Der Raum erfreut sich im Zuge des "spatial turn" einer breiten Aufmerksamkeit der Geschichts- und mittlerweile auch der anderen Geisteswissenschaften. Während das überwiegende Interesse zunächst dem öffentlichen Raum galt, mehren sich in jüngerer Zeit, besonders von Seiten der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte, Forschungen zum Interieur und privaten Raum. Der vorliegende Sammelband widmet sich dem institutionellen Wohn(innen)raum im Europa der Frühen Neuzeit und damit einer Schnittmenge von öffentlichem und privatem Raum. Mit dieser Themenstellung betritt er weitgehend Neuland.
Der Band vereint neun geschichtswissenschaftliche und kunsthistorische Beiträge, die auf Vorträge zurückgehen, welche auf einer Tagung zu "Domestic and Institutional Interiors in Early Modern Europe" im November 2004 im Londoner Arts and Humanities Research Board (AHRB) Centre for the Study of the Domestic Interior gehalten wurden. Der auf den ersten Blick nur leicht veränderte Titel der Publikation weist auf eine entscheidende inhaltliche Akzentverschiebung hin: Aufgenommen wurden allein jene Vorträge, die sich dem institutionellen Interieur widmen. Auf diese Weise können die beiden Herausgeberinnen für sich in Anspruch nehmen, tatsächlich den ersten Sammelband zum institutionellen Wohnraum in der Frühen Neuzeit vorgelegt zu haben.
Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass in der Frühen Neuzeit Menschen aller sozialen Stände ihr Leben nicht nur in (Privat-)Häusern, sondern in zunehmendem Maße ganz oder teilweise in Institutionen verbrachten. Wie Sandra Cavallo (Royal Holloway University of London) und Silvia Evangelisti (University of East Anglia) in der Einleitung darlegen, handelt es sich im Unterschied zum Mittelalter dabei nicht mehr primär um religiöse Institutionen, sondern zum Beispiel um Einrichtungen in kommunaler, privater und korporativer Trägerschaft. Der Begriff "Institution" bzw. "Domestic Institutional Interior" wird sehr breit ausgelegt und nicht nur auf Institutionen im engeren Sinne, etwa Spitäler, Waisenhäuser, Klöster oder Colleges, sondern auch auf Paläste, Orte der privaten Andacht und Kunstsammlungen übertragen. Letztlich geht es den Herausgeberinnen darum, die Grenzbereiche zwischen "privat" und "öffentlich", "innen" und "außen", "Individuum" und "Institution" auszuloten, wie sie sich in der materiellen Kultur offenbaren. Weitere Aspekte sind Gender, Körper, Raum und Religiosität.
Die Einleitung bietet neben der Vorstellung der einzelnen Beiträge zugleich eine grundlegende Einführung in das Thema, den Forschungsstand und die Fragestellungen des Bandes. Anschließend folgen die Aufsätze in zwei großen Themenblöcken. Während der erste ("Organizing and representing spaces") eher größere räumliche Zusammenhänge und die Frage privaten und öffentlichen Lebens innerhalb von Institutionen in den Vordergrund stellt, widmet sich der zweite ("The meaning and use of objects") stärker der materiellen Kultur und dem individuellen Besitz.
Zu Beginn des ersten Teils zeigt Henry Dietrich Fernández am Beispiel von Donato Bramantes Entwurf für den von Papst Julius II. geplanten Konklavesaal die - allerdings ephemere - Verbindung von privatem und institutionellem Lebensraum auf. Nicht nur am Beispiel des Konklaves offenbart sich die Tendenz, das grundsätzlich auf Egalität ausgerichtete institutionelle Wohnen zu individualisieren und damit zu privatisieren. Dabei spielt die materielle Kultur als soziales Distinktionsmittel eine wesentliche Rolle.
Der Durchlässigkeit von privatem und öffentlichem Raum widmet sich auch Raffaella Sarti in ihrer Untersuchung der Inschriften im Palazzo Ducale in Urbino. Neben "offiziellen" Inschriften, etwa Namen und Motti des Herzogs, finden sich unzählige Graffiti von Besuchern und Personal. Sie lassen sich als Quelle für die Zugänglichkeit bestimmter Bereiche des Palastes und für Raumfunktionen heranziehen, aber auch als persönliche Manifeste der Bewohner und Besucher verstehen.
Zu den Formen institutionellen Wohnens, die sich vornehmlich erst in der Frühen Neuzeit herausbilden, gehören die von Louise Durning vorgestellten universitären Colleges als vorwiegend temporäre, maskuline und selbstverwaltete Lebensgemeinschaften. Prinzipiell ständeübergreifend, war der College-Alltag von neuen Hierarchisierungen geprägt, wie sich etwa an der Sitzordnung im Speisesaal nach akademischen Würden zeigt.
War die Mehrheit der karitativen Institutionen im Mittelalter in kirchlicher Trägerschaft, so mehren sich nach der Reformation private Initiativen. Die bürgerlichen Stiftungen waren allerdings häufig in ehemaligen Klostergebäuden untergebracht, deren räumliche Struktur in den säkularen Institutionen fortwirkte. Dies zeigt der Beitrag von Jane Kromm, die verschiedene wohltätige Einrichtungen im Holland des späten 16. und 17. Jahrhunderts behandelt, deren Stiftung und Unterhalt als Werk christlicher Barmherzigkeit galt. Wie Helen Hills in ihrer Untersuchung zum Leben in nachtridentinischen Frauenkonventen in Süditalien aufzeigt, unterlagen auch religiöse Institutionen einem Wandel, etwa hinsichtlich der Durchlässigkeit von privatem und gemeinschaftlich genutztem Raum bzw. Innen- und Außenwelt.
Dass sich mit Kategorien wie "privat" und "öffentlich", "innen" und "außen" oder "sakral" und "profan" das Wohnen in der Frühen Neuzeit nur unzureichend beschreiben lässt, zeigen die Beiträge von Molly Bourne zu den Aufenthalten von Margherita Gonzaga, Caterina de' Medici und Lucrina Fetti im Sankt Ursula-Kloster in Mantua und von Isabel dos Guimarães Sá zur Rolle von Wertgegenständen in der religiösen, materiellen und geschlechtsspezifischen Kultur am portugiesischen Königshof im 15. und 16. Jahrhundert. Gerade in den höchsten Gesellschaftskreisen kam es zu zahlreichen Überschneidungen der Bereiche. Ein weiteres Beispiel für die Vermischung von sakralen und profanen Funktionen ist der Bildtypus der Madonna im Blumenkranz, den Susan Merriam im Kontext der Entwicklung des modernen Kunstmuseums vorstellt.
Abschließend untersucht Anne E. C. McCants am Beispiel Amsterdamer Waisenhäuser die materiellen Besitztümer und das Konsumverhalten ihrer (ehemaligen) Insassen im 18. Jahrhundert. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Zöglinge häufig die Entbehrungen im 'Burgerweeshuis' durch gesteigerten Konsum nach Verlassen der Einrichtung zu kompensieren versuchten.
Insgesamt bieten die neun Beiträge einen Einblick in die verschiedenen Facetten des institutionellen Wohnens in der Frühen Neuzeit, ohne das Thema erschöpfend zu erfassen. Wenig erfährt man zum Beispiel über die genaue Gestalt und Einrichtung der Interieurs. Der Band versteht sich nicht als Handbuch, sondern erster Schritt zur Beschäftigung mit einem bislang noch kaum betretenen Forschungsfeld, das gerade für viel diskutierte Konzepte wie "Öffentlichkeit", "Privatheit" oder "Raum" reiches Material bereithält.
Sandra Cavallo / Silvia Evangelisti (eds.): Domestic Institutional Interiors in Early Modern Europe (= Visual Culture in Early Modernity), Aldershot: Ashgate 2009, XIV + 267 S., ISBN 978-0-7546-5647-0, GBP 55,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.