Dass Magisterarbeiten in Buchform publiziert werden, ist eher eine Ausnahme und weckt schon von daher das Interesse des fachkundigen Lesers. Die Kieler Kunsthistorikerin Julia Trinkert hat sich für ihre Forschungen ein auf den ersten Blick scheinbar abgelegenes Thema ausgewählt, das spätgotische Hochaltarretabel der Kirche in Källunge auf Gotland. Das Retabel wurde Ende des 17. Jahrhunderts aus der Marienkirche in Visby erworben, wo es möglicherweise auf dem Hochaltar aufgestellt war, einem der prominentesten Orte der schwedischen Ostseeinsel. Die Forschungsliteratur zu dem wohl im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts entstandenen Schnitzaltar ist schmal, zielt aber auf eine der Kernfragen der norddeutschen wie skandinavischen Kunstgeschichte: auf das Problem der Bedeutung einzelner Kunstzentren. Während Max Hasse, als Kurator der mittelalterlichen Sammlung des Lübecker St. Annen-Museums der seiner Zeit größte Kenner der Materie, das Retabel als lübisches Werk in die unmittelbare Nachfolge des sogenannten Imperialissimameisters einordnete, plädierte Peter Tångeberg, einer der renommiertesten schwedischen Forscher auf diesem Gebiet, für eine mecklenburgische Herkunft. Die Unvereinbarkeit dieser Thesen muss als typisch für die ältere Forschung gelten, in der sich für die in Skandinavien erhaltenen Kunstwerke generell ein auf Lübeck zentriertes Erklärungsmodell und eine stärker auf lokale Zentren bedachte Sichtweise gegenüberstehen.
Trinkerts Forschungen beginnen mit einer Bestandsaufnahme (11-51). Vor aller Thesendiskussion wird das Retabel in seiner technischen, materiellen, künstlerischen und ikonografischen Eigenart akribisch beschrieben. Schon hier zeigt sich, wie wichtig die für unser Fach eigentlich selbstverständliche Zusammenarbeit mit Restauratoren sein kann. Das Retabel wurde bei seiner Umsetzung nach Källunge verändert, als man es mit den Resten des dortigen Altaraufsatzes, einem bereits im 14. Jahrhundert entstandenen Dorsale kombinierte. Dabei gingen Predella und Bekrönung des Retabels verloren. Auch die Rahmenkonstruktion wurde verändert, so dass ohne restauratorische Begutachtung nicht mehr zu klären ist, ob die hinter den Drehflügeln am Schrein befestigten Standflügel ursprünglich in einer das gesamte Gehäuse einbeziehenden Rahmenzarge saßen. Eine derartige Konstruktion wäre für Lübeck relativ ungewöhnlich, ist jedoch typisch für andere Regionen, beispielsweise für das zentrale Dänemark. Aber auch bei frei an den Schrein montierten Standflügeln zeigen sich regionale Besonderheiten, etwa eine gegenüber dem Schrein größere Höhe der Bretter, wie sie wohl charakteristisch für mecklenburgische Werke ist. Leider sind die Befunde in Källunge nicht eindeutig genug, um hier zu einer genauen Einordnung zu gelangen (11-17).
Im Gegensatz zur Konstruktion scheint sich durch den Umbau am inhaltlichen Umfang des Werks nur wenig geändert zu haben. Abgesehen von den verlorenen Darstellungen (?) der Predella macht das Programm einen geschlossenen Eindruck. Der geöffnete Schrein zeigt eine fast vollplastische Marienkrönungsgruppe, die Flügel die Figuren der zwölf Apostel (17-25). Im geschlossenen Zustand wird in zwei Registern ein gemalter achtteiliger Zyklus von Szenen der Kindheitsgeschichte Christi dargestellt (31-48). Skulpturen wie Malereien werden in der Art ihrer technischen wie künstlerischen Ausführung genau dokumentiert, ohne dass sich dabei Charakteristika abzeichnen würden, mit denen das Werk eindeutig von einer bestimmten Region abgegrenzt werden könnte.
Der Bestandsaufnahme folgt die Darstellung des historischen Kontexts, wobei die Überlegungen zur ursprünglichen Aufstellung in der Marienkirche und zum Umkreis möglicher Stifter allerdings keine belastbaren Fakten liefern (53-73). Sicher ist nur, dass es sich bei dem Retabel um keine einheimische Arbeit handeln kann. Trinkert führt zum Vergleich die wohl in Schweden, wenn nicht sogar auf Gotland entstandenen Retabel in Lye, Kräklingbo, Vall und Linde an, die sich qualitativ in ihrer ganzen Machart so deutlich von Källunge unterscheiden, dass die gemeinsame Herkunft aus einer Region auszuschließen ist (70-73). Mit Blick auf die historische Entwicklung der Insel kann das kaum verwundern. Gotlands bis in die Bronzezeit zurückreichende Stellung als führendes Handels- und Kulturzentrum im Baltikum provozierte 1361 einen verheerenden Feldzug des dänischen Königs Valdemar Atterdag, der die bereits damals im Niedergang befindliche Insel endgültig zu provinzieller Bedeutungslosigkeit verdammte. An den etwa anderthalb Jahrhunderte später entstandenen Retabeln zeigt sich das in altertümlichen Konstruktionsweisen, grober Ausführung und künstlerisch schlichter Qualität. Gotland bot zu dieser Zeit den für die Anfertigung derartiger Werke notwendigen Spezialisten keine Arbeitsbedingungen mehr, die es erlaubt hätten, genügend Fachleute mit ausreichender Ausbildung anzusiedeln. Vor Ort entstandene Werke reichten anders als im 12. und 13. Jahrhundert über ein provinzielles Niveau nicht mehr hinaus.
Angesichts seiner Qualität muss das Marienretabel in Källunge importiert worden sein. Zur Klärung seiner Provenienz folgt Trinkert dem Schema ihrer Bestandsaufnahme, in dem sie Konstruktion, Skulpturen und Malereien getrennt voneinander auf Bezüge zu anderen Werken untersucht (74-99). Die deutlichsten Parallelen sind in Mecklenburg zu finden, wobei Trinkert allerdings kein zweites Werk nachweisen kann, an dem alle der für Källunge tätigen Handwerker erneut nachweisbar wären. In Wismar finden sich mit dem Thomas- und Schifferretabel in der Nikolaikirche sowie dem Martin-Georg-Retabel in der Heiligen-Geist-Kirche gleich drei Schnitzaltäre, die einen eng mit Källunge vergleichbaren Aufriss zeigen. Rahmenprofilierung, Füllungen der Unterzüge und insbesondere die hoch gestelzten Bögen der Schleierbretter über den Figuren in diesen um 1500 entstandenen Schnitzaltären sind so deutlich mit Källunge verwandt und gleichzeitig gegen lübische Werke abgrenzbar, dass allein dieser Befund für eine mecklenburgische Herkunft sprechen würde. Die Skulpturen in Källunge finden Vorbilder in den Figurentypen der Hochaltarretabel in den Domkirchen von Güstrow und Schwerin, beide annähernd gleichzeitig um 1495 entstanden, die Malereien dagegen eine deutliche, wenn auch qualitativ bessere Parallele in den Flügeln des um 1520 entstandenen Hochaltarretabels in Parchim. Ist mit diesen Werken bereits das künstlerische Umfeld benannt, so zeigen zwei Marienretabel in Frauenmark und Neukloster, beide um 1520, zumindest in ihren konstruktiven Anteilen so enge Verbindungen zu Källunge, dass hier von Arbeiten derselben Schreinerwerkstatt auszugehen ist.
Mit diesen Befunden dürfte die mecklenburgische Herkunft des Källunger Retabels zweifelsfrei bewiesen sein. Bemerkenswert erscheint allerdings die Tatsache, dass Trinkert für dessen Ausführung keine Werkstatt benennen kann. Anders als bei den von der Forschung ungleich besser dokumentierten Werken lübischer Provenienz scheint sich im mecklenburgischen Denkmälerbestand kein kontinuierlich zusammenarbeitender Verband von Handwerkern abzuzeichnen. Es bleibt vollkommen unklar, wer als Auftragnehmer der jeweiligen Retabel fungierte und demnach die Visierungen lieferte, ob dafür ein Schreiner, Bildschnitzer oder Maler verantwortlich war. Vielleicht ändert sich dieses Bild mit besseren Kenntnissen des Denkmälerbestandes, es könnte allerdings auch Folge der im Vergleich zu Lübeck ungleich bescheideneren Kunstproduktion gewesen sein. Denkbar wäre die Ansiedlung einer kleinen Zahl von Spezialhandwerkern aus unterschiedlichen Bereichen, die an einem Ort, vielleicht in Wismar, gleichberechtigt nebeneinander tätig waren. In Lübeck scheinen vor allem Bildschnitzer und Maler als Auftragnehmer fungiert zu haben, für die von Trinkert angeführten Retabel könnte das auch ein Schreiner gewesen sein. Derartige Auftragsvergaben sind nur selten dokumentiert worden, dürften ursprünglich aber wohl weiter verbreitet gewesen sein. Als entferntes, prominentes Beispiel wäre etwa das durch den Kistler Erhart Harschner an die Rothenburger St. Jakobskirche gelieferte Heilig-Blut-Retabel zu nennen, für das Tilman Riemenschneider nur als Zulieferer tätig war.
Derartige Fragen kann das Buch nicht beantworten, sie überschreiten den Rahmen einer Magisterarbeit bei weitem. Man darf daher auf die im Schlusswort angekündigte Dissertation der Verfasserin gespannt sein, mit der dieser Themenkomplex erschöpfender behandelt werden soll. Ungeklärt bleiben auch die stilistischen Wurzeln der beschriebenen Künstler. Mit Blick auf die von Trinkert nur knapp aufgezeigten Parallelen zu den Skulpturen der Retabel in Schwerin und Güstrow und den Malereien des Retabels in Bützow stellt sich die Frage nach einer lübischen Herkunft oder Ausbildung der Künstler (86-92, 103-107). Ohne damit den Blick erneut auf eine vermeintlich überragende Bedeutung der Hansestadt fokussieren zu wollen, scheint sich der alte Forschungsstreit nicht so leicht in ein "Entweder - Oder" auflösen zu lassen.
Alles in allem ein anregendes Buch, das den Blick auf einen bisher zu Unrecht stark vernachlässigten Bestand an Denkmälern im Ostseeraum wirft und entscheidende Fragen zur Entwicklung der spätgotischen Kunst im skandinavischen Raum berührt. Man hätte dem Text vielleicht etwas mehr Straffung gewünscht, aber das kann man einer Magisterarbeit wohl kaum zum Vorwurf machen, die ihre Publikation sicherlich verdient hat.
Julia Trinkert: Das Marienkrönungsretabel in der Kirche zu Källunge (Gotland) und seine mecklenburgische Provenienz. Eine Studie zu Kunstproduktion und Werkstattorganisation im spätmittelalterlichen Ostseeraum, Kiel: Verlag Ludwig 2011, 160 S., ISBN 978-3-86935-048-6, EUR 29,90
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