"Das 'italienische' Jülich", der Titel dieses Buches, ist Programm" schreibt Guido von Büren in der Einführung (14) und stellt seinem nachfolgenden Aufsatz die unbestrittene Tatsache voran, dass "das Schloss in der Zitadelle Jülich [...] zu den wenigen Bauwerken nördlich der Alpen [gehört], bei denen eine direkte Umsetzung italienischer Architekturvorstellungen der Renaissance zu konstatieren ist." (115) Die 2009 erschienene Publikation konzentriert sich also auf die Renaissancestadtanlage Jülich, die im Auftrag Herzog Wilhelms V. von Jülich-Kleve-Berg durch den italienischen Baumeister Alessandro Pasqualini in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts realisiert wurde. Insgesamt 14 Autoren haben 21 Beiträge für das opulente und reich bebilderte Werk von rund 550 Seiten geliefert. Die Publikation, die sich als Band V in die Pasqualini-Studien einreiht und zugleich als Band 8 in die Jülicher Forschungen, ist auch ein Ergebnis des überaus aktiven Fördervereins "Festung Zitadelle Jülich e.V." sowie des Jülicher Geschichtsvereins 1923 e.V. Jedoch wird bei dem Leser keineswegs die vorangegangene Literatur als bekannt vorausgesetzt, sondern das Werk, das einen weiten Bogen schlägt, bleibt aus sich heraus verständlich.
Während die heutigen Besucher italienischer Städte, die in der Hochrenaissance ihre entscheidende Prägung erfuhren, von der weitgehend unveränderten städtebaulichen Situation fasziniert sind, hat Jülich ein Schicksal erfahren, das für viele Städte Westeuropas typisch ist: nämlich zum einen die Schleifung der Festungsanlagen (in Jülich unter den Preußen zu Beginn der 1860er-Jahre), und schließlich die nahezu vollständige Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Während beim Wiederaufbau der verantwortliche Planer, der Aachener Architekturprofessor René von Schöfer bewusst Bezug nahm auf die für Jülich in Stadtstruktur und Erscheinungsbild wesentliche Phase der Mitte des 16. Jahrhunderts, um damit das Erbe assoziierbar und erlebbar zu machen, werden im Moment Bauprojekte diskutiert, die diesem Ansatz zum Teil diametral gegenüberstehen.
Die Publikation nimmt also nicht nur Bezug auf den 450. Todestag Alessandro Pasqualinis, sondern sie ist auch ein Plädoyer für den identifikationsstiftenden Rückbezug auf die konstituierende Gestalt Jülichs als Idealstadt der Renaissance und zugleich für den bewussten und schonenden Umgang mit der vielfach noch nicht in ihrem Wert erkannten Wiederaufbauarchitektur.
Der hier erstmals ins Deutsche übertragene Aufsatz von Franz Graf Wolff Metternich (gest. 1978) aus dem Jahr 1974, der die Rolle Alessandro Pasqualinis und die Verbreitung bramantescher Architektursprache in Deutschland beleuchtet, kann als Herzstück der Publikation verstanden werden. Graf Wolff Metternich, der von 1928 bis 1950 Provinzialkonservator der Rheinprovinz bzw. Landeskonservator Rheinland war, bevor er dann 1953 für zehn Jahre Direktor der Bibliotheca Hertziana in Rom wurde, war also durch seine Tätigkeiten mit der herausragenden architektonischen Qualität und Bedeutung von Jülich vertraut und erkannte im Vergleich mit der römischen Architektur der Hochrenaissance den direkten Einfluss Bramantes und der Bauhütte von St. Peter auf den verantwortlichen Architekten Alessandro Pasqualini.
Jürgen Eberhardt, Emeritus der Architekturfakultät der Fachhochschule Köln (Institut für Baugeschichte und Denkmalpflege) legte bereits 1978 eine bahnbrechende Studie über Jülich als Idealstadtanlage der Renaissance vor. Eberhardt, der seine Forschungen auf diesem Gebiet kontinuierlich weiterverfolgt hat, meldet sich in der Publikation gleich mehrfach zu Wort, ebenso wie seine Mitstreiter, Conrad Doose und Günter Bers. Gemeinsam engagieren sie sich seit Beginn der 1990er-Jahre für die Aufarbeitung dieses Themenkomplexes und fördern den Diskurs über Tagungen, Publikationen und Ausstellungsprojekte. Als wesentliche Akteure treten in dem Werk zudem Hajo Lauenstein, Professor an der RWTH Aachen für das Lehrgebiet Freiraum und Grünplanung auf sowie - als Vertreter einer jüngeren Generation - Guido von Büren. Sein profundes Wissen um die Renaissance nördlich der Alpen hat von Büren als Kurator der großen letztjährigen Ausstellung "Renaissance am Rhein" im LVR-Landesmuseum Bonn eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Einen Bezug zur römischen Hochrenaissance stellt Hajo Lauenstein her, aber nicht etwa zur Architektur, sondern vielmehr über die Arithmetik und Geometrie zu Raffaels Fresko "Die Schule von Athen". Mithilfe fotogrammetrischer Aufnahmen geht er der Frage nach, ob und inwieweit sich die Maßverhältnisse dieses Gemäldes auf die Jülicher Schlosskapelle übertragen lassen. Davon ausgehend wurden von seiner Seite zwei Diplomarbeiten angeregt, denen in der Publikation der erste Platz unter den Aufsätzen eingeräumt ist. Franziska Mundorf und Sabine Prokosch gehen hier den musikalischen Intervallen in der Jülicher Schlosskapelle nach. Ihnen war es jedoch nicht möglich, "ein schlüssiges Gesamtkonzept im Sinne eines harmonikalen 'Kanons' zu finden." (50) Auch in dem folgenden Beitrag von Lauenstein zu Geometrie und Planung der Jülicher Befestigungsanlagen wird der Leser mit sehr speziellen Ausführungen recht strapaziert. Insgesamt gehen die Untersuchungen jedoch nicht auf, sodass man auch hier am Schluss desillusioniert lesen muss: "Ein stimmiges Gesamtensemble im Sinne der Planungs- und Gestaltungsmaximen der Renaissance wurde jedenfalls letztlich nicht perfekt realisiert." Grundsätzlich entspricht es aber der Intention dieser Publikation mit den Aufsätzen keineswegs nur Lösungen zu präsentieren, sondern verbunden mit Thesen Denkanstöße zu bieten (16), um einen weiteren Diskurs zu befördern. So sind eben auch bewusst schon die Titel einiger Aufsätze mit Fragezeichen versehen, die deutlich machen, dass es keine abschließende Antwort in der Verfolgung eines bestimmten Ansatzes gibt.
Auf eine Diskussion des Ansatzes von Lauenstein muss nicht lange gewartet werden, denn Jürgen Eberhardt nimmt bereits in dem folgenden Aufsatz den Ball auf - mit dem Hinweis, Lauenstein habe "ein wesentliches Element in den geometrischen Gegebenheiten der Grundriss-Konfiguration übersehen", das er im folgenden erläutert (91). Es bleibt jedoch festzuhalten, wie Eberhardt und Doose dies auch in einem weiteren Aufsatz tun, dass die zweifellos auf mathematisch-geometrische Berechungen zurückgehende Grundlage von Grundrisskonstruktion und Planentwurf der Stadtanlage sich auch schon deswegen nicht exakt nachvollziehen lassen, weil die Topografie des Rurtales ebenso wie vorhandene, zum Teil noch auf römische Zeit zurückgehende Strukturen vom Idealplan abweichende Korrekturen verlangten. Pasqualini erweist sich damit also durchaus als Praktiker, der eben "nicht einer theoretisch-abstrakten Planvollkommenheit folgte" (148), wie es im Übrigen auch nie bei der Realisierung von Idealstädten der Fall war.
Bereichernder ist eindeutig die Lektüre der Beiträge, die sich an den bauhistorischen Ansatz Graf Wolff Metternichs anschließen, so wenn Thomas Eberhardt der Rekonstruktion der einstigen Hoffarkaden des Schlosses nachgeht oder Jürgen Eberhardt gemeinsam mit Conrad Doose die Treppentürme, die in Form von Dachreitern die Fernsicht des Schlosses entscheidend geprägt haben müssen, versucht zu lokalisieren. Außerdem erscheint hier der erstmals ins Deutsche übersetzte grundlegende Aufsatz der beiden Autoren "Jülich - die wiedererstandene Stadt" - zurückgehend auf einen Vortrag auf dem Symposium "I confini perduti" in Bologna, der 2005 im entsprechenden Handbuch publiziert wurde. Guido von Büren konzentriert sich hingegen auf den überlieferten Bestand und zwar auf das architektonische Detail der ionischen Volutenkapitelle am herzoglichen Schloss. Er weist nach, dass Pasqualini eine umfassende Kenntnis der antikisierenden Formensprache der italienischen Renaissance besaß - und dies sicher aufgrund eigener Anschauungen, aber auch unterstützt durch die zu dieser Zeit bereits verbreitete Traktatliteratur (125f.).
Auch mit ihren weiteren Beiträgen - hier sind vor allem die detaillierten Ausführungen zu Raffaels Fresko "Die Schule von Athen" zu nennen - beweist die lesenswerte Publikation einmal mehr, dass sich in Jülich ein Zentrum für die Erforschung von Renaissancearchitektur herausgebildet hat. Noch lange nicht erschöpfte Anknüpfungspunkte sind die Vita Pasqualinis ebenso wie die Gesamtanlage aus der befestigten Stadt und der Zitadelle mit dem Residenzschloss - einer Einheit, die bis zum Jahr 1860 Bestand hatte (467). Ansporn zur Weiterführung der Forschungen ist die Überzeugung, dass "das einstige Jülicher Schloss [...] selbst in den überkommenen Resten das bedeutendste Zeugnis der italienischen Hochrenaissance im Nordwesten Europas (ist)" (151) - einer Architektur die auf mehrere Künstlergenerationen prägend wirkte.
Conrad Doose / Jürgen Eberhardt / Hajo Lauenstein (Hgg.): Das 'italienische' Jülich. Grundzüge im Konzept Alessandro Pasqualinis für die Stadtanlage, die Zitadelle und das Residenzschloss (= Jülicher Forschungen; 8), Jülich: Fischer 2009, 551 S., ISBN 978-3-933969-74-3, EUR 49,80
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