Schon der Titel klingt provokant. Tatsächlich behandelt Moshe Zuckermann, Philosoph und Historiker an der Universität Tel Aviv, ein heikles Thema: Den politisch motivierten Vorwurf des Antisemitismus als Herrschaftsinstrument und seine Auswirkungen auf die politische Kultur Israels und Deutschlands. Zuckermann ist sich dabei der Tatsache wohl bewusst, dass diese Materie sehr sensibel ist, fordert aber dazu auf, genau hinzusehen: "Bei allem Abscheu vor dem manifesten Antisemitismus unserer Tage, gilt es auch dem verdinglichenden Charakter der (wie auch immer ehrlich) entrüsteten Reaktion auf ihn zu begegnen. Denn nicht nur der Antisemitismus selbst ist eine der verruchtesten Formen der Ideologie, auch seine sich kritisch gerierende Rezeption kann sich als wesentlich ideologisch entpuppen." (8)
Eindringlich und schonungslos deckt Moshe Zuckermann eine in beiden Ländern praktizierte Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs für Zwecke auf, die mit der Bekämpfung des Antisemitismus nur wenig zu tun haben: "Längst schon ist die lustvoll heteronome Verwendung von 'Antisemitismus' als Parole im vermeintlichen Kampf gegen Antisemitismus in 'eine fürchterliche Epidemie [...]' umgeschlagen. Längst schon ist sie zum Totschlag-Ideologem eines durch und durch fremdbestimmten Anspruchs auf politisch-moralische Gutmenschlichkeit geronnen. Ob man diese Epidemie heilen kann, wird sich erst erweisen müssen. Dass man sie erklären muss, scheint mittlerweile dringlicher denn je." (8)
Wie lautet Zuckermanns Erklärung für diese "Epidemie"? Und wer sind die Protagonisten seiner Untersuchung? In zwei Teilen, die sich jeweils mit einem Land und dessen politischer Kultur befassen, analysiert er in den letzten Jahren publizierte Texte, Reden und sonstige Äußerungen von israelischen, deutschen und deutsch-jüdischen Persönlichkeiten. Vor dem Hintergrund der immerwährenden Eskalation des Nahostkonflikts, mithin der zunehmenden Kritik an Israels Palästinenser-Politik, kommen vor allem die Verteidiger der israelischen Ordnung zu Wort: Hochrangige israelische Politiker, etablierte jüdische Prominenz in Deutschland und nichtjüdische-deutsche Israel-Anhänger - darunter vor allem die sogenannten Antideutschen, eine Strömung innerhalb der politischen Linken, die sich vehement gegen einen postulierten neuen deutschen Nationalismus wendet und zugleich für Israel eintritt.
Zuckermanns Analyse ergibt einen in diesen Kreisen dominierenden Diskurs, dem der Vierklang "Israel", "Juden", "Shoah" und "Zionismus" zugrunde liegt: Der jüdische Staat sei eine historisch notwendige und gerechte Konsequenz der Ermordung der europäischen Juden; jede Kritik an Israel oder an der Haltung Israels im Nahostkonflikt könne die Existenz des jüdischen Staates gefährden. Die Folge ist ein Unantastbarkeitsdiskurs, in dem einerseits Israels Beitrag zur aktuellen Situation dezidiert ausgeblendet wird, andererseits Israels erklärte Feinde beziehungsweise Kritiker der bestehenden Ordnung als Antisemiten abgestempelt werden. Demnach wird die Debatte von der Ebene der Sachverhalte auf die Ebene der Gesinnung verschoben. Entsprechend bitter ist Zuckermanns Fazit, seine Protagonisten seien unfähig zum konstruktiven Dialog.
Diese Unfähigkeit zeigt Zuckermann an mehreren Fallbeispielen, wobei die Analyse der Rede, die Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am 24. September 2009 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen hielt, besonders eindringlich ist. Dreh- und Angelpunkt dieser "bemerkenswerte[n] Brandrede" (23) ist der Konnex zwischen der Shoah und der vom Iran Mahmud Ahmadinedschads ausgehenden Gefahr für Israel. Der Antisemitismus der Vergangenheit wird so an den Hass gegen Juden beziehungsweise Israel in der Gegenwart gekoppelt. Zugleich erscheint der Nahostkonflikt als bloße Folge einer Urfeindschaft gegenüber den Juden. Für Zuckermann sind diese Argumentation zur Bestätigung der eigenen Politik und der Rückgriff auf einen scheinbar unaufhebbaren Antisemitismus primär taktisch bedingt: Aufgrund der prekären politischen Lage des zionistischen Staates habe Israel die Wahl zwischen inneren Unruhen, würden die eroberten Gebiete geräumt, und den Gefahren, die mit der Okkupation verbunden sind. "Beide Optionen stellen eine ernste Bedrohung für das gesamte zionistische Projekt dar. Das muss Benjamin Netanjahu [...] besser wissen als viele andere. Und weil er in dieser Situation weder ein noch aus weiß, rekrutiert er den Iran, die Shoah, die friedensunwilligen Palästinenser und die feindselige Weltöffentlichkeit als Blitzableiter im sich gegenwärtig global über Israel ergießenden Gewitter." (37)
Doch handelt es sich dabei nur um eine manipulative Strategie der Schuldzuweisung? Verbirgt sich hinter Netanjahus Worten (und Politik) nicht ein längst verinnerlichtes, in sich abgeschlossenes und für unwiderlegbar gehaltenes Narrativ? Wenn Netanjahus eigentliche Motivation für diese manipulative Rede lediglich gute Taktik gewesen wäre, könnte er seine Meinung womöglich revidieren. Da der Ministerpräsident aber aus Überzeugung handelt, ist er auch von seinen Schuldzuweisungen überzeugt. Der Zionismus erscheint so als die einzig mögliche Antwort auf die "ewige und unerklärliche Feindseligkeit der Welt" den Juden gegenüber. In diesem Sinne ist Netanjahus Rede nicht nur manipulativ, sondern auch sehr authentisch.
Eine in sich geschlossene, manichäische Weltanschauung macht Zuckermann auch bei seinen deutsch-jüdischen beziehungsweise deutschen Protagonisten aus: Bei der "etablierten jüdischen Intelligenz" und bei den sogenannten Antideutschen. Diese "bedingungslosen" Israel-Anhänger können zwar sehr manipulativ agieren, doch sie sind ihren Überzeugungen, ja ihrer Weltanschauung fest verhaftet. Für sie gibt es nur gut und böse, das heißt: für oder gegen Israel. Sachliche Auseinandersetzungen sind vor diesem Hintergrund schwierig. Die Folge ist ein Unantastbarkeitsdiskurs mit den Charakteristika Entpolitisierung, Dialogunfähigkeit, Diffamierungen und letztlich dem Vorwurf des Antisemitismus als Herrschaftsinstrument.
Bei der etablierten jüdischen Intelligenz in Deutschland führt Zuckermann diese Haltung auf die Unfähigkeit zurück, die eigene Geschichte als Juden der Diaspora ausgerechnet im "Land der Täter" zu verarbeiten. Diese Juden könnten nicht wirklich begreifen, was in Israel vor sich gehe, "weil sie Israel nur als ein Abstraktum wahrnehmen, als Projektionsfläche ihrer diasporischen Idiosynkrasien, als das große fremde Projekt des Zionismus, dem sie letztlich nicht angehören - sie als in Deutschland lebende Juden am allerwenigsten" (173).
Auch mit Blick auf die "Antideutschen" zielt Zuckermanns Erklärung auf die Kompetenz, Geschichte zu verarbeiten: Die eigentliche Ursache für ihren auf Israel projizierten Philosemitismus sei in den Defiziten bei der Aufarbeitung der eigenen, vom Antisemitismus beladenen Geschichte zu suchen: "Ähnlich wie der Antisemit, der in allem Jüdischen paranoid eine Bedrohung gewahrt, weil er auf den Juden eigene Ängste und Lebensdefizite projiziert und sich mit ihm gerade darin heimlich identifiziert, erblickt der 'antideutsche' Juden- und Israelfreund in allem den drohenden 'Antisemitismus', auf den er das projiziert, was er sich selbst nicht eingestehen darf, gerade weil er sich mit ihm identifiziert: die eigene, in die Latenz verwiesene antisemitische Regung. [...] Das, was sie [die Antideutschen] meinen, an 'den Juden', an 'Israel', am 'Zionismus' 'wiedergutmachen' zu sollen, ist nichts als die durchs Zulässige überspielte Wut darüber, nichts 'wiedergutmachen' zu können, mithin im (kollektiv) Verbrochenen verharren zu müssen. Einzig der Jude kann sie von ihrer Schuld, vom Unbehagen ihres psychischen Seins erlösen. Das macht sie wütend; die Wut können sie sich aber nicht erlauben; daher tabuisieren sie den Juden und kompensieren ihre Aggression ihm gegenüber, indem sie ihn (und alles, was zu ihm gehört) unantastbar werden lassen." (162 f.)
Solche Aussagen sind starker Tobak, und das nicht nur angesichts der fragilen jüdisch-deutschen Beziehungen. Doch man fragt sich, ob die von Zuckermann diagnostizierte "neue Epidemie" des Philosemitismus wirklich überraschend ist, wenn man gleichzeitig bedenkt, wie verwurzelt der Judenhass im Abendland über die Jahrhunderten hinweg war. Es ist schon fast nachvollziehbar, dass die Angst vor dem Antisemitismus Blüten wie den Unantastbarkeitsdiskurs treibt. Die entscheidende Frage bleibt, wie souverän die deutsche Gesellschaft damit umgeht. Zuckermanns Urteil - "ausufernde Hysterie" und "vorauseilende Selbstzensur" - weist allerdings erhebliche Defizite nach.
Engagiert, mutig, schonungslos, sprachlich und analytisch auf hohem Niveau vermag das Buch den Leser zu fesseln. Trotz düsterer Erkenntnisse wird deutlich: Antisemitismus-Vorwürfe sind zwar eine effektive Waffe gegen Israel-Kritiker, doch der Konflikt um Israel/Palästina wird durch Israels Entlastung nicht nur nicht gelöst, sondern nur noch verschärft - auch für Israels bedingungslose Anhänger keine erfreuliche Einsicht.
Moshe Zuckermann: "Antisemit!". Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Wien: Promedia Verlagsgesellschaft 2010, 208 S., ISBN 978-3-85371-318-1, EUR 15,90
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