Elizabeth Harvey untersucht frauenspezifische Aspekte der nationalsozialistischen Herrschaft in Ostmitteleuropa. Ihre Studie ist somit eine willkommene Ergänzung zu den schon zahlreichen Arbeiten über die männlichen Täter und Helfer deutscher Eroberungs- und Vertreibungspolitik in den Jahren vor und unter dem Nationalsozialismus, darunter die wegweisende Neueinschätzung der Ostforschung durch ihren Landsmann Michael Burleigh. [1]
Die Einleitung über "Frauen, 'Deutschtum' und Nationalsozialismus" bietet einen Überblick ihrer Quellen und einen klaren Problemaufriss. Harvey geht es darum, Kontinuitäten und Brüche von den nationalistischen (antipolnischen) und kolonialistischen Frauenverbänden des späten Kaiserreichs bis in die Zeit des kurzlebigen NS-Imperiums aufzuzeigen, die Rolle deutscher Frauen im Beherrschungsapparat in den besetzten polnischen Gebieten deutlich zu machen, insbesondere auf lokaler Ebene "im ländlichen Bereich" (39 f.) des Warthegaus, daneben auch in den Distrikten Lublin und Galizien des Generalgouvernements. Es soll rekonstruiert werden, welche Rolle den Frauen beim "Aufbau" im "Osten" zugedacht war und was die "Festigung deutschen Volkstums" dort konkret bedeutete.
Harvey hat einschlägige Archivbestände in Deutschland und Polen, die zeitgenössischen deutschen Schriften wie auch unveröffentlichtes Material analysiert, das sie selbst zusammentrug. Um den hochtrabenden Ton und die klischeehaften Bilder der nationalsozialistischen Propaganda zu brechen, geht sie in ihrer Darstellung wiederholt auf Konfliktlagen ein, die sich zwischen eifrigen Nationalsozialistinnen aus dem Reich und den oft tiefgläubigen Ansiedlern wie auch im Verhältnis zu jenen Lehrerinnen ergaben, die politisch-missionarischen Geist vermissen ließen. Wer sich zu viel und zu entgegenkommend mit Polinnen abgab, hatte einen schweren Stand.
Mitunter hätte ich gerne mehr über den Lebensweg der Frauen erfahren, die als Verfasserinnen von Berichten, Artikeln, Reportagen usw. zu Wort kommen; selbst zu den wichtigsten nationalsozialistischen Funktionärinnen - etwa den Leiterinnen der NS-Frauenschaft im Warthegau, Helga Thrö, und in Danzig-Westpreußen, Frieda Balcerek - fehlen grundlegende biografische Informationen. Harvey gleicht diesen Mangel zum Teil dadurch aus, dass sie mit 16 damaligen Akteurinnen Interviews geführt hat, unter ihnen eine Abteilungsleiterin der NS-Frauenschaft im Warthegau, zwei Führerinnen des Bunds Deutscher Mädel (BDM) sowie etliche Lehrerinnen und sogenannte Ansiedlerbetreuerinnen, die sich um die Volksdeutschen kümmerten; die Namen der Befragten bleiben trotz Kurzbiografien (433 ff.) anonym, so dass der Leser nicht immer imstande ist, deren Aussagen mit den übrigen Befunden richtig in Beziehung zu setzen. Die zwischen 1994 und 2001 geführten Gespräche dienen auch dazu herauszufinden, ob und inwieweit die Beteiligten später - in West- oder Ostdeutschland - ihren Einsatz (selbst-)kritisch reflektierten.
Im ersten Kapitel schildert Harvey die Anwerbekampagne unter jungen Frauen im Reich, mit deren Hilfe unter anderem NS-Frauenschaft und BDM tausende begeisterte Vollstreckerinnen für die Eindeutschungsarbeit in den eroberten Gebieten gewannen. Das nächste Kapitel befasst sich mit den Vorstellungen von dem Einsatzgebiet, das von vielen als "unheimliche Weite" angesehen wurde, die jedoch nichtsdestotrotz heimisch gemacht - in eine "deutsche Heimat" (157) umgestaltet - werden sollte. Dabei gingen, wie Harvey im dritten Kapitel erläutert, "Mütterlichkeit" und angemaßtes "Herrentum" (198) bei der Ansiedlerbetreuung Hand in Hand. Besonders die Dorfschullehrerinnen waren damit beauftragt, die "nächste Generation zu formen" (262), die das Land völlig in Besitz nehmen sollte (Kapitel 4). Das vorletzte Kapitel ist den Kindergärten in Ostgalizien und im Kreis Zamość des Distrikts Lublin gewidmet, ehe das letzte auf die dortige Ausbildung von sogenannten Dorfberaterinnen beim Ansiedlungsprojekt der SS näher eingeht.
Mehrmals erläutert die Autorin auf sehr beeindruckende Weise den Zusammenhang zwischen der angestrebten Eindeutschung und der Judenverfolgung - und schließlich dem Judenmord (295-298, 351 ff.). Er lag der Logik der immer weiter ausgreifenden Pläne des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums zugrunde, der stets Richtung und Tempo vorgab. Enteignung und Vertreibung der Juden und zahlreicher Polen waren die Voraussetzung für die Ansiedlung der aus dem Ausland kommenden Menschen mit deutschen Vorfahren. Rasch übernahmen offenbar die allermeisten Frauen "den Diskurs der Eroberung und der Kolonisierung" ihrer Männer und Kameraden, und er konnte "ebenso bösartig rassistisch" sein: Sie betrachteten die polnischen Gebiete als etwas, das "angeeignet, reorganisiert und neu bevölkert werden sollte" (195 ff.). Eine Studentin aus Heidelberg, die 1940 bei Leslau (Włocławek) einen Kindergarten einrichtete, hatte keine Bedenken, sich am Eigentum der entrechteten Juden zu bedienen, um die beschlagnahmten Räumlichkeiten auszustatten, und bei Drohobycz war es 1943 eine Selbstverständlichkeit, dass man sich das "noch fehlende Inventar und Geschirr [...] in der Synagoge" holte, die ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllen durfte (356). Auch im Gebiet Zamość integrierten Dorfberaterinnen Elemente des Grauens in ihren fürsorgerischen Berufsalltag, indem sie noch blutverschmierte Kleidung "aus dem Ghetto" an Bedürftige verteilten (381).
Es kam also zu einer "geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung" (357) - die Frauen führten die Gegenstände, welche ihre Volksgenossen in einem Massenraubmord ungeheuren Ausmaßes zusammengerafft hatten, einer neuen Nutzung zu. Sie schufen den Männern durch mannigfache Dienste heimelige "Zufluchtsorte" (419), auf die sie bei ihrem grausamen Handwerk angewiesen waren. Dieser Befund ließe sich gewiss auch auf die Partnerinnen der Täter erweitern - die Ehefrauen der Kommandanten von Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern, von SS-Männern und Polizisten, die mitunter ihre Männer besuchten oder aus Briefen über die Zustände unterrichtet waren.
In selbstauferlegter Ignoranz und gleichgültig gegenüber dem Schicksal der einheimischen Bevölkerung waren die Frauen stolz auf eigene Leistungen, und viele blickten in den Nachkriegsjahren mit Wehmut auf ihren etwas abenteuerlichen "Osteinsatz" zurück (414). "Ziel dieses Buches", schreibt dagegen Harvey am Ende, war es zu zeigen, wie sehr deutsche Frauen selbst Teil jenes Kapitels der deutschen Geschichte waren, die mit "Hitlers Krieg im Osten" und dem daraus resultierenden Verlust der Ostgebiete überschrieben ist (422).
Die Autorin hat mit ihrer 2003 schon auf Englisch erschienenen Studie [2], die sie für die deutsche Ausgabe aktualisiert hat, ein zuverlässiges Standardwerk geschaffen, das auf Jahre hinaus Geltung haben wird. Die Übersetzung ist nicht immer klar; etwa dort, wo es um "Visionen" geht (16, 21). Im Ortsregister vermisst man die heutigen Namen. Sehr gelungen erscheint mir die Bebilderung durch zeitgenössische Fotografien.
Anmerkungen:
[1] Michael Burleigh: Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988. Das Buch ist bis heute nicht ins Deutsche übersetzt.
[2] Elizabeth Harvey: Women and the Nazi East. Agents and Witnesses of Germanization, London 2003.
Elizabeth Harvey: "Der Osten braucht Dich!". Frauen und nationalsozialistische Germanisierungspolitik. Übersetzt von Paula Bradish, Hamburg: Hamburger Edition 2010, 479 S., ISBN 978-3-86854-218-9, EUR 35,00
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