Die "Fondation Hans Hartung & Anna-Eva Bergman" in Antibes übergab 2009 und 2010 umfangreiche Konvolute von Druckgrafiken Hans Hartungs an das Berliner Kupferstichkabinett, die Pariser Bibliothèque Nationale und das Genfer Musée d'art et d'histoire. In Berlin und Paris wurden die Schenkungen bereits jeweils in einer Ausstellung der Öffentlichkeit gezeigt, eine abschließende Präsentation wird von Juni bis September 2011 in Genf stattfinden. Die beteiligten Institutionen haben gemeinsam den begleitenden französisch-deutschen Katalog herausgegeben. Die drei darin enthaltenen Aufsätze der Kuratoren entsprechen weitgehend den Themenschwerpunkten der Ausstellungen und fokussieren jeweils einen anderen Aspekt des umfassenden druckgrafischen Werks Hartungs, das, obwohl innerhalb seines Gesamtwerks von entscheidender Bedeutung, bislang kaum bekannt war. [1]
Auf eine ausführliche Biografie, die den Werdegang des Druckgrafikers Hartung nachzeichnet, folgt der Beitrag "Hans Hartung, Maler und Graphiker" von Céline Chicha-Castex, Konservatorin am Département des Estampes et de la Photographie der Bibliothèque Nationale. Chicha-Castex beleuchtet die technischen und ästhetischen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen druckgrafischen Methoden, Zeichnung und Malerei im Werk Hartungs. In ihrer Analyse geht sie chronologisch vor und benennt stilistische Einflüsse, die im Laufe der Entwicklung von Hartungs Druckgrafik auf diese einwirkten und seine Faszination für das Schwarzweiß des Grafischen prägten - so etwa die deutschen Expressionisten und Rembrandt. Verschiedene experimentelle Vorgehensweisen mit unterschiedlichsten Instrumenten ließen sich parallel in Druckgrafik und Malerei finden. Teils sei kaum feststellbar, in welchem Bereich sie zuerst zum Einsatz kamen. In den 1970er-Jahren setzte Hartung lithografische Farbwalzen in seinen Gemälden ein und schrieb 1981 in seinem "Selbstportrait" über diese Malerei, sie sei "das Ergebnis meiner langjährigen Recherchen im Bereich der Lithographie [...]. Durch sie kam ich auf die breitflächigen, balkenhaften Konstruktionen und löste mich von der Abhängigkeit vom einzelnen Strich, an den ich fast mein Leben lang gewöhnt war." (65) Chicha-Castex kommt zu dem Schluss, dass alle von Hartung experimentell eingesetzten schöpferischen Mittel sich gegenseitig befruchteten, weshalb keine der Techniken unabhängig von den anderen betrachtet werden könne, wie es gleichwohl so oft geschehe. Druckgrafik habe in seinem Werk den gleichen Stellenwert wie Malerei und Zeichnung. Darin unterscheide er sich von den meisten anderen "Peintres-Graveurs" seiner Zeit, die ihre Druckgrafik der Malerei unterordneten.
Diese erste eingehendere Beleuchtung der Wechselwirkung zwischen den von Hartung eingesetzten Mitteln offenbart nicht nur neue Erkenntnisse in Bezug auf seine Druckgrafik, sondern bereichert die Perspektive auf sein gesamtes Schaffen um einen maßgeblichen Aspekt. Denn es wird deutlich, dass seine allgemeine stilistische Entwicklung nachhaltig von Experimenten mit druckgrafischen Techniken geprägt wurde. Wie selten die Gleichstellung von Druckgrafik und anderer Medien wirklich war, müsste durch ähnlich präzise Analysen der Werke weiterer druckgrafisch arbeitender Künstler der Zeit, etwa von Pierre Alechinsky oder Antoni Tàpies, überprüft werden.
In dem Beitrag "Serie als Prinzip und Methode - Aspekte von Hartungs Druckgraphik" analysiert Christian Rümelin, Konservator des Cabinet d'arts graphiques in Genf, Hartungs serielles Vorgehen in den verschiedenen druckgrafischen Techniken. Obwohl es in zahlreichen Einzelblättern mit gleichen motivischen Fragestellungen und Bezügen untereinander deutlich zutage tritt, wählt Rümelin zwei der wenigen als zusammenhängende Werke herausgegebene Beispiele: ein lithografisches Künstlerbuch von 1970 sowie fünf im selben Jahr in einer spanischen Edition publizierte Radierungen. Durch den jeweils vorgegebenen Rahmen der Publikation ließen sich, so Rümelin, Hartungs Auseinandersetzungen mit formalen und inhaltlichen Fragen konzentriert vor Augen führen. Rümelin stellt fest, dass sich diese beiden Aspekte in Lithografie und Radierung grundlegend unterscheiden. Im Tiefdruck erkennt er ein dem langsamen Prozess der Technik geschuldetes, über viele motivische Varianten erfolgendes Herantasten an eine endgültige Vorstellung. Das Aussortieren solcher Blätter, die dieser Vorstellung nicht in ausreichendem Maße entsprachen, unterstreiche das serielle Prinzip des Schaffensprozesses. In der lithografischen Folge des Künstlerbuches hingegen biete Hartung ein Panorama all seiner bisher experimentell in dieser Drucktechnik erzielten Ergebnisse, in denen manche motivische Reminiszenz an frühere Arbeiten auftrete. Zwar verliere sich im Laufe der 1970er-Jahre die Kohärenz seiner seriellen Vorgehensweise in der Druckgrafik, doch habe sich das Prinzip dank der dort gemachten Erfahrungen auch in Hartungs Malerei durchsetzen können.
Druckgrafik bietet sich in vielfacher Hinsicht für serielles Arbeiten an und entsteht häufig im vorgegebenen Rahmen einer Publikation. Durch Rümelins Ausführung wird deutlich, dass Hartung sich bemerkenswerterweise durch weitestgehend selbstständige verlegerische Tätigkeit von solchen einschränkenden Vorgaben befreite, daher schrankenlos Techniken und Kompositionen durchexerzieren konnte, und sich so in seinen zahlreichen Einzelblättern serielle Leitmotive ergaben.
Andreas Schalhorn, Kurator der Berliner Ausstellung, richtet in seinem Katalogbeitrag "Vom Esprit der Gesten" den Fokus auf die Charakteristika des Gestischen in der Druckgrafik Hartungs und setzt diese in einen Vergleich mit dessen ebenfalls gestisch arbeitenden Zeitgenossen. Hartung, fasziniert von den Spuren der eigenen Gesten, setze diese als Mittel zum Bau seiner Kompositionen ein und habe in der Lithografie die idealen Voraussetzungen für seinen spontanen, schnellen Ausdruckswillen gefunden. Schalhorn interpretiert gestisch formale Grundmotive, die in Variationen innerhalb chronologisch und stilistisch zusammenhängender Werkgruppen erkennbar seien. Im Vergleich mit der Druckgrafik von Künstlerkollegen, wie Jackson Pollock, Pierre Soulages oder K.R.H Sonderborg, stellt Schalhorn fest, dass zwar formale Ähnlichkeiten bestünden, die Formspuren Hartungs aber immer klar unterscheidbar blieben und tänzerisch leicht anmuteten. Dem darin spürbaren, konzeptuellen Geist ginge es um die Analyse des eigenen Formvokabulars. Bei aller Impulsivität des kreativen Aktes verrate seine Präzision emotionale Distanz und Kontrolle. Daher sei auch Werner Haftmanns im Vorwort des Katalogs zur "documenta II" (1959) formulierte, existentialistische Stilisierung des Gestischen bei Hartung verfehlt. Auf das künstlerische Erbe der Auseinandersetzung mit der eigenen Geste und dessen Aktualität, verweist Schalhorn abschließend am Beispiel Christopher Wools, der in seinen Siebdrucken bewusst auf Hartung rekurriert.
Schalhorn liefert eine gute Beschreibung und Deutung der gestischen Natur von Hartungs Druckgrafik, die er durch den Vergleich mit anderen noch präziser zu umreißen vermag. Eine solche Einbettung der Blätter eines Künstlers im größeren Kontext einer Stilrichtung und ihrer weiteren Entwicklung ist sinnvoll. Denn sie zeichnet nicht nur das Profil des Einzelnen, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf die rege druckgrafische Produktion der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, die im Werk Vieler wesentlich größeres Gewicht hat, als allgemein registriert. Gerade Künstler der verschiedenen informellen Ausrichtungen haben sich intensiv mit dem Medium Druckgrafik auseinandergesetzt.
Die Kuratoren der Ausstellungen und Autoren des Katalogs haben wichtige Aspekte und Beweggründe der druckgrafischen Arbeit Hartungs zusammengetragen. Weitere monografische Projekte dieser Art wären wünschenswert, um die Motivationen dieser Künstler und die Rolle der Druckgrafik in dieser Zeit zu verstehen und damit neue grundsätzliche Erkenntnisse über informelle Kunst zu gewinnen.
Anmerkung:
[1] Die Stiftung Hartung-Bergman ermöglichte die seit Kurzem auch online zugängliche Datenbank zur Druckgrafik Hartungs (http://www.estampeshartung.fr), welche auf der Systematik des von Rainer Michael Mason erstellten Gesamtwerkverzeichnisses basiert. Auch der umfangreiche, qualitätsvolle Bildteil des hier besprochenen Katalogs funktioniert nach Masons Ordnungssystem.
Céline Chica-Castex / Christian Rümelin / Andreas Schalhorn (Hgg.): Hans Hartung. Estampes. Druckgraphik, Paris: Bibliothèque Nationale de France 2010, 271 S., ISBN 978-2-7177-2458-5, EUR 39,99
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