sehepunkte 12 (2012), Nr. 1

Petr Lozoviuk: Grenzgebiet als Forschungsfeld

Dieser Tagungsband ist das Ergebnis einer Konferenz, die im November 2007 in Reichenberg (Liberec) stattgefunden hat. Seine Stärke liegt in der Bündelung einzelner Fallstudien, die ein interessantes Gesamtbild der tschechischen Grenzgebiete skizzieren, auch wenn sich die Beiträge hinsichtlich des Umfangs und der Qualität deutlich unterscheiden. Die Themen Grenze, Grenzland und Grenzlandbevölkerung sollen aus der Sicht unterschiedlicher Disziplinen (Ethnologie, Soziologie, Geografie und Geschichte) beleuchtet werden. Der Großteil der Aufsätze widmet sich regionalen Beispielen entlang der tschechischen Grenze mit Sachsen, Schlesien und Niederösterreich. Anstatt der räumlich isolierten Beiträge zu Ungarn und Schleswig-Holstein wäre vielleicht ein weiterer Beitrag über die tschechische Grenze zur Slowakei, zu Österreich oder zu Bayern aufschlussreicher gewesen. Das Buch gliedert sich in einen theoretischen und drei thematische Abschnitte, wobei die Zuordnung der einzelnen Beiträge etwas zufällig wirkt. Eine Einteilung nach methodischen Kriterien hätte wohl mehr Sinn ergeben: Fünf Beiträge beruhen auf qualitativen Interviews mit Bewohnern des Grenzlands und sieben Aufsätze zeigen mittels publizierter und nicht publizierter Quellen Aspekte des Lebens an der Grenze auf.

Im Rahmen des einführenden Abschnitts "Die Grenzlandproblematik als Objekt der Ethno- und Kulturwissenschaften" stecken Petr Lozoviuks und Manfred Seiferts wichtige Beiträge in gelungener Weise die thematischen, historischen und theoretischen Rahmenbedingungen ab. Lozoviuk widmet sich der Entwicklung der unterschiedlichen Fragestellungen zum Thema Grenze in der deutschen, sudetendeutschen und tschechischen Ethnologie im 20. Jahrhundert. Seifert führt hingegen in die Begrifflichkeit und in die sich wandelnden Vorstellungen von Räumen und Grenzen ein.

Beide Verfasser betonen, dass die Forschungsansätze seit den 1990er Jahren breiter angelegt werden. Einerseits rücken alltagskulturelle Fragestellungen und mit ihnen konkrete und situationsabhängige Alltagshandlungen von Individuen in den Vordergrund. Andererseits wird Grenzgebiet nicht mehr zwangsläufig als marginalisiertes "Defizit-Gebiet" (27) verstanden, sondern als sozialer Raum, in dem Kulturcodes nicht so rigoros aufgefasst werden wie in den Zentren und der daher auch als Innovationstransitgebiet (28) angesehen werden kann.

In dem folgenden Abschnitt "Das Grenzgebiet aus historischer Perspektive" geht es, neben zwei Beiträgen zum ungarischen Raum, darum, wie mit den böhmischen, mährischen und schlesischen Grenzgebieten nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung umgegangen wurde. Kateřina Lozoviuková untersucht die strafrechtliche Verfolgung von illegalen Grenzübertritten in tschechischen Gerichtsakten, wobei sie eher auf die Arbeitsweise und die harten Urteile der Volksgerichte eingeht.

Adrian von Arburgs fundierter Aufsatz stellt anschaulich die strategischen Überlegungen bei der Neubesiedlung der größtenteils entvölkerten Grenzlandregionen dar. Vor allem die Kommunistische Partei (KSČ) hat die politische Bedeutung dieser Gebiete und die gesellschaftlichen Experimentiermöglichkeiten früh erkannt und für ihre eigenen politischen Ziele genützt. Einerseits wollte man durch eine großzügige Unterstützung der Neuangesiedelten deren Parteiloyalität stärken, andererseits konnten gesellschaftliche Strukturen wie zum Beispiel Elitenwechsel, Städtebau und Kollektivierung völlig neu ausgerichtet werden. Bei der Zuteilung von Land, Wohnungen oder Betrieben ging folgerichtig Parteilichkeit vor fachliche Kompetenz, was sich letztlich auch in den höheren Zustimmungsraten der Grenzbevölkerung zur KSČ äußerte. Die Grenzgebiete sollten eine Leuchtturmfunktion für den Gesamtstaat einnehmen und waren daher aus kommunistischer Sicht, insbesondere in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, alles andere als peripher.

Der dritte Abschnitt "Das Grenzland als Ort der interpersonellen Beziehungen" besteht aus drei interviewbasierten Beiträgen zur wechselseitigen Wahrnehmung der Bewohner auf beiden Seiten der Grenze, wobei die böhmisch-sächsische und die mährisch-niederösterreichische Grenze im Vordergrund stehen. Stets spielen das Jahr 1989, Sprachbarrieren und ökonomische Ungleichheiten eine Schlüsselrolle. Jana Berthold untersucht in ihrem aufschlussreichen, aber etwas umständlich geschriebenen Beitrag die vermeintliche "Sozialistische Völkerfreundschaft" im sächsisch-böhmischen Elbland. Zwar hat der kleine Grenzverkehr nach der Aufhebung der Reisebeschränkungen zwischen der DDR und der ČSSR im Jahr 1972 massiv zugenommen, die Kontakte waren aber hauptsächlich von gegenseitigem Einkaufstourismus geprägt - eine Tatsache, die sich auch nach der Wende nicht änderte. Der gemeinsame Erfahrungshorizont des Lebens in sozialistischen Ländern stellte dennoch für lange Zeit ein verbindendes Element dar. Die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 führte zu einer Statuspassage der plötzlich zur westlichen Wohlstandszone zählenden ehemaligen DDR-Bürger. Die unterschiedlichen Niveaus des Konsums und der Infrastruktur führten zu einer gewissen Entfremdung, auf tschechischer Seite zu einer zunehmend negativen Sicht auf die nun übertrieben selbstbewusst auftretenden Nachbarn; interessanterweise schnitten Westdeutsche in der Wahrnehmung der tschechischen Grenzbewohner deutlich besser ab.

Jana Nosková geht der Entwicklung tschechisch-österreichischer Wahrnehmungen in Grenzortschaften nach dem Wendejahr 1989 nach, wobei ihr Hauptaugenmerk auf der tschechischen Seite liegt. Gestützt auf Umfragebögen und qualitative Interviews kommt sie zu dem Schluss, dass trotz einer tendenziell positiven Grundstimmung Desinteresse vorherrsche. Als vorteilhaft werde die Zusammenarbeit auf kulturellem und touristischem Gebiet erachtet, die zunehmende Verkehrsbelastung hingegen als langfristiges Problem wahrgenommen. Intensivere Kontakte seien jedoch meist eine Folge des Engagements von Einzelpersonen, beim Gros der tschechischen Bevölkerung dominierten sprachliche und historische Barrieren sowie die Enttäuschung über österreichisches Desinteresse an Tschechien.

Im letzten Abschnitt "Die Grenzlandbewohner in der Auseinandersetzung um ihre ethnische Identität" erscheint die den einzelnen Aufsätzen übergeordnete Klammer etwas vage formuliert. Mateusz J. Hartwich geht in seinem ausführlichen Beitrag dem Wandel der Figur des Rübezahls von einem wilden Berggeist zu einem im 19. Jahrhundert zunächst romantisierten und schließlich kommerzialisierten Riesengebirgsmaskottchen nach, um das sowohl deutsche Schlesier als auch tschechische Böhmen konkurrierten. Nach 1945 wurde Rübezahl von deutschen Vertriebenenverbänden häufig als Symbolfigur des Heimatlosen verwendet. Von polnischer Seite gab es hingegen zaghafte Versuche, Rübezahl als regionale, ursprünglich slavische Kuriosität zu inkorporieren. Hartwich skizziert abschließend eine eventuelle Europäisierung Rübezahls als deutsch-polnisch-tschechischer Verständigungstopos, bezweifelt allerdings den Erfolg solcher Umdeutungsbemühungen. Nur der kommerzielle Gebrauchswert der Marke "Rübezahl" scheint ungebrochen. Lenka Budilovás und Marek Jakoubeks spannender Beitrag über Identifikationen von Roma/Zigeunern in Tschechien und der Slowakei zeigt die Bedeutungslosigkeit der gemeinsamen Staatsgrenze auf. Lokale, regionale, ethnische oder nationale Identifikationen spielten für die Interviewten keine ausschlaggebende Rolle, vielmehr standen die verwandtschaftlichen Bindungen im Vordergrund. Die Verfasser beschreiben drei Wellen der Migration aus der (Ost-)Slowakei in die nach der Vertreibung der Deutschen neu zu besiedelnden nord- und westböhmischen Gebiete. Die von staatlicher Seite unterstützte Ansiedlung bewirkte zwar die Niederlassung einiger Romafamilien in Westböhmen, alle sozialen Beziehungen (insbesondere Eheschließungen) blieben aber weiterhin auf die althergebrachten Großfamilienstrukturen begrenzt.

Insgesamt zeigt dieser sorgfältig edierte Tagungsband in überzeugender Manier, welche Forschungsansätze sich für eine Beschäftigung mit dem Grenzraum und seinen Bewohnern eignen. Eine klarere Zuordnung der Beiträge zu den Überkapiteln, vor allem aber ein Schlusskapitel mit einem Fazit wäre jedoch wünschenswert gewesen.

Rezension über:

Petr Lozoviuk: Grenzgebiet als Forschungsfeld. Aspekte der ethnografischen und kulturhistorischen Erforschung des Grenzlandes, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009, 286 S., ISBN 978-3-86583-360-0, EUR 40,00

Rezension von:
Börries Kuzmany
Doktoratskolleg Galizien, Universität Wien
Empfohlene Zitierweise:
Börries Kuzmany: Rezension von: Petr Lozoviuk: Grenzgebiet als Forschungsfeld. Aspekte der ethnografischen und kulturhistorischen Erforschung des Grenzlandes, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 [15.01.2012], URL: https://www.sehepunkte.de/2012/01/21046.html


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