In der vorliegenden Monographie zieht Saro Wallace nicht nur die Summe aus ihrer langjährigen Beschäftigung mit der Siedlungstopographie Kretas in der ausgehenden Bronze- und frühen Eisenzeit, sondern unternimmt den Versuch einer Gesamtdarstellung der soziopolitischen und ökonomischen Entwicklung auf der Insel von ca. 1200 v. Chr. bis in das 5. Jahrhundert v. Chr. Im Grunde stellt die Arbeit den ersten breiter angelegten Vorstoß in diese Richtung dar.
Im ersten der in fünf Teile gegliederten Studie steckt Wallace zunächst den chronologischen, naturräumlichen und methodischen Rahmen ab, um dann näher auf die Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen im spätbronzezeitlichen Kreta einzugehen. Der zweite Teil widmet sich ausführlich dem Zusammenbruch ("collapse") dieses Systems um 1200 v. Chr. sowie der anschließenden Restrukturierungsphase, die etwa bis zur Jahrtausendwende andauerte. Zentrale Bedeutung misst Wallace dabei dem einschneidenden Wandel von einer im regionalen Kontext hierarchisch gegliederten hin zu einer stärker zersplitterten Siedlungsstruktur mit flacher Hierarchie bei. Die Autorin interpretiert diese Veränderungen als "[...] exceptionally controlled and deliberate response to the unstable and threatening circumstances of the late thirteenth-century Aegean" (66). Die Zersplitterung in viele kleine Siedlungsplätze habe bestehende soziale Unterschiede nivelliert, wodurch die Herausbildung kollektiver Identitäten innerhalb der neu gegründeten Siedlungen entscheidend befördert worden sei. All dies führte Wallace zufolge bereits früh zu einem im Vergleich zum griechischen Festland bemerkenswert hohen Grad an sozialer Stabilität. Aus diesen Überlegungen leitet sich die Hauptthese des Buches ab, die Wallace bereits in der Einleitung vorwegnimmt: "[...]the 'successful' nature of social collapse circa 1200 BC was directly linked to the later development of social conditions in which democracy did not/could not emerge" (4).
Während der dritte Abschnitt vor allem den auswärtigen Kontakten Kretas gewidmet ist, nimmt Wallace im vierten Teil erneut die Siedlungsgeschichte in den Blick. Bereits seit dem 10. Jahrhundert v. Chr. habe eine zunehmende Siedlungsverdichtung in Wechselwirkung mit steigender landwirtschaftlicher Überproduktion, wachsender handwerklicher Spezialisierung und vermehrten Importen von Prestigegütern zur Entstehung komplexer sozialer Strukturen und Institutionen geführt (325 f. Abb. 200), die bereits auf die spätere Polisordnung vorausweisen. Bestätigung für ihre These, dass stabile Clanstrukturen ("extended kin groups") im Verlauf der frühen Eisenzeit auf Kreta - anders als auf dem Festland - eine zunehmend wichtigere Rolle spielten, sucht Wallace vor allem in der kretischen Praxis gemeinschaftlicher Bestattungen in Kammer- oder Tholosgräbern bzw. abgeschlossenen Grabbezirken (286-311). Die seit dem frühen 7. Jahrhundert v. Chr. verstärkt auftretenden Einzelbestattungen deutet sie dagegen als Indiz für eine wachsende soziale Differenzierung (290).
In erster Linie auf Grundlage der epigraphischen und literarischen Quellen, die sie allerdings nur punktuell diskutiert, skizziert Wallace im abschließenden fünften Teil zunächst die soziopolitische Struktur der kretischen Poleis in der spätarchaischen und klassischen Zeit, um das gewonnene Bild im Anschluss daran in den Kontext der gesamtgriechischen Entwicklung zu stellen. Aufgrund der "[...] appropriation of power by a small group of clans at an early stage in state development [...]" (396) und einer Konsolidierung dieser Verhältnisse zu einer festgefügten oligarchischen Herrschaft sei es in den kretischen Poleis nie zu einer Beteiligung breiterer Schichten der Bevölkerung an politischen Entscheidungen und mithin zur Entwicklung demokratischer Institutionen gekommen.
Eine ausführliche Bibliographie, die Publikationen bis zum Erscheinungsjahr 2008 umfasst, beschließt den Band. Die Literaturliste weist einige Lücken auf. So bleibt beispielsweise ein wichtiger Tagungsbeitrag von Brice Erickson zur Problematik des so genannten Archaic gap [1], auf die Wallace ausführlich eingeht (327-330), ebenso unberücksichtigt wie ein Aufsatz von Antonis Kotsonas zur Entstehung der Polis in Zentralkreta. [2] Nicht-englischsprachige Publikationen werden, von neugriechischen Titeln einmal abgesehen, von der Autorin weitgehend ignoriert. Unter den sehr wenigen deutschsprachigen Publikationen, die in der Bibliographie erscheinen, vermisst man neben den Arbeiten von Hartmut Matthäus insbesondere den wichtigen Aufsatz von Hans-Joachim Gehrke zur sozialen und politischen Ordnung Kretas in der archaischen und klassischen Zeit sowie Stefan Links Monographie zum griechischen Kreta. Auffällig ist zudem die mangelnde redaktionelle Sorgfalt, die sich an der fehlerhaften Orthographie zahlreicher nicht-englischsprachiger Aufsatz- und Buchtitel zeigt.
Gelegentliche Unstimmigkeiten und sachliche Fehler lassen auf eine fehlende Vertrautheit mit manchen der zahlreichen diskutierten archäologischen Funde und Befunde schließen. So bleibt unverständlich, weshalb Wallace den ägyptischen Einfluss auf die kretische Terrakottaplastik des 7. Jahrhunderts v. Chr. übermäßig stark betont (220). Den bedeutenden Kultplatz von Vavelli (Nea Praisos) als kleines Heiligtum eines in Praisos ansässigen Clans zu interpretieren (315), entbehrt jeder Grundlage. Der Fundort von fragmentierten Figuren der so genannten Göttin mit erhobenen Armen und anderer Kultparaphernalien, die auf ein bench sanctuary der Periode Spätminoisch III C schließen lassen, wird fälschlich vom östlichen Rand der Patela von Prinias in den Bereich der späteren Tempel A und B verlegt (386). [3] Diese Auflistung ließe sich weiter verlängern.
Der Gesamteindruck bleibt in vieler Hinsicht ambivalent. Völlig zu Recht stellt Wallace die siedlungsgeschichtliche Entwicklung als "[...] important creative [Herv. i. O.] factor in long-term social and political change in EIA through Classical Crete [...]" (54) heraus. Sicher ist ihr auch zuzustimmen, wenn sie den Einfluss ökonomischer Faktoren bei der Genese der Polis stärker betont als die bisherige Forschung. Sowohl am Untertitel der Studie als auch an der übergreifenden Fragestellung ("Why did the Cretan polis take the unusual form indicated in the texts by Classical times?"; 12) wird jedoch bereits die Problematik der von Wallace gewählten Perspektive deutlich. Die Rede von den Alternativen zur Demokratie schreibt dieser Staatsform einen normativen Charakter zu, den sie in der griechischen Antike nie besessen hat. Gleichzeitig betont die Autorin die angeblich ungewöhnliche politische Gestalt "der kretischen Polis" und hebt damit die Andersartigkeit hervor, die der Insel immer wieder zugeschrieben wird. Allerdings hat es wohl weder die kretische Polis gegeben noch stellten streng oligarchische Regierungsformen auf dem griechischen Festland eine Seltenheit dar. Dadurch, dass der Charakter des Restrukturierungsprozesses nach 1200 v. Chr. Wallace zufolge die gesamte spätere soziopolitische Entwicklung prädisponiert, erhält ihr narrative einen ausgesprochen deterministischen Zug - die Struktur trägt gleichsam einen vollständigen Sieg über das Ereignis davon.
Anmerkungen:
[1] B. Erickson: Cretan Austerity in the Sixth Century BC, in: E. Γαβριλάκη / Γ. Z. Tζιφόπουλος (Hgg.): O Mυλοπόταμος από την αρχαιότητα ως σήμερα. Πρακτικά Διεθνούς Συνεδρίου IV: Eλεύθερνα - Aξός, Pέθυμνο 2006, 69-92.
[2] A. Kotsonas: The Rise of the Polis in Central Crete, Eulimene 3 (2002), 37-74.
[3] D. Palermo: Il deposito votivo sul margine orientale della Patela di Priniàs, in: V. La Rosa / D. Palermo / L. Vagnetti (Hgg.): Ἐπὶ πόντον πλαζόμενοι. Simposio italiano di studi egei dedicato a Luigi Bernabò Brea e Giovanni Pugliese Carratelli, Roma 18-20 febbraio 1998, Rom 1999, 207-213.
Saro Wallace: Ancient Crete. From Successfull Collapse to Democracy's Alternatives, Twelfth to Fifth Centuries BC, Cambridge: Cambridge University Press 2010, XXVI + 450 S., ISBN 978-0-521-11204-8, GBP 60,00
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