Als sogenannte cultural performances (Milton Singer) stellten Prozessionen in der Vormoderne ein bedeutendes Mittel zur Vergegenwärtigung und Konstruktion geistlicher wie weltlicher Bezüge dar. Da Prozessionen im Vollzug Wirklichkeit konstituieren, sind sie nicht nur als symbolische Handlungen, sondern vielmehr als performative Praktiken zu verstehen. Dass Performativität keineswegs nur den Akt der Prozession bestimmt, sondern ebenso in den Bildern und Texten, die in ihrem Kontext entstanden sind, eine entscheidende Rolle spielt, ist die Kernthese des vorliegenden Buches. Der Band geht zurück auf das deutsch-französische Kolloquium, das im Oktober 2008 in Kooperation zwischen dem Sonderforschungsbereich "Kulturen des Performativen" und dem "Groupe d'Anthropologie Historique de l'Occident Médieval" (EHESS Paris) an der Humboldt-Universität zu Berlin abgehalten wurde. In 15 Beiträgen (wovon knapp die Hälfte auf Französisch verfasst sind) untersuchen Autoren unterschiedlicher Disziplinen die Übergänge und Beziehungen zwischen der Performanz der Prozession und der Performativität ihrer Texte und Bilder. Der Blick richtet sich also sowohl auf verschiedene Prozessionstypen (siehe die Beiträge zu den Flagellantenumzügen von Ulrike Sprenger und Andrea Martignoni) als auch auf ihre medialen Umsetzungen, in denen Merkmale wie Körperlichkeit, Rhythmus und Theatralität reflektiert werden. Dank des geschickten Arrangements seitens der Herausgeber fügen sich die vielfältigen Beiträge zu einer gelungenen interdisziplinären Gesamtheit.
Den Auftakt bildet Anton Bierls Studie zu den tanzartigen Prozessionen auf der griechischen Bühne, in welcher der Autor die Performativität des einziehenden Chores (Parodos) in den Bakchen des Euripides analysiert. Er verdeutlicht das Fungieren des Chores als shifter zwischen dem Da und Damals (dem Mythos) und dem Hier und Jetzt und legt den Bezug des Chores auf die religiösen Prozessionen des Dionysos-Kultes offen. In der Aufführung verschränken sich Ritual und Theater und es kommt zur performativen Verschmelzung von unterschiedlichen Zeiten und Orten. Auf den ersten Blick mag der Eindruck entstehen, dieser Beitrag zur antiken Tragödie falle aus dem thematischen Rahmen des Sammelbandes, dessen eigentlicher Schwerpunkt auf dem Mittelalter und der frühen Neuzeit liegt. Doch die Sonderstellung bringt in Wahrheit eine gewinnbringende Perspektivenerweiterung mit sich: Durch die historische Erweiterung des Themenspektrums gelingt es, die Übertragung des rituellen Aktes in die Kunst als epochenübergreifendes kulturelles Muster hervortreten zu lassen, das in den unterschiedlichsten Facetten Gestalt annimmt.
Als gedankliche Folie für die folgenden Beiträge werden in den ersten Texten des Buches grundlegende Aspekte umrissen: Bernhard Teuber etwa lässt seine Untersuchung mittelalterlicher Prozessionshymnen mit einem wichtigen Verweis auf Michel de Certeau und sein Konzept der "Raumpraktiken" (pratiques d'espace) beginnen, das für das Verständnis der Begriffe "Ort" und "Raum" im Kontext der (rituellen) Handlung und Bewegung von entscheidender Bedeutung ist. Pascal Collomb leistet einen quellenkritischen Beitrag, in dem er die Aussagekraft zeitgenössischer Textsorten (Chroniken und liturgische Berichte) über verschiedene Prozessionstypen (processions ordinaires/extraordinaires) untersucht. Hierin ergänzt sich die Studie mit Pascale Rihouets Text über die Verwendung heiliger Banner (bannières sacrées) während "außerordentlicher Prozessionen" und im Kirchenraum. In seinem Aufsatz zu "Urszenen von Literatur auf Pilgerfahrt und Schlachtfeld" betrachtet Stephan Müller die Situativität mittelalterlicher Literatur und erweitert den Band so um eine literaturgeschichtliche Perspektive: Er verweist darauf, dass die behandelten Texte (die Lieder von Ezzo, Turold und Taillefer) aus Situationen kollektiver Performanz hervorgingen und an soziales Handeln gebunden sind.
Auf je unterschiedliche Weise thematisieren Heike Schlie und Christian Kiening die geistige Pilgerschaft als Form der imaginären und spirituellen Bewegung. Heike Schlie wendet sich dem Aspekt aus dem Blickwinkel der Kunstgeschichte zu, indem sie Hans Memlings "Turiner Passion" als Bild einer "virtuellen bzw. mnemotopischen Prozessionalität" (147) deutet. In ihrer aufschlussreichen Analyse veranschaulicht sie die vielschichtige Repräsentationsstrategie der Bildtafel und deren Zusammenhang mit der Brügger Heiligblutprozession. Indem sie eine Überlagerung des medialen Bildraumes mit den topografischen Erinnerungslandschaften Brügges und Jerusalems verdeutlicht, gelingt es ihr darzustellen, dass der anschauliche Nachvollzug der Passion in der Bildrezeption mit der Erfahrung der Prozessionsperformanz überblendet wird. Die eigene Referenzerfahrung bringt somit eine besonders starke Einbindung des (zeitgenössischen) Betrachters mit sich. Kiening hingegen demonstriert in einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung mittelalterlicher Pilgerberichte und Kreuzwegbüchlein, in welcher Weise sich "Prozessionalität" und "Prozessualität" im Text niederschlagen und dabei eine bedeutende Rolle für den imaginären Nachvollzug von Pilgerfahrt und Passion spielen.
Corneliu Dragomirescu und Hans-Rudolf Velten eröffnen in ihren Beiträgen das Themenfeld von Memoria und frühneuzeitlichen Herrschereinzügen. Im Spannungsfeld von Herrschereinzügen, antiken Triumphzügen, christlichen Mysterienspielen und religiösen Prozessionen untersucht Dragomirescu illuminierte Manuskripte der "Vengeance Jhesuchrist" als Fürstenspiegel. Besondere Aufmerksamkeit widmet er hierbei dem komplexen Text-Bild-Verhältnis der Schriften, die er als "wahre Multimediaobjekte" (vrais objets multimédia, 242) bewertet. Velten steuert eine ebenso spannende wie überzeugende Betrachtung der monumentalen Holzschnittfolge von Triumphzug und Ehrenpforte Maximilians I. bei, die er hinsichtlich einer medialen Aufführung des Kaisereinzuges beleuchtet: In der Betrachtung der Bildfolge wird nicht nur der abwesende Kaiser anwesend gemacht, sondern auch eine zeitliche Sukzession evoziert und der Rezipient zum leiblich-performativen Mitvollzug angeregt. Um diese Wirkungsweise zu beschreiben, modifiziert Velten den Benjaminschen Aurabegriff und spricht von einer "aisthetischen Aura" (268).
Mit den Apsismosaiken von Santa Maria Maggiore, denen sich Eric Hold zuwendet, werden exemplarisch auch architekturgebundene Bildprogramme im Prozessionskontext behandelt. Den Abschluss bilden Werner Röcke und Katja Gvozdeva, die sich der Rezeption karnevalesker Umzüge im Prozessionsspiel (Röcke) und im grotesken Bilderzyklus der "Songes drolatiques de Pantagruel" (Gvozdeva) widmen.
Alles in Allem knüpft der Band nicht nur an den bisherigen Forschungsstand zur Prozession - etwa die grundlegende Arbeit Sabine Felbeckers [1] - an, sondern leistet auch einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Performativität von Text und Bild. Eine theoretisch-konzentrierte Rekapitulation der performativen Wirkungsmechanismen der Bilder und Texte hätte der Untersuchung jedoch weitere Schubkraft verleihen können. Dies wird leider im Schlussteil von Jean-Claude Schmitt (der außerdem einen Aufsatz zu mittelalterlichen Formen der Rhythmizität beisteuert) nicht unternommen. Als Brückenstück zwischen der Körperlichkeit und der Dimension der Erinnerung und des Imaginären wäre etwa an eine ausführlichere Einbeziehung von Vorgängen der mimetischen Aneignung (oder Inkorporierung) zu denken, wie sie Christoph Wulf in seinen kulturanthropologischen Studien zum sozialen Handeln beschreibt. [2]
Anmerkungen:
[1] Sabine Felbecker: Die Prozession. Historische und systematische Untersuchungen zu einer liturgischen Ausdruckshandlung, Altenberge 1995.
[2] Christoph Wulf: Zur Genese des Sozialen. Mimesis, Performativität, Ritual, Bielefeld 2005.
Katja Gvozdeva / Hans Rudolf Velten (Hgg.): Medialität der Prozession. Performanz ritueller Bewegung in Texten und Bildern der Vormoderne (= Germanisch-Romanische Monatsschrift; Beiheft 39), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, 361 S., 119 s/w-Abb., ISBN 978-3-8253-5602-6, EUR 66,00
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