). Verantwortlich für den Niedergang der jüdischen Volksschule zeichnete vor allem der zunehmende Akkulturationsprozess. Der zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Düsseldorfer Regierungsbezirk vorherrschende Typus der jüdischen Landgemeinde verschwand sukzessive. Die sich verbürgerlichende urbane jüdische Bevölkerung suchte aber mehr und mehr die Bildungs- und Aufstiegschancen nicht-jüdischer Schulen auf.
Dass Miller-Kipp die sozioökonomische Lage des jüdischen Volksschullehrers noch zum Beginn des 20. Jahrhunderts als skandalös beschreibt, reiht sich in entsprechende Bewertungen zeitgenössischer Darstellungen wie auch in die historiographische Literatur der letzten Jahrzehnte ein. [1] Da die Autorin eine Tabelle mit Einzelbeispielen ausgewählter Lehrergehälter der Jahre 1821 bis 1922 in die Studie aufgenommen hat (274-279), wäre an dieser Stelle ein Vergleich dieser Zahlen mit denen evangelischer oder katholischer Volksschullehrer, oder auch anderer Berufsgruppen hilfreich gewesen. Die Umrechnung in heutiger Kaufkraft überzeugt dagegen wenig, zumal die der Umrechnung zugrundeliegende Internetseite zum Zeitpunkt der Rezension nicht mehr aufzufinden war.
Interessant ist Miller-Kipps Hinweis darauf, dass die Geschichte der jüdischen Volksschulen ein "Fragezeichen in das historische Narrativ von der besonderen Bildungsnähe der Juden in Deutschland" zu setzen vermag (341f.). Tatsächlich kann die Autorin anhand diverser Beispiele belegen, dass jüdische Volksschulen im Prinzip mit ähnlichen Problemen und Mängeln zu kämpfen hatten, wie evangelische und katholische. Zwar ist es vor allem die Bildungsforscherin und weniger die Historikern, die die gesellschaftliche Selektionsfunktion der jüdischen Volksschule kritisiert (342). Allerdings weist Miller-Kipp zu Recht darauf hin, dass das kulturliberale jüdische Bürgertum frühzeitig begonnen hatte, der jüdischen Volksschule den Rücken zu kehren. Dadurch sei die jüdische Volksschule jedoch weniger Vehikel, als vielmehr Katalysator des Akkulturationsprozesses gewesen - "an ihr entschieden sich Bildungsoptionen für oder gegen einen Anschluss an die deutsche Kultur" (339).
Die Arbeit von Miller-Kipp, die sich neben Historikern, Archivaren und Studenten auch an "schul- und kulturgeschichtlich interessierte Laien" wendet (3), wird dem Leser vor allem bei der Verfolgung eigener weiterführender Fragestellungen helfen. Sowohl die Schulbeschreibungen, als auch vor allem das 27 Seiten umfassende archivalische Bestandsverzeichnis bieten zukünftigen Forschern wertvolle Einstiegsmöglichkeiten. Dabei ist es zu bedauern, dass die Autorin selbst auf weiterführende Analysen ihres Materials verzichtet hat. Neben den knappen Ausführungen zu den Lehrern, einigen Anekdoten zum Schulalltag und dem Verhältnis der jüdischen Gemeinden zur Volksschule, hätten eigene übergreifende Analysen zum Schulbesuch, zum Schulcurriculum, zum Verhältnis zu den nicht-jüdischen Schulen, zum innergemeindlichen Konflikt zwischen Liberalen und Orthodoxen sowie zwischen Einheimischen und zugewanderten "Ostjuden" usw. die Arbeit zusätzlich aufgewertet.
Zuletzt stellt sich zudem die Frage, inwieweit eine Publikation einer derartigen Studie als Buch heutzutage überhaupt noch zeitgemäß ist. Eine Veröffentlichung als "echte" Datenbank in elektronischer Form hätte einerseits den Zugriff auf die umfassenden Informationen der 39 Schulbeschreibungen erleichtert und andererseits die Zahl ihrer potentiellen Nutzer erheblich verbreitert. Dass eine elektronische Form der Veröffentlichung offensichtlich nicht in Betracht genommen wurde, ist freilich nicht der Autorin vorzuwerfen. Stattdessen stellt die Fixierung auf das gedruckte Buch generell ein die Verwendung geschichtswissenschaftlicher Expertise hemmendes Ärgernis dar.
Anmerkung:
[1] Andreas Brämer: Leistung und Gegenleistung. Zur Geschichte jüdischer Religions- und Elementarlehrer in Preußen 1823/24-1872, Göttingen 2006, 245ff. Vgl. z.B. auch Rainer Bölling: Sozialgeschichte des deutschen Lehrer. Ein Überblick von 1800 bis zur Gegenwart, Göttingen 1983.
Gisela Miller-Kipp: Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte. Die jüdische Volksschule im Regierungsbezirk Düsseldorf (1815-1945). Archive, Dokumente und Geschichte, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, VIII + 449 S., ISBN 978-3-412-20527-0, EUR 59,90
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