Russlands Kolonialgeschichte spielte sich zu einem großen Teil in Sibirien ab. Die Erschließung des gigantischen Raumes vom Ural bis nach Alaska lässt drei Stränge erkennen: Eroberungszüge von Kosaken, Händlern und Jägern auf der Suche nach wertvollen Pelzen, Vorstöße der zarischen Staatsgewalt durch Gründung von Festungen und Entsendung von Beamten und schließlich wissenschaftliche Expeditionen, die sowohl der Erforschung neuer Gebiete dienten als auch den staatlichen Machtanspruch manifestieren sollten.
Zur Geschichte dieser Forschungsreisen, die seit den 1720er Jahren in staatlichem Auftrag organisiert wurden, haben Mitarbeiter des Bonner Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte erneut einen Beitrag geleistet. Es handelt sich um die erste deutsche Originalausgabe von Tagebuchnotizen des Arztes Carl Heinrich Merck, der von 1786 bis 1792 als Mitglied der "Geheimen astronomischen und geographischen Expedition zur Erforschung Ostsibiriens und Alaskas" von Ochotsk über Kamčatka, die Alëutischen Inseln und die Halbinsel Čukotka bis nach Alaska reiste.
Das Unternehmen, besser bekannt als die Billings-Saryčev-Expedition, verfolgte das Ziel, die Expansion des Zarenreiches auf die Alëuten und nach Alaska voranzutreiben und Russlands Hoheit in diesen Gebieten zu behaupten, an denen auch die britische und die spanische Kolonialmacht Interesse zeigten. Einen wichtigen Schritt in diesem Kolonisierungsprozess bildete die systematische wissenschaftliche Erforschung des neuen Territoriums. Die Teilnehmer der Expedition hatten den Auftrag, Informationen über die wenig bekannte Region zu liefern. Carl Heinrich Merck, der Autor der vorliegenden Aufzeichnungen, musste die Flora, Fauna, Meteorologie und Topographie beschreiben und darüber hinaus ethnographische Beobachtungen anstellen.
Der Autor könnte als ein typischer Vertreter jener wissenschaftlichen Elite des Russischen Reiches gelten, die sich im 18. Jahrhundert noch fast ausschließlich aus Ausländern rekrutierte: In Göttingen als Sohn eines Arztes geboren, studierte Merck in Gießen und Jena Medizin und folgte gleich nach der Universität einer Einladung Katharinas II., seine Arztkarriere in Russland zu beginnen. Nach einer Prüfung durch das Medizinalkollegium trat er als Arzt eine Stelle in der staatlichen Medizinalverwaltung in Irkutsk, dem Zentrum Ostsibiriens, an. Der ungewöhnliche Teil seiner Biographie begann, als Merck 1786 in die Expedition unter der Leitung von Joseph Billings und Gavriil Saryčev eintrat.
Dem Tagebuch, ergänzt durch einen Brief Mercks an seinen Kollegen Peter Simon Pallas, haben die Herausgeber eine umfangreiche Einleitung vorangeschickt. Sie unterrichten den Leser über die Geschichte der Erforschung Sibiriens, den Kontext der Expedition und ihre Vorbereitung, die Person Carl Heinrich Mercks und das Schicksal der vorliegenden Quelle. Nicht nur ermöglichen die detaillierten Informationen eine Kontextualisierung der Quelle. Den Herausgebern ist es auch gelungen, einen Eindruck von der Wissenschaftswelt des späten 18. Jahrhunderts zu vermitteln, die von persönlichen, häufig auch verwandtschaftlichen europaübergreifenden Verflechtungen geprägt war.
Der junge Arzt hat seinen Auftrag gewissenhaft erfüllt: Die edierten Aufzeichnungen liefern viele Details zur topographischen und geologischen Beschaffenheit der Gebiete, die Merck als einer der ersten Europäer betrat. Sehr viel Raum widmet er der Beschreibung der Flora und Fauna, die allerdings in ihrer Ausführlichkeit für Biologen ergiebiger sein dürfte als für Historiker. Von nachrangiger Bedeutung sind Notizen ethnographischen Inhalts.
Beobachtungen der Lebensart der indigenen Völker, Beschreibungen ihrer sozialen Strukturen und ihrer Bräuche findet man hier leider selten. Nur gelegentlich liest man über die Zubereitung von Essen, Tänze, die Einrichtung der Behausungen oder Sitten, die durch den Kontakt mit den Eroberern schon im ausgehenden 18. Jahrhundert zum Teil im Verschwinden begriffen waren: Verlor ein Mann seine Frau, hängte er "die Leiche seines Weibs, die Eingeweide ausgenommen, mit Moos ausgestopft über seine Schlafstelle; eben so die Leichen kleiner Kinder biß die Mutter ein anderes gebiert" (213). Solche Schilderungen sind rare Perlen zwischen anatomischen Details von Robben und der Lagebeschreibung von heißen Salzquellen.
Das Vorherrschen naturwissenschaftlicher Informationen gegenüber ethnographischen Beobachtungen ist umso bedauerlicher, als Merck einen unschätzbaren Beitrag zur Erforschung der indigenen Völker des nordostpazifischen Raumes geleistet hat. Die Schrift "Nachrichten von den Sitten und Gebräuchen der Tschuktschen", die auf seinen Recherchen während der Expedition basiert, gilt, so die Herausgeber, "als das erste ausführliche Dokument zur Ethnologie dieses sibirischen Volkes" (59). Diese wissenschaftlich äußerst ergiebige und spannende Schrift ist der Öffentlichkeit bisher weitgehend unbekannt geblieben, denn sie ist nur einmal abgedruckt worden, und zwar in einer schwer zugänglichen Zeitschrift aus dem frühen 19. Jahrhundert. [1]
Die Entscheidung, dieses Dokument nicht zusammen mit Mercks Tagebuch zu publizieren, schmälert etwas den Wert der vorgestellten Edition, die mit ethnographischen Notizen eine wahre Fundgrube für jeden Sibirienforscher gewesen wäre. Dennoch ist zu begrüßen, dass die Aufzeichnungen des jungen Arztes nun auch in deutscher Sprache die Welt erblicken. Hoch anzurechnen ist den Herausgebern der wohl in akribischer Recherchearbeit entstandene umfangreiche Anmerkungsapparat, ohne den dem Leser viele Begriffe aus dem Russischen und aus den sibirischen Sprachen unverständlich geblieben wären. Auch ist den Bonner Historikern eine ausgesprochen bibliophile Ausgabe gelungen, die durch zahlreiche gut ausgewählte und qualitativ hochwertige Abbildungen besticht.
Anmerkung:
[1] Nachrichten von den Sitten und Gebräuchen der Tschuktschen, gesammelt von Dr. Karl Heinr. Merck auf seinen Reisen im nördlichen Asien. (Aus einer Handschrift.) In: Journal für die neuesten Land- und Seereisen und das Interessanteste aus der Völker- und Länderkunde zur angenehmen Unterhaltung für gebildete Leser in allen Ständen 16 (1814), 1-27, 184-192; 17 (1814), 45-71, 137-152.
Carl Heinrich Merck: Das sibirisch-amerikanische Tagebuch aus den Jahren 1788-1791. Herausgegeben von Dittmar Dahlmann, Anna Friesen und Diana Ordubadi, Göttingen: Wallstein 2009, 413 S., ISBN 978-3-8353-0545-8, EUR 24,90
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