Erich Gruens neues Buch stellt einen fulminanten Beitrag zu einer Paradigmendiskussion dar, die in der englischsprachigen Forschung seit Jahren intensiv geführt wird und auch hierzulande aufgenommen worden ist. Beeinflusst von Debatten um Nationalismus, Identitätskonstruktionen und Orientalismus wurde in den Altertumswissenschaften die Frage gestellt, wie radikal auch in der Antike der Nicht-Zugehörige als 'Anderer' stereotypisiert, perhorresziert und herabgesetzt wurde, um den stets bedrohten Zusammenhalt der 'eigenen' Formation erhalten zu können. Das führte dazu, die älteren, ertragreichen (und keineswegs verharmlosenden!) Forschungen über Barbarentopoi, antike Ethnographie und Judenfeindschaft zuzuspitzen. Bezeichnenderweise jedoch wurde der weiteste Vorstoß in diese Richtung, Benjamin Isaacs "The Invention of Racism in Classical Antiquity" (Princeton 2004 [1]), in der anglophonen Forschung weit intensiver diskutiert als in Deutschland. Gruens Studie bietet einen Gegenentwurf mit der These, Griechen, Römer und Juden hätten weit differenzierter, nuancierter und komplexer über andere Völker gedacht als von Isaac und anderen zugestanden. Unterschiede zu bezeichnen habe noch nichts mit Xenophobie, Ethnozentrismus, Jingoismus oder gar Rassismus zu tun.
Hier ergibt sich freilich schon ein erstes methodisches Problem: Wer sind die Akteure in Gruens Panorama? "Griechen, Römer und Juden" sicher nicht, sondern zunächst die Autoren der verhörten Schriften. Ansichten der großen Zahl von nicht-schreibenden Menschen lassen sich allenfalls in Reflexen der Kommunikation greifen, wenn etwa Cicero in Reden mit Herabsetzungen von Griechen oder Juden operiert und erwarten kann, mit den Zuhörern auf einer Wellenlänge zu liegen. Waren es also ganze "ancient societies", die sich selbst als Teile einer "broader cultural heritage" und ihre eigene Tradition "in terms of a borrowed or appropriated past" (3f.) sahen? Selbst wenn "die Römer" die Bemühungen römischer Autoren seit Fabius Pictor, die Stadt ethnisch und mythhistorisch in eine vernetzte mediterrane Koinê einzuschreiben, akzeptiert haben - woran zu zweifeln kein Grund besteht -, schließt das Überlegenheitsgefühl, Distanzierung und Herabsetzung nicht aus. Gerade wenn man wie Gruen nach antiken Mentalitäten fragt (4), ist das Problem der Gleichzeitigkeit verschiedener Diskurs- und Handlungsebenen nicht trivial.
Generell geht es Gruen um eine irenische Interpretation antiker Fremd- und Selbstkonstruktionen. Der längere erste Teil (9-220) durchmustert "Impressions of the 'Other'", im zweiten Teil (223-351) sind "Connections with the 'Other'" behandelt. Den Schluss bilden eine kurze Bilanz (352-357), Bibliographie (359-384) sowie zwei ausführliche Indices (antike Quellen, 385-402; Namen und Sachen, 403-415).
Gruen beweist eine höchst eindrucksvolle Quellenkenntnis, zieht aber auch einschlägige Forschungsliteratur heran. [2] Gängige Konzepte wie die 'interpretatio Graeca/Romana' werden gedankenreich problematisiert. Die antiken Autoren liest Gruen individualisierend. Das ist bei Pionieren wie Aischylos oder Herodot sicher angebracht. Generell aber scheint er die Konventionen der antiken Ethnographie zu unterschätzen. [3] Niemand dürfte von einer späthellenistischen, durch stoisches Gedankengut beeinflussten Universalgeschichte wie der Diodors etwas anderes erwarten als Respekt vor allen Kulturen und Interesse an Zusammenhängen zwischen diesen; das gilt mutatis mutandis auch für Plutarch. Man hat bisweilen den Eindruck, Gruen suggeriert die Erwartung primitiver Agitation und Hasspredigt und ist dann angenehm überrascht, wenn die untersuchten Autoren differenziert, doppelbödig oder spielerisch argumentieren. Doch dies zu beherrschen war schon Teil der rhetorischen Ausbildung, und für Widersprüche und Ambivalenzen in der Wirklichkeit musste sich sensibel zeigen, wer seine geistige und politische Unabhängigkeit demonstrieren und eine überlegene Position beanspruchen wollte. Hat Gruen hier vielleicht die Verirrungen von Intellektuellen im 20. Jahrhundert, ihre Anfälligkeit für totalitäre Versuchungen und schlichte Antworten zu sehr in die Antike hineinprojiziert?
Im ersten Kapitel zeichnet der Autor das bekanntlich sehr differenzierte Perserbild von Aischylos und Herodot nach und setzt sich mit einigen Vasenbildern auseinander. Nach den jüngsten Forschungen wird es niemanden überraschen, zumal bei letzterem Spiegelungen nach beiden Seiten, Inversionen und paradoxe Verknüpfungen zu finden: "Cultural identities are ambiguos and fluid phenomena, as the father of history knew" (39). Bekanntlich setzt Herodot Autokratie und Ethnizität nicht gleich, und dem verhängnisvollen Machtprozess sind bei ihm hellenische Tyrannen, persische Könige und eine Polis wie Athen gleichermaßen unterworfen. Die bekannte Hamburger Eurymedon-Oinochoë deutet Gruen als Witz, "lacking any heavy implications for a clash of Hellenism and barbarism" (44). Das zweite Kapitel lässt Isokrates als Einzelstimme links liegen und diskutiert dafür Xenophons Kyrupädie [4] sowie Alexanders Politik. Das hohe Ansehen der ägyptischen Kultur und die Annahme vielfältiger Verflechtungen zumal mit Hellas werden an Herodot, Diodor und weiteren Autoren gezeigt (Kap. 3). Obwohl es Texte wie Juvenals fünfzehnte Satire gibt, "hostility to Egypt did not pervade the Roman consciousness" (111).
Die Karthager genossen in der griechischen politischen Philosophie einen guten Ruf (Kap. 4). Was die Römer angeht, so verweist Gruen mit Recht auf den Poenulus, versäumt aber, sich mit neueren Vorschlägen auseinanderzusetzen, im Rom des 3. und frühen 2. Jahrhunderts eine bunte Ansammlung von Ethnien, Kulten und Kulturen zu sehen, während die Elite auf Abgrenzung setzte und langfristig die Überlieferung zu dominieren vermochte. [5] Richtig gesehen ist sicher, dass die Weltmacht in ihrem Selbst- und Überlegenheitsgefühl keine durchgehende Herabsetzung der Poeni nötig hatte (140).
Das fünfte und das sechste Kapitel behandeln Caesars Gallier- und Tacitus' Germanenbild. Im bekannten Judenexkurs im fünften Buch der 'Historien' findet Gruen neben "rage and bitterness" (186) auch "a decidedly admiring line on Jewish traits, values, and behavior" (187). Aber es kann meines Erachtens kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Tacitus zwar selbstverständlich mit Zerrbildern des Judentums spielen, Ironie und Sarkasmus walten und dabei neben den Juden auch Römer ins Visier nehmen konnte, dies aber ohne ein solides Substrat an jederzeit mobilisierbaren Antipathien bei ihm und den Lesern nicht funktioniert hätte. Zum Abschluss des ersten Teils (Kap. 8) erörtert Gruen das Bild der Farbigen in Texten und Artefakten. Auch hier eine 'dissoziierende' Leseweise: Wenn Schwarze karikierend dargestellt wurden, zumal in satirischen Texten, drücke sich darin kein verbreitetes Vorurteil aus; "the distinct color of the Ethiopians lent itself to jokes, parody, and dark humor - a matter quite different from ethnic bigotry or abhorrence of the nation" (209). Gruen macht viele treffende Beobachtungen, aber seine Neigung, jede ethnische Qualifizierung in bonam partem zu lesen, blockiert die Frage, ob nicht manche Gruppen in bestimmten Konstellationen doch mehr Stereotype und Ablehnung auf sich zogen als andere.
Der zweite Teil kann kürzer skizziert werden. Gruen stellt zusammen, wie kreativ im Modus des Mythos durch Gründungsgeschichten, wandernde Vorväter und Genealogien Verbindungen zwischen Völkern konstruiert und Ursprünge in Anspruch genommen werden konnten. Behandelt werden unter der Überschrift "Foundation Legends" (Kap. 9) Pelops, Danaos, Kadmos, die Pelasger, die Wurzeln Roms in Troja und Arkadien, die Stammväter der Israeliten, sodann fiktive Verwandtschaften von Griechen (Kap. 10) und von Juden (Kap. 11), schließlich "Cultural Interlockings and Overlappings" (Kap. 12). Gewiss kann man Perseus als "multiculturalist" vorstellen (254-265). Doch wirkten solche Verwandtschaften - gesetzt den Fall, sie waren allgemein bekannt und akzeptiert - selten pazifizierend. Wer den Hinweis auf die gemeinsame Abstammung von Persern und Argivern aufbrachte, ist unklar, doch wie Herodots Bericht (7,150) deutlich macht, spielte diese für Argos' Neutralität nur eine nachgeordnete Rolle. Auch Gruen muss zugeben, dass der 'Fund' für beide Seiten vorteilhaft war (257); eine Handeln motivierende Wirkung ist aber nicht erkennbar.
Gruen hat ein ausgesprochen didaktisches Buch geschrieben. Gern lässt man sich von ihm an die Hand nehmen und streicht die Merk- und Bilanzsätze an, in denen die These vielfältig variiert ist. In den USA hat das Werk offenbar das Zeug, politische und intellektuelle Debatten zu beleben; ein Rezensent rühmte es, zeigte sich aber doch nicht völlig überzeugt davon, "that Greeks and Romans operated like Obamas in togas". [6] Doch auch jenseits einer derartigen Agenda und trotz einer gewissen thesenfixierten Engführung verdient das material- und gedankenreiche Opus eines bedeutenden Gelehrten und Humanisten viele aufmerksame Leser.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu die Rezension von Johannes Engels, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5; URL: http://www.sehepunkte.de/2005/05/7431.html
[2] Von Albrecht Dihle werden zwei Spezialaufsätze angeführt, nicht aber "Die Griechen und die Fremden", München 1994.
[3] Klaus E. Müller: Geschichte der antiken Ethnographie und ethnologischen Theoriebildung, 2 Bde., Wiesbaden 1972/1980 fehlt in der umfangreichen Bibliographie.
[4] Den vertrackten Epilog deutet Gruen als übertriebene Farce auf die zeitgenössische Rede von persischer Dekadenz.
[5] Amy Richlin (ed., transl.): Rome and the Mysterious Orient. Three Plays by Plautus, Berkeley 2006.
[6] Vgl. Carlin Romano: Us vs. Them: Good News from the Ancients! In: The Chronicle of Higher Education v. 23.1.2011 (http://chronicle.com/article/Us-vs-Them-Good-News-From/126031/ [2.4.2011]).
Erich S. Gruen: Rethinking the Other in Antiquity (= Martin Classical Lectures), Princeton / Oxford: Princeton University Press 2011, XV + 415 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-0-691-14852-6, GBP 27,95
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