In den 1970er-Jahren hatte eine revisionistische US-amerikanische Kunstkritik die Behauptung aufgestellt, die Vereinigten Staaten hätten den Abstrakten Expressionismus als Waffe in einem Kalten Krieg der Kulturen eingesetzt. Serge Guilbauts viel rezipiertes Buch How New York Stole the Idea of Modern Art from Paris (1983; dt. 1997) untermauerte diese These, wonach Akteure und Institutionen der amerikanischen Außenpolitik in der Malerei der New York School ein Symbol künstlerischer und individueller Freiheit erkannten, das sich für die ideologische Bekämpfung des Kommunismus nutzen ließ und deshalb gezielt in Westeuropa platziert wurde. War der Ende der 1950er-Jahre auch in der Alten Welt sich einstellende Erfolg des Abstrakten Expressionismus also vor allem das fragwürdige Verdienst amerikanischer Politiker und Geheimdienstler und ihrer kulturimperialistisch motivierten Machenschaften? An dieser verschwörungstheoretischen Schlussfolgerung haben sich in der Folge mehrere Forscherinnen und Forscher abgearbeitet, aber seit der Jahrtausendwende ist es merklich stiller um dieses Thema geworden. Noch gilt, was Oskar Bätschmann schon 1997 anmerkte: Der Beweis fehlt. [1]
Umso gespannter durfte man sein auf das die "Kunst der Freiheit" offenbar in Frage stellende Buch von Steffen Dengler, eine 2008 an der Berliner Humboldt-Universität abgeschlossene Dissertation, die die in der Situation des Kalten Kriegs entstandene spezifisch deutsche Problemlage weiterverfolgt bis zu ihrer zwiespältig anmutenden Auflösung im Zuge der (Wieder-)Vereinigung. Die Publikation bietet, das sei gleich vorweg genommen, kein neues Material. Dengler hat kein bislang unbeachtetes bzw. ungefundenes Quellenkorpus aufgetan und bietet auch keine wirklich neue Betrachtung des bereits bekannten. Zwar ist es sein erklärtes Ziel gewesen, den "Beweis für die Initiative der USA bei der Durchsetzung des Abstrakten Expressionismus in Europa [...] beizubringen" (20). Doch dieses Ziel bleibt, von einigen versprengten Einlassungen einmal abgesehen, ohne weitere Kommentierung auf der Strecke. Was das Buch stattdessen leistet, ist eine mal dichte, mal eher ausschnitthafte Analyse der westdeutschen "Geltungskunst" [2], vor allem aber der kritischen und historiografischen Diskurse, die diese "Kunst der Verinnerlichung und der Reinheit des Geistes" [3] gegenüber der staatlich vereinnahmten DDR-Kunst in Stellung brachten und offenbar auch nach wie vor bringen. Dengler will "klären, inwieweit Prägungen, die in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg empfangen wurden, heute noch wirksam sind" (12) und auch unseren aktuellen Kunstbegriff betreffen.
Der Bogen ist also weit gespannt, was nicht unproblematisch ist. Unzweifelhaft dominierte die Debatte um Abstraktion versus Gegenständlichkeit die westdeutsche Kunstszene der Nachkriegszeit. Und dass die abstrakte Kunst spätestens mit der zweiten documenta 1959 zum alleingültigen Aushängeschild eines freiheitlich-demokratisch verfassten Westens, also auch und gerade der Bundesrepublik avancierte, hatte durchaus dogmatische Züge. Doch greift es sicherlich zu kurz, diese formal begründete Polarisierung als einzige oder auch nur primäre Matrix der kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Kunstproduktion bis in die Gegenwart hinein zu begreifen. Die Lage ist komplizierter. Richtig ist aber, dass im Westen das Gebot des freien künstlerischen Ausdrucks stets gegenüber einer staatlich verordneten und instrumentalisierten Auftragskunst konturiert und moralisch aufgewertet wurde, was zum einen die 'freie Kunst' tendenziell entpolitisierte und zum anderen großen Konfliktstoff für eine 'Wiedervereinigung' der bildenden Künste bereit hielt. Dengler analysiert hier beispielhaft die ersten großen Vergleichsausstellungen nach der Wiedervereinigung und die sie begleitenden Kontroversen. 1993 hatte Dieter Honisch in der Neuen Nationalgalerie in Berlin eine integrierte Hängung repräsentativer 'westlicher' und ostdeutscher Kunst präsentiert. 1999 fand in Weimar die Ausstellung "Aufstieg und Fall der Moderne" statt, bei der sowohl NS-Kunst als auch offizielle und oppositionelle DDR-Kunst in einem Gebäude auf dem ehemaligen Gauforum gezeigt wurde, während die Weimarer Moderne des ersten Jahrhundertdrittels im Schloss zu sehen war. Beide Konzepte, das Berliner und auch das Weimarer, provozierten heftige Proteste von unterschiedlichen Seiten, und Dengler macht hier überzeugend deutlich, dass die Rehabilitation in der DDR unterdrückter ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler der vielleicht heikelste Punkt ist. In der Tendenz, nur ihre Geschichte als 'richtige Kunstgeschichte' anzuerkennen und damit in die des Westens zu 'integrieren', wird eine Kontinuität der Nachkriegsdebatten und der Rhetorik des Kalten Krieges greifbar, deren ideologische Implikationen nun erst in ihrer ganzen Tragweite zu Tage treten.
Der Situation nach der Wiedervereinigung bzw. im Zeitraum 1990 bis 2005 ist das letzte der vier Kapitel von Denglers chronologisch aufgebautem Buch gewidmet. Die vorangehenden drei tragen Begriffe für Phasen der amerikanischen Außenpolitik im Titel ('containment', 'roll back', 'new frontier'), was insofern irritiert, als es nur im ersten - und auch dort höchst rudimentär - um kulturpolitische Konzepte und Aktivitäten der Vereinigten Staaten geht. Dengler will mit dieser Betitelung aber andeuten bzw. unterstreichen, dass tonangebende Instanzen der westdeutschen Kunstszene sich in quasi vorauseilender Willfährigkeit den Wünschen der Siegermacht fügten, also unangewiesen und ungezwungen schon vor der Gründung der Bundesrepublik und der Teilung Deutschlands eine in 'freier' Abstraktion und Gegenstandslosigkeit sich ergehende Geltungskunst markierten und verteidigten - eine Linie, an der in den folgenden Jahrzehnten auch gegen Widerstände festgehalten wurde. Westdeutsche Kritiker und Ausstellungsmacher wie Franz Roh, Will Grohmann, Werner Haftmann und andere erscheinen hier also als unwissende Helfershelfer einer amerikanischen auswärtigen Kulturpolitik, die für die 'Eindämmung' und 'Zurückdrängung' des Kommunismus auch die Künste zu nutzen wusste oder durch erklärte künstlerische Vorlieben der europäischen Verbündeten vielleicht auch erst auf die 'richtigen' Ideen kam.
Dengler kommt zu dieser interessanten und den verschwörungstheoretischen Schematismus à la Guilbaut überwindenden These durch die Untersuchung "Repräsentativer Ausstellungen" in den ersten Nachkriegsjahren und der sie begleitenden Debatten. Diese gipfelten in dem ersten Darmstädter Gespräch 1950, dessen Positionen und Redebeiträge Dengler noch einmal detailliert schildert und hinsichtlich der unterschiedlichen Argumentationsweisen und Geschichtsmodelle präzise auffächert. In dem Kapitel "Roll Back - Zurückdrängen 1952 bis 1960" wird der öffentlich ausgetragene Streit zwischen dem Kunstkritiker Will Grohmann, einem erklärten Verfechter der Abstraktion, und dem figurativ arbeitenden Maler Karl Hofer analysiert. Hierbei ging es offensichtlich nicht nur um die besseren Argumente, sondern auch um den Anspruch auf Meinungshoheit und einflussreiche Ämter in der jungen Bundesrepublik. In Denglers Darstellung dieses Streits wie auch der ideologischen Prämissen und kunstkritischen Rahmungen der beiden "documenta"-Ausstellungen 1955 und 1959 wird ein nachgerade beklemmendes Diskussionsklima greifbar. Die vermeintliche Weltsprache der Abstraktion galt nun als einzig gültiger Ausdruck individueller und gesellschaftlicher Freiheit und mithin als ästhetisches Konzept des Westens bzw. - aus Perspektive der BRD - gelungener Westintegration. Welchen Anteil die amerikanische Malerei an dieser Dynamik und auch an einer zunehmenden Ausdifferenzierung der westdeutschen Kunstszene in der Folgezeit hatte, scheint Dengler allerdings nicht weiter zu interessieren. In dem sehr kurzen, etwas großspurig "New Frontier bis zum Ende des Kalten Krieges" genannten dritten Kapitel werden als kritische Positionen gegenüber dem mit der "documenta II" offiziell gewordenen Diktat der Abstraktion lediglich das populistisch argumentierende Buch Könner - Künstler - Scharlatane (1960) von Richard Eichler und einschlägige schriftliche Äußerungen des figurativ-abstrakt malenden Künstlers Hans Platschek aus den 1960er-Jahren vorgestellt. Es sind dies aber markante und aussagekräftige Einlassungen insofern, als sie zum einen den Unmut einer von der ästhetischen Umerziehung wenig beeindruckten breiten Öffentlichkeit und zum anderen die Verstiegenheiten einer zunehmend raunenden Kunstkritik bloßlegten.
Steffen Dengler raunt an keiner Stelle seines Buches, das eine durchweg gut geschriebene, kompakte Lektüre bietet, weshalb man über kleine Fehler im Literaturverzeichnis gerne hinweg sieht. Viel Bekanntes bzw. Schon-Gewusstes wird hier erneut aufgegriffen, um eine etwas andere, mitunter allzu pauschale, aber in der Zuspitzung eben auch provokante und zu denken gebende Kunstgeschichte der Bundesrepublik zu erzählen, die den Blick zurück, aber auch nach vorne auf so etwas wie eine 'gesamtdeutsche Kunst' neu justieren kann.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Oskar Bätschmann: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997, 280, Anm. 14.
[2] Dengler bezieht sich mit diesem Begriff auf einen Vortrag von Karl-Siegbert Rehberg ("Bilderstreit als Medium der Feindsetzung: Geschichtsbewusstsein und Geltungskünste im 'Kalten Krieg'", 2. August 2011), 12.
[3] Robert Suckale: Kunst in Deutschland. Von Karl dem Großen bis heute, Köln 1998, 615, zit. nach Dengler, 12.
Steffen Dengler: Die Kunst der Freiheit? Die westdeutsche Malerei im Kalten Krieg und im wiedervereinigten Deutschland, München: Wilhelm Fink 2010, 280 S., ISBN 978-3-7705-4955-9, EUR 29,90
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