Von Titus Labienus berichtet Seneca der Ältere in seinen controversiae, er habe sich beim Vortrag seines Geschichtswerks selbst unterbrochen, einige Passagen übersprungen und dabei angemerkt, die fraglichen Abschnitte werde man erst nach seinem Tod lesen: haec, quae transeo, post mortem meam legentur (Sen. controv. 10 praef. 8). Diese demonstrative Vorsicht war natürlich eine Provokation, stellte Labienus doch damit faktisch die Behauptung auf, dass man unter Augustus nicht frei sprechen könne. Die Reaktion erfolgte prompt: Dem Geschichtsschreiber wurde vor dem Senat der Prozess gemacht, seine Bücher wurden verbrannt, und Labienus nahm sich das Leben.
Die Episode illustriert eine grundlegende Tatsache, die als Prämisse auch dem hier zu besprechenden Sammelband zugrunde liegt: Spätestens seit der Errichtung des Prinzipats, wenn nicht bereits seit Caesars Dictatur, waren der senatorischen libertas Grenzen gesetzt. Die Einschränkung der Freiheit mochte, abhängig vom gerade herrschende princeps, unterschiedlich stark sein, doch sie verschwand nie. Grundthema des Bandes ist daher die literarische Auseinandersetzung mit dieser Situation, wobei die drei in Neuseeland und Australien lehrenden Herausgeber eingangs die Annahme formulieren, "political debate" sei zentraler Aspekt jeglicher Literatur, die "in virtually every genre and period at Rome and within the boundaries of the Roman empire" entstand (1). Man mag sich fragen, ob diese Definition von "politischer Debatte", die jedwede literarische Äußerung einschließt, nicht doch so weit gefasst ist, dass sie entweder zu Überinterpretationen einlädt oder analytische Unschärfe provoziert. In ihrer Einleitung bieten die Herausgeber jedenfalls eine vage Arbeitsdefinition von politischem Diskurs als "a language of political commentary (...) in which the dominant political concerns of the day could find expression", wobei unter politischen Äußerungen schlicht alles verstanden wird, was sich auf "actions and policies of a particular government" bezieht (2). Etwas banal erscheint die Aussage, die Literatur der frühen Kaiserzeit müsse vor dem Hintergrund des jeweiligen "political context and ideological framework" verstanden werden (4f.).
Der Band versammelt 21 Beiträge, von denen 19 jeweils ein oder zwei Autoren gewidmet sind. Selbstverständlich können im Folgenden nur einige Aspekte herausgegriffen werden; fast allen gemein ist aber der Versuch, in den jeweiligen Werken Regimekritik nachzuweisen. Dies gerät mal mehr, mal weniger überzeugend. Der gewählte zeitliche Rahmen erscheint etwas eigenwillig; spätrepublikanische Autoren wie Lukrez und Cicero hatten sich zwar bereits mit dominanten Persönlichkeiten wie Caesar und den Triumvirn auseinanderzusetzen, dennoch schrieben sie noch unter anderen Bedingungen und Voraussetzungen als jene, die nach der Etablierung des augusteischen Prinzipats lebten. Und zugleich ist nicht erkennbar, dass um 120, jener Zeit, mit der der Band endet, ein wesentlicher Einschnitt eintrat. Vielmehr deckt sich der behandelte Zeitraum ziemlich genau mit jener Phase, die der Klassischen Philologie lange als die Epoche der goldenen und silbernen Latinität galt. Hierzu passt, dass mit einer einzigen Ausnahme - Flavius Josephus - nur lateinische Autoren behandelt werden. Alle, auch Josephus, schrieben zudem zumindest zeitweise in Rom oder jedenfalls in Italien und transportierten damit die Perspektive des Zentrums, nicht der Peripherie. Dies ist bedeutsam, da die strukturellen Besonderheiten und ideologischen Eigenarten des Prinzipats mit seiner scheinbaren Fortführung der res publica, der "continuity of form" (20), umso wichtiger waren, je näher man der Hauptstadt kam.
Deutlich besser gelungen als die Einleitung ist das zweite Kapitel, in dem Steven Rutledge den soziopolitischen Kontext beleuchtet. Rutledge macht mit Recht darauf aufmerksam, dass es nicht unproblematisch sei, "historical or political parameters of our sources" zu übernehmen (25). Wichtig seien die sozialen Rahmenbedingungen; so habe libertas ebenso wie dignitas und auctoritas eine wichtige Rolle für die Statusbestimmung innerhalb der Elite gespielt; Rutledge verweist mit Recht darauf, dass "the Roman cultural system" die dignitas der Aristokratie geschützt habe, innerhalb derer eine "pecking order" geherrscht habe (41). War die Position des Kaisers gefestigt, so konnten die principes begrenzte Kritik tolerieren und auf Majestätsprozesse verzichten (57). Hier wäre noch zu ergänzen, dass die Garantie einer weitgehenden Wahrung der senatorischen dignitas von Seiten des princeps im Zentrum des augusteischen Systems stand; im Gegenzug wurde gefordert, die Stellung und überlegene auctoritas des Herrschers anzuerkennen.
Im Anschluss werden Lukrez, dem John Penwill eine Welt- und Wertekonzeption bescheinigt, die der der Triumvirn diametral entgegengesetzt gewesen sei (63), Cicero, dessen tastende Versuche, sich mit Caesars Dominanz zu arrangieren, Jon Hall nachzeichnet, der darauf hinweist, dass der Konsular seine Karriere bereits hinter sich gehabt habe und daher zurückhaltend agieren konnte, und schließlich Vergil behandelt, in dessen Naturschilderungen William Dominik Bezüge zur Tagespolitik aufzeigen möchte. Robin Bond bescheinigt Horaz die Fähigkeit, sich geschickt den wechselnden Umständen anzupassen (144), ohne allzu opportunistisch zu agieren, während Matthew Roller anhand von Livius überzeugend demonstriert, wie sich in ab urbe condita die neuen Felder inneraristokratischer Konkurrenz unter den Bedingungen der Monarchie widerspiegeln; der aktuelle Bezug des Werkes wird insbesondere am Beispiel der Darstellung des Appius Claudius Caecus als exemplum verdeutlicht. Marcus Wilson konstatiert angesichts von Properz und Tibull, es gebe zwei Forschungsansätze, die Werke der Elegiker zu analysieren, einen, der die erotischen, und einen, der die politischen Anspielungen hervorhebe (173). Es sei den Dichtern gelungen, sich in einem Balanceakt "in a liminal zone between literary convention and real life" (200) den Zwängen der Tagespolitik zu entziehen. Gareth Williams begreift Ovid in einem lesenswerten Beitrag (wenngleich manch ein Detail etwas überinterpretiert erscheint) als einen Autor, dessen Werk die Widersprüchlichkeiten und Transformationen der Selbstdarstellung des ersten princeps spiegele (204). Victoria Jennings malt in ihrer Untersuchung der fabulae des Phaedrus ein düsteres Bild der Zeit Sejans; Phaedrus' Versuch, kaum verhüllte Kritik zu artikulieren, sei letztlich gescheitert - nicht nur aufgrund seiner persönlichen Katastrophe, sondern vor allem aufgrund ausgebliebener Rezeption (248).
James Kers Aufsatz zu Seneca ist vor allem aufgrund eines Exkurses zu "Rhetoric and Imperial Community" lesenswert. Ker unterstreicht hier (255ff.) mit Recht "the contradictions between language and reality which were basic to the existence of the principate"; Literatur und Rhetorik hätten als "therapy of a politically dispossessed elite" gedient. Anschließend skizziert Martha Malamud, wie Lucan und Petron die vermeintlich einfachere Vergangenheit der entartenden Gegenwart gegenüberstellten (306); John Garthwaite und Beatrice Martin behandeln Calpurnius Siculus, dem sie ein Spannungsverhältnis zwischen der oberflächlich positiven Schilderung der Gegenwart und subtiler Kritik attestieren.
Ein Glanzlicht des Bandes ist Steve Masons Beitrag, in dem er überzeugend darlegt, wie Flavius Josephus bewusst Parallelen zwischen der jüdischen und römischen Aristokratie konstruierte und zugleich in auffälliger Weise die dynastische Erbfolge als Sukzessionsprinzip kritisierte (347). Josephus habe einerseits die seit Galba virulente Idee einer Auswahl des jeweiligen optimus princeps verarbeitet, andererseits die Flavier aber sicherheitshalber von der Kritik ausgenommen.
Andrew Zissos demonstriert im Anschluss, dass auch Valerius Flaccus ein alternatives Setting, in diesem Fall die Welt der Argonautica, als Vehikel für kritische Aussagen über das Prinzipat genutzt habe; und Paul Roche meint bei Quintilian subtile Angriffe auf Domitian nachweisen zu können, da sich der Rhetor insbesondere auf jene Aspekte konzentriert habe, in denen der princeps angreifbar gewesen sei. Carole Newlands skizziert im Folgenden, wie sogar Statius in den Silvae, die nur oberflächlich betrachtet "overblown praise poems" seien (387), Kritik an diesem Kaiser artikuliert habe. John Garthwaite betont - aus literaturwissenschaftlicher Sicht fast eine Selbstverständlichkeit -, sowohl die Herrscher als auch die Sprecher seien in Martials Epigrammen nur personae, wobei es allerdings möglich sei, dass sich letztere teils mit dem Dichter deckten. Steven Rutledge befasst sich mit der Frage, inwiefern Tacitus' Agricola und Plinius' epistulae die Tagespolitik reflektierten (etwas kurz kommt dabei der Aspekt der Vergangenheitsbewältigung und Reintegration der Eliten nach dem Ende Domitians). David Konstan widmet sich Sueton und schlägt vor, die letzten Kaiserviten, insbesondere die Vita divi Titi, hätten "a rationale of their own" (461), die in subtiler Weise Kritik transportiere; und im letzten Kapitel bietet Martin Winkler einen kompetenten Überblick über die satirische Technik Juvenals, "trying to strike a safe but still meaningful balance" (467).
Die Beiträge des Bandes sind - bei naturgemäß schwankender Qualität - lesenswert und geben, soweit ich sehe, den Stand der angelsächsischen Forschung wieder; nicht-englische Literatur wurde zumindest von einem Teil der Autoren berücksichtigt, allerdings in etwas eklektizistischer Manier. So vermisst man etwa die Arbeiten Egon Flaigs, die zwar fraglos umstritten sind, aber dennoch der Forschung zum Prinzipat wesentliche Impulse verliehen haben. [1] Ein Stellenverzeichnis sowie ein "General Index" runden den Band ab.
Anmerkung:
[1] Z.B. Egon Flaig: Den Kaiser herausfordern, Frankfurt 1992.
William J. Dominik / John Garthwaite / Paul A. Roche (eds.): Writing Politics in Imperial Rome (= Brill's Companions in Classical Studies), Leiden / Boston: Brill 2009, XIII + 539 S., ISBN 978-90-04-15671-5, EUR 169,00
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