Die These, dass Parmenides den entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der vorsokratischen Philosophie darstellt, ist in der modernen Vorsokratiker-Forschung communis opinio. Zenon und Melissos gelten dabei traditionell als Anhänger der parmenideischen Ontologie, Empedokles, Anaxagoras und die frühen Atomisten als "posteleatische Pluralisten", die ihre physischen Prinzipien möglichst weitgehend mit den von Parmenides aufgestellten Kriterien des Seins in Übereinstimmung zu bringen versuchen. Auch die These, der zufolge die von Parmenides herbeigeführte Wende u.a. in einer von ihm bewusst intendierten Kritik an der früheren Naturphilosophie begründet liege, findet immer noch prominente Anhänger. Ausgehend von einer neuen Interpretation des parmenideischen Gedichts entwickelt John Palmer in seinem Buch eine ausführliche Kritik der auf den genannten Annahmen beruhenden, von ihm als "künstliche Konstruktion" (319) abgelehnten Auffassung von der Geschichte der vorsokratischen Philosophie.
In der ersten Hälfte (Kap. 2-4) der Untersuchung werden eine Interpretation der "wichtigsten Verse des Gedichts" (99; 321), B2.3 ("the one, that [it] is and that [it] is not not to be") und B2.5 ("but the other, that [it] is not and that [it] must not be"), und eine auf dieser aufbauende Deutung der parmenideischen Philosophie vorgeschlagen. In den genannten Versen zeige sich Parmenides' bedeutsamste, bisher allerdings generell verkannte Leistung: eine Unterscheidung zwischen den Modi des notwendigen und des unmöglichen Seins, deren Nachwirkung in einer Verwendung von εἶναι in eingeschränktem Sinne u.a. bei Gorgias, Platon (Resp. 477a2-479d5; Tim. 27d5-28a4) und Aristoteles (Ph. 184b22-25; 191a23-33) erkennbar sei. Im Lichte dieser Unterscheidung erweise sich die Deduktion von B8 weder als Beweis für einen strikten Monismus noch als methodologische Spezifizierung der Kriterien, die die Prinzipien der Dinge erfüllen sollten, sondern als logisch korrekte und erschöpfende Herleitung der Natur des notwendigerweise Seienden aus seinem Seinsmodus unter der Voraussetzung seiner Temporalität und Räumlichkeit. Die Existenz des Notwendigen hebe die Existenz der Dinge, die sind, ohne sein zu müssen (d.h. der kontingenten Dinge der Welt), keineswegs auf: Parmenides lasse, ohne über ein quantitatives Modell der Struktur der Materie zu verfügen (vgl. unten zu B8.22-25), Sein und Welt als gleichermaßen real und materiell in demselben Raum koexistieren (185-8).
Die zweite Hälfte der Untersuchung (Kap. 5-8) hat zum Ziel, die vorgeschlagene Interpretation des parmenideischen Denkens durch die Klärung seiner Beziehungen zu den anderen vorsokratischen Systemen zu plausibilisieren. Nachdem Melissos' strikter Monismus als eine eristische Deformation von Parmenides' "generous monism" gedeutet wird, wird Zenon als Urheber einer innovativen, von Parmenides' Philosophie grundsätzlich nicht beeinflussten (204f.) Konzeption von Raum und Ausdehnung präsentiert, dessen potentiell auch Parmenides' Ontologie gefährdende Paradoxien eine echte Herausforderung für die junge Naturphilosophie darstellten und v.a. die Atomisten und Anaxagoras beeinflussten (Kap. 5). Dagegen habe Parmenides' "metaphysische Deduktion" - so Palmers Hauptthese - "nothing to do with the physical principles of either his predecessors' or successors' systems" (336). Wesentliche Analogien bestünden stattdessen zwischen den Prinzipienlehren des Anaxagoras (Kap. 6) und Empedokles (Kap. 7) einerseits und der parmenideischen Doxa andererseits - eine These, die u.a. an D.W. Grahams Auffassung in Explaining the Cosmos (2006) erinnert. Während jedoch Graham annimmt, dass die in der Aletheia deduzierten Attribute des Seins sich in dem Charakter der Prinzipien der Doxa widerspiegeln und so die Entstehung der "Elemental Substance Theory" der Posteleaten bedingen, glaubt Palmer nicht, dass die Prinzipien der Doxa als "Repliken" des Seienden fungieren, und legt in einer ausführlichen Argumentation dar, dass dies ebensowenig für die (weder homogenen noch unteilbaren noch unbeweglichen oder unveränderlichen) Homoiomere des Anaxagoras oder für die (im Sphairos zyklisch vergehenden und entstehenden und in den die Dinge konstituierenden Verbindungen ihre spezifischen Qualitäten und ihre Identität verlierenden) Elemente des Empedokles gelten könne. Der von den "Posteleaten" festgehaltene Grundsatz ex nihilo nihil sei dabei kein spezifisch parmenideisches Postulat, sondern ein von allen Vorsokratikern - einschließlich der Milesier und Heraklits - anerkanntes Prinzip, das von Parmenides nicht einmal explizit formuliert werde (B8.5-21 betreffe nur das Sein im Modus der Notwendigkeit). Auch die davon zu unterscheidende Negation der Entstehung der Grundelemente ("fundamental entities") gehöre - wie Arist. Ph. 1.8 bezeuge (vgl. unten) - zum allgemein vorsokratischen Gedankengut.
Einen Einfluss der Aletheia auf Parmenides' Nachfolger negiert Palmer nicht, sieht diesen aber nicht im Bereich der Physik, sondern in ihrer Reflexion über die "vollkommene Entität" wie den Nous oder den Sphairos. In das Schema dieser Differenzierung (die "vollkommene Entität" vs. die materiellen Prinzipien) ließen sich laut Kap. 8 auch die Theorien anderer Vorsokratiker einordnen (Anaximander: Apeiron vs. Gegensätze; Anaximenes: Luft vs. Wind, Wolken, Wasser, Erde und Steine; Xenophanes: Gott vs. Erde und Wasser; Heraklit: Logos vs. Feuer). Darin zeige sich die grundsätzliche, durch Parmenides' Denken keineswegs unterbrochene Kontinuität der vorsokratischen Philosophie.
Die skizzierten Thesen werden von Palmer mithilfe detaillierter Analysen der vorsokratischen, platonischen und aristotelischen Texte herausgearbeitet. Die Ergebnisse dieser Analysen divergieren nicht selten von den üblicherweise vertretenen und prima facie evidentesten Auslegungen der untersuchten Texte. So nimmt er z.B. an,
- dass alle in DK 28B8.22-5 genannten Attribute des Seins (einschließlich Unteilbarkeit, Kontinuität und Erfülltsein vom ἐόν) nur "ways of signifying the self-similarity of What Is" seien: "Parmenides never claims that What Is is a plenum" (187);
- dass die traditionell mit Parmenides' programmatischem Vers B8.52 zusammengestellten Worte σὺ δ' ἄκουε λόγου στόλον οὐκ ἀπατηλόν (B17.26) des Empedokles sich ausschließlich auf die vorausgehende Darstellung der kosmologischen Rolle der Liebe (273-6) bezögen;
- dass Aristoteles in GC 2.7 Empedokles zu den Anhängern der Verwandelbarkeit der Elemente ineinander zähle (308) (Aristoteles' Einwand, dass die ὁμοιομερῆ laut dieser Theorie mechanische Synthesen seien, folge aus "his own supposition that qualitative alternation requires a single substrate", 310);
-dass in Arist. Ph. 1.8, 191a32f. (οὐδ' εἶναι πολλά φασιν ἀλλὰ μόνον αὐτὸ τὸ ὄν) keine Anspielung auf die eleatische, sondern auf eine allgemein vorsokratische Position vorliege (132f.).
Bei Palmers Einzelinterpretationen handelt es sich um sorgfältig ausgearbeitete, methodologisch (mit Ausnahme der Verschiebung von 28B8.34-41 nach 8.52, die ich für arbiträr und trotz Palmers Bemühungen ungerechtfertigt halte) unbedenkliche und diskutable Vorschläge, die auch sein Gesamtbild der Geschichte der Vorsokratik beachtenswert erscheinen lassen. Das Buch ist klar strukturiert, trotz seines Umfangs einheitlich und leserfreundlich (die Seiten 352-428 enthalten den Text des parmenideischen Gedichts mit englischer Übersetzung, eine ausführliche Bibliographie sowie nützliche Indices). Die Originalität der Thesen, die Ausführlichkeit der Argumentation und die formale Gründlichkeit machen es zweifellos zu einem bedeutsamen und höchst empfehlenswerten Beitrag zur Vorsokratiker-Forschung.
John Palmer: Parmenides and Presocratic Philosophy, Oxford: Oxford University Press 2009, XII + 428 S., ISBN 978-0-19-956790-4, GBP 60,00
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