Von Susanne Lachenicht
Atlantische Geschichte ist im deutschsprachigen Raum zwar für einige WissenschaftlerInnen kein völlig neues Konzept bzw. kein unbekannter Forschungsgegenstand mehr, gehört aber in der Regel nicht zu den Kernbereichen der deutschen Frühneuzeitforschung. Populär ist die Atlantische Geschichte spätestens seit den 1990er Jahren vor allem an den Universitäten der Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika, Kanadas, Großbritanniens, Irlands, der Niederlande, Skandinaviens, Frankreichs, Spaniens und Portugals und einigen Universitäten Lateinamerikas. Was nun ist Atlantische Geschichte?
Während sich die traditionellen, im deutschsprachigen Raum auch eher weniger bekannten Early American Studies vor allem mit den Auswirkungen der so genannten Europäischen Expansion (1492-1812) auf Amerika beschäftigt [1], hat sich das Konzept Atlantische Geschichte den vielfältigen Beziehungen zwischen unterschiedlichsten Akteuren im atlantischen Raum und deren Wirkung nicht nur auf Amerika, sondern auch auf Europa und Afrika verschrieben.[2] Es geht einerseits um zwischenstaatliche bzw. imperiale Beziehungen, andererseits aber auch um die überstaatliche, oft auch als Phase der Globalisierung verstandene Entstehung und Vernetzung von Märkten und Menschen (Stichwort Diasporen) im atlantischen Raum in der Zeit nach 1492. Die Auswirkungen dieser historischen Phase sind bis heute für alle Anrainerstaaten des Atlantiks spürbar. Die Depeuplierung des afrikanischen Kontinents durch den Sklavenhandel (Stichwort: Schwarzer Atlantik), der religiöse Pluralismus in den USA durch die Immigration von Glaubensflüchtlingen und ihre heutige Bedeutung für Gesellschaft, Politik und Kultur dieser Kontinente gehören ebenso zu den Forschungsfeldern wie interimperiale Konflikte (Stichwort: Siebenjähriger Krieg bzw. Nine Years War), die so genannten Atlantischen Revolutionen (Amerikanische und Französische Revolution, Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika) wie auch die Frage nach dem Stellenwert der Wirtschafts- und Kulturtätigkeit von Europäern, Afrikanern und Amerikanern bzw. den vielfältigen Aktivitäten der sich hinter diesen catch-all-Begriffen "verbergenden" Ethnien, Nationen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Gemeinschaften im Atlantischen Raum. Atlantische Geschichte ist auch die Geschichte der Definition bzw. der Vermessung und Kartographierung dieses Raumes, die Geschichte seines "Durchmessens", von Schiffen, Seefahrt, Piraterie und dem Leben an Bord, die Geschichte von Hafenstädten, Technikgeschichte, Geschichte von Kommunikation, Diskursen, Perzeption, Rezeption, Transfer und Umdeutungen.
Nachdem Jacques Godechot und Robert Palmer das 1917 von Walter Lippmann entwickelte Konzept der Atlantischen Geschichte in den 1950ern vor allem geopolitisch zu nutzen suchten und einen von Demokratie und gemeinsamen Werten bestimmten atlantischen Raum beschworen, der durch die NATO geschützt werden sollte [3], hat sich die Atlantische Geschichte in den 1990er Jahren, unter der Ägide des Harvard-Professors Bernard Bailyn davon emanzipiert.[4] Seit 1996 wird jedes Jahr in Harvard eine Sommerakademie zu unterschiedlichsten Themen der Atlantischen Geschichte organisiert, das Harvard Atlantic History Seminar.[5]
Das Konzept Atlantische Geschichte versteht sich heute als offenes Konzept, das interdisziplinäre Studien und Netzwerke fördert. Im deutschsprachigen Raum ist es seit 2003 durch den in Deutschland ersten Lehrstuhl für Nordamerikanische, Atlantische und Karibische Geschichte der Universität Hamburg populärer geworden bzw. seit dem Wintersemester 2009/10 durch den Studiengang Atlantic Studies der Universität Hannover. Seit 2009 besteht als europäisches Pendant zum Harvard Atlantic History Seminar die von Lauric Henneton (Versailles-St. Quentin) und Susanne Lachenicht (Universität Bayreuth) gegründete Summer Academy of Atlantic History (SAAH), die 2010 (Bayreuth) und 2011 (Galway) Atlanticists aus Europa und (Nord-)Amerika ein (Doktoranden-)Forum für den Austausch über laufende und geplante Forschungsprojekte aus dem Bereich Atlantische Studien bot und in Zukunft bieten wird. Oxford University Press stellt mit Oxford Bibliographies Online: Atlantic History in regelmäßigen Abständen überarbeitete kommentierte Onlinebibliographien zu (fast) allen Aspekten der Atlantischen Geschichte zur Verfügung.
Durch die Dezentralisierung der Atlantischen Geschichte, weg von kolonialen oder imperialen Kontexten (dem Spanish, Portuguese oder British Atlantic) hin zu den multiplen Verflechtungen von Menschen, Gesellschaften, Staaten, Wirtschaft und Kulturen (auch oder gerade jenseits der entstehenden (National-)Staaten) im atlantischen Raum bekommt auch die europäische Seite des Atlantiks, die Auswirkungen der Expansion auf Europa selbst - nicht nur auf die Anrainerstaaten - sondern auch auf den baltischen Raum, Zentral- und Osteuropa ein stärkeres Gewicht. Ziel der europäischen Initiativen, wie sie u.a. von Seiten der European Early American Studies Association (EEASA) seit 2008 und dem französischen Réseau pour le développement européen de l'histoire de la jeune Amérique (REDEHJA) erfolgreich betrieben werden, ist es, Konzept und Methoden der Atlantischen Geschichte auch in Europa bekannter und anschlussfähiger zu machen, d.h. europäische oder typisch deutsche Forschungsbereiche der Frühen Neuzeit (Wirtschaftsgeschichte, Militärgeschichte, Konfessionsmigration) enger mit Forschungsparadigmen der "angelsächsischen" Welt zu verknüpfen. Gleichzeitig sollen die vielfältigen Verflechtungen des (früh-)neuzeitlichen Europas mit der atlantischen Welt aufgezeigt werden. Der für Juli 2012 geplante Workshop The European Backcountry and the Atlantic World (Bayreuth) untersucht diese vielfältigen Beziehungen exemplarisch: Wissen über die atlantische Welt und Amerika im europäischen Hinterland, wie es nicht nur im 18. Jahrhundert an der Universität Göttingen generiert wurde, Wampum, das aus fränkischem Porzellan für den Gebrauch in Nordamerika hergestellt wurde, schlesisches Leinen, das zur Kleidung von afrikanischen Sklaven in den britischen Kolonien bzw. der gesamten Karibik verwendet wurde, neue Ackerfrüchte, die aus der "Neuen Welt" in die entlegendsten Winkel Europas transferiert wurden.
Die hier im FORUM vorgestellten neuesten Studien zur Atlantischen Geschichte stellen nur einen winzigen, aber durchaus repräsentativen Ausschnitt aus dem Bereich der Atlantischen Studien dar, der in den letzten Jahren bei sehepunkte immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Zu nennen sind hier die von Ben Marsh (Stirling) besprochene Studie Stephanie L. Smallwoods zu Saltwater Slavery, d.h. zum Black Atlantic und im Besonderen zum "Leben" an Bord der Sklavenschiffe (http://www.sehepunkte.de/2009/06/14541.html), Jochen Meissners, Ulrich Mückes und Klaus Webers erste deutschsprachige Darstellung zu unterschiedlichen Aspekten des Schwarzen Atlantik (http://www.sehepunkte.de/2009/01/14990.html), Studien zu europäischen Migrationen im atlantischen Raum wie David A. Gerbers zur Korrespondenz britischer Einwanderer in Nordamerika (http://www.sehepunkte.de/2006/12/10425.html), Sarah M.S. Pearsalls Atlantic Families (http://www.sehepunkte.de/2010/09/14575.html), Lou H. Ropers und Bertrand van Ruymbekes Constructing Early Modern Empires in the Atlantic World (http://www.sehepunkte.de/2008/09/14855.html), Caroline A Williams Bridging the Early Modern Atlantic. People, Products and Practices on the Move (http://www.sehepunkte.de/2011/05/16599.html) oder David Studnizki-Gisberts Arbeit zur sephardischen Diaspora A Nation upon the Ocean Sea (http://www.sehepunkte.de/2009/09/14542.html).
Den neuesten und (ge)wichtig(st)en Versuch, den Forschungsbereich Atlantische Geschichte in ein Handbuch zu fassen und die Schwierigkeit hier eine Auswahl zu treffen, stellt das von Nicholas Canny (National University of Ireland, Galway) und Philip Morgan (Johns Hopkins University) herausgegebene Oxford Handbook of the Atlantic World 1450-1850 dar, das im FORUM von einem der bedeutendsten deutschen Vertreter der Nordamerikanischen und Atlantischen Geschichte, Hermann Wellenreuther (Göttingen) in einem ausführlichen review essay vorgestellt wird und sehr unterschiedliche Konzepte von Atlantischer Geschichte dokumentiert.
Emily Buchnea, Doktorandin im Bereich der atlantischen Wirtschaftsgeschichte an der Universität Nottingham, stellt eine typische atlantische Studie vor, die sich scheinbar einem kleinen geographischen Ausschnitt, den Bermudas, widmet: Michael Jarvis' In the Eye of All Trade. Bermuda, Bermudians and the Maritime Atlantic World befasst sich mit der Rolle, die die Bewohner der Bermudas als Agenten des Transfers zwischen der Karibik, Nord-, Mittel- und Südamerika und Europa einnahmen - die alles andere als marginal war -, mit der Herausbildung neuer, multiethnischer und multireligiöser Gesellschaften auf den Bermudas, dem Leben an Board von Schiffen, Schmuggel, Piraterie und dem schwierigen Überleben der Kolonie im imperialen Kampf um die atlantische Welt.
Gabriel Paquettes Enlightened Reform in Southern Europe and its Atlantic Colonies, c.1750-1830, rezensiert von Ludolf Pelizaeus, zeigt exemplarisch, in diesem Fall für den südlichen, d.h. "Spanischen und Portugiesischen Atlantik", Aspekte des Ideen- und Systemtransfers auf, der ebenso Teil der Atlantischen Geschichte wie der "Austausch" von Waren und Menschen darstellt.
Carmen Birkles und Nicole Wallers The Sea is History. Exploring the Atlantic, besprochen von Rochelle Rowe (Essex), steht exemplarisch für die Interdisziplinarität des Forschungsfeldes Atlantische Geschichte, das von Historikern, Literatur- und Sprachwissenschaftlern, Kunsthistorikern, Archäologen, Musikwissenschaftlern, Geographen und Medienwissenschaftlern gemeinsam bearbeitet wird. Der Band beschäftigt sich mit Perzeptionen, Diskursen und ihren Auswirkungen auf die Bewohner der atlantischen Welt, stellt also einen circumatlantischen Blick auf das Forschungsfeld dar.
Atlantische Geschichte innerhalb ihrer fast uferlos erscheinenden Grenzen, aber immer mit der Rückbindung an oder Verflechtung mit dem Atlantik als Meer bzw. im Sinne eines Circumatlantic hat Konjunktur und kann als Konzept auf andere Räume intensiver Verflechtungsgeschichten übertragen werden wie etwa traditionell das Mittelmeer, aber auch den Pazifik oder den Indischen Ozean. Die hier vorgestellten Arbeiten werden bei sehepunkte sicherlich nicht die letzten zur Atlantischen Geschichte sein.
Anmerkungen:
[1] Zur Entwicklung der Geschichtsschreibung zum kolonialen Amerika hin zur Atlantischen Geschichte vgl. Nicholas Canny: Writing Atlantic History; or, Reconfiguring the History of Colonial British America, The Journal of American History 86/3 (1999), 1093-1114. Zur Genealogie bzw. dem Konzept "Atlantische Geschichte" siehe auch William O'Reilly: Genealogies of Atlantic History, Atlantic Studies 1/1 (2004), 66-84. Siehe auch Wolfgang Reinhard: La vieille Europe et les nouveaux mondes. Pour une histoire des relations atlantiques, Ostfildern 2005.
[2] Vgl. hierzu u.a. folgende Titel: Ira Berlin: From Creole to African: Atlantic Creoles and the Origins of African-American Society in Mainland North America, The William and Mary Quarterly 53 (1996), 251-288; Paul Gilroy: The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness, London 1993; David Hancock: The British Atlantic World: Co-ordination, Complexity, and the Emergence of an Atlantic Market Economy, 1651-1815, Itinerario. European Journal of Overseas History 23/2 (1999), 107-126; J.G.A. Pocock: The New British History in Atlantic Perspective: an Antipodean Commentary, The American Historical Review 104/2 (1999), 490-500; Claudia Schnurmann: Atlantische Welten: Engländer und Niederländer im amerikanisch-atlantischen Raum, 1648-1713, Köln 1998.
[3] Jacques Godechot / R. R. Palmer: Le problème de l'Atlantique du XVIIIe au XXe siècle. Comitato internazionale di scienze storiche. X. Congresso internazionale di Scienze storiche, Roma 4-11 Settembre 1955, Relazioni 5 (Storia contemporanea), Florenz 1955, 175-239.
[4] Bernard Bailyn: The Idea of Atlantic History, Itinerario. European Journal of Overseas History 20 (1996), 19-44.
[5] Vgl. hierzu deren Homepage http://www.fas.harvard.edu/~atlantic/