Das Fehlen zeitnaher Publikationen von Ausgrabungen ist eines der großen Probleme bei der Erforschung des vorrömischen Nordafrika. Diesem Defizit wirkt "Althiburos I" mit Nachdruck entgegen, das als erster von drei geplanten Bänden über ein seit 2006 in Althiburos (Medeïna im westlichen Zentraltunesien) laufendes Forschungsprojekt im Jahre 2011 erschienen ist.
Die Leitung der katalanisch-tunesischen Kooperation obliegt Nabil Kallala (Institut National du Patrimoine Tunis) und Joan Sanmartí (Universitat de Barcelona). An der Publikation sind mehrere Nachwuchswissenschaftler beteiligt. Ziel des bereits in zwei Vorberichten [1] vorgestellten Projekts ist der Gewinn neuer Erkenntnisse an mehreren neuralgischen Punkten der Stadt und in ihrem unmittelbaren Umland. Im Zentrum steht die Erforschung der vorrömischen Geschichte von Althiburos. Die Hauptleistung des Buches ist die vorbildliche, zeitnahe und vollständige Publikation eines jungen Ausgrabungsprojekts mit einer zeitlichen Spannbreite vom 10. Jahrhundert v. - 13. Jahrhundert n.Chr. Vor dem Hintergrund solcher besonders für Zentraltunesien fehlender, diachroner Stadtgeschichtsanalysen ist der wissenschaftliche Wert dieses Bandes nicht hoch genug einzuschätzen.
Das erste Kapitel umreißt die Forschungsgeschichte des Ortes und bietet einen für das vorrömische Nordafrika insofern innovativen Beitrag, als dass die Einbettung der Region in gesamtmediterrane Phänomene der Eisenzeit erfolgt. Kapitel 2 stellt die wichtigsten Ergebnisse vor. Die Abschnitte 3-5 bieten eine detaillierte Besprechung der signifikanten Schichten und Funde, anschaulich illustriert durch hochwertige Plan- und Abbildungsanhänge. Umfangreiche archäobiologische, archäozoologische und keramologische Analysen runden den hohen Dokumentationsstandard ab.
Der spektakuläre Höhepunkt der Publikation ist der über C14-Datierungen erfolgte Nachweis einer Siedlungstätigkeit in Althiburos seit dem 10. Jahrhundert v.Chr. (33-36), womit der bisher älteste, stratigraphisch gesicherte Wohnkontext in Numidien vorliegt. Nicht minder eindrucksvoll ist die Präsentation einer Stadtmauer aus dem 4. Jahrhundert v.Chr. (47), die eines der wenigen vorrömischen Beispiele ihrer Art in ebenem Terrain darstellt, aber noch über eine weitere Distanz gefasst werden müsste. Hervorzuheben sind außerdem der Nachweis zweier frührömischer Bauten (167-69) - wenn auch deren religiöse Funktion aufgrund fehlender Indizien nicht überzeugen kann -, sowie neue Erkenntnisse zum Kapitol (172-74). Über die spätantik-vandalenzeitlichen Befunde kann analog zu anderen Städten wie Simitthus oder Thuburbo Maius auch in Althiburos die Aufgabe der öffentlichen Funktionen des Zentrums nachgewiesen werden, in dem nun Wohn- und Werkstattbereiche entstehen (41-43). Dieser Raum blieb in byzantinischer Zeit genutzt, bevor die Siedlung aufgegeben wurde. Vom 9.-11. Jahrhundert n.Chr. setzt eine neue Bauaktivität ein, so dass sich die Siedlung im 12./13. Jahrhundert in einer Dimension präsentiert, die generell bisher in dieser Form kaum bekannt war (43). Viele Befunde sind singulär. Dennoch wäre für jede Epoche eine umfangreichere Kontextualisierung durch mittlerweile durchaus vorliegende Vergleichsbeispiele hilfreich gewesen.
Neu ist die "à partir de critères strictement stratigraphiques" (164) spezifisch für Althiburos entwickelte, 15-phasige Chronologie. Nur die letzte spätnumidische, die vandalenzeitliche und byzantinische Phase folgen konventionellen historischen Zäsuren. Phase 2 der Kaiserzeit ist durch die Regierungszeiten des Tiberius und Commodus begrenzt, weshalb die wenig bekannte frühe Kaiserzeit unter die darauf folgende des 2. Jahrhundert n.Chr. subsumiert wird. Durch diese Grenze kann die potenzielle historische Aussagekraft der in diese Zeit datierenden Befunde leider nicht für die Entwicklung der kaiserzeitlichen Urbanistik nutzbar gemacht werden.
Das komplexe Siedlungspanorama wird wiederholt als Beleg dafür angeführt, dass bereits im frühen 1. Jahrtausend v.Chr. umfassende sozio-ökonomische Veränderungen ohne äußere Einwirkung vonstattengegangen waren, also die soziale Stratifizierung bereits lange vor der numidischen Staatenbildung einsetzte. Die Frage hierbei ist aber, ob es nach den Studien von G. Camps noch nötig ist, den "rein autochthonen" (38) Charakter dieser Zivilisation derart zu betonen. Weder im Falle der Architektur noch der Metallurgie kommen die Autoren umhin, der phönizisch-punischen Kultur zumindest seit dem 8. Jahrhundert v.Chr. eine wichtige Rolle zuzugestehen (38). So zeigt sich mit der Betonung des "numidischen Charakters" der Befunde - die Traditionalität der handgeformten Keramik oder der Architekturtechnik würden deren Klassifizierung als "numidisch" rechtfertigen (34) -, dass sich der Akkulturationsdiskurs in Nordafrika ungeachtet neuer theoretischer Kritik [2] weiterhin in stark schematischen Denkmustern bewegt. Erscheint es aber in Hinblick auf die literarischen Quellen berechtigt, bereits für das 10. Jahrhundert v.Chr. von einer "numidischen Kultur" zu sprechen?
Evident wird die Problematik der bipolaren Theoriemodelle (Romanisation, Widerstand) in den Deutungen der Befunde der SO-Nekropole, deren Ursprünge in die vorrömische Zeit reichen. Sie wurde unter Fortsetzung der Körperbestattung in Dolmen bis in die frühe Kaiserzeit genutzt; in der Spätantike kamen Mausoleen und einfache Gräber dazu. Diese lange Bestattungsaktivität wird als "identité ethnique et identitaire" gedeutet, die sich bei den römischen Nachfahren der Numider durch die Beisetzung in deren traditionellen Nekropole geäußert habe (396). Eine zunächst nahe liegende, pragmatische Beibehaltung des Funktionsraums Nekropole wird nicht erwogen. Die Gräber hätten sich stark von den Brandbestattungen mit punischen Grabstelen in der gleichzeitig genutzten Nordnekropole sowie durch das dortige Fehlen von Mausoleen unterschieden (396). Die daraus gefolgerte These von unterschiedlichen Ethnien, die ihre Toten auch in räumlich getrennten Nekropolen bestatteten, ist durch die vorgestellte Evidenz jedoch fraglich, da Hinweise auf eine ethnische Bestimmung der Bestatteten fehlen. Ob diese Belege überhaupt erbracht werden können, erscheint aufgrund der Befunde aus anderen Nekropolen wie Tiddis oder Tigibba eher unwahrscheinlich. Dort zeigt sich vielmehr, dass weder über die Grabtypologie, noch über das im Totenkult genutzte Material eine klare Diversifizierung in "indigen", "punisch" und "römisch" möglich ist. Besonders in der Gräberdebatte wäre es hilfreich, vielmehr den sozial-wirtschaftlichen Status der Bestatteten sowie deren Variationsbreite im Bestattungswesen in den Mittelpunkt zu stellen.
Trotz dieser Kritik ist zu betonen, dass Althiburos I den Kenntnisstand und somit auch die Diskussionsbasis zum nordafrikanischen Städtewesen enorm erweitert. Der Band stellt eine wichtige Publikation dar, die nicht nur mikro-geographisch, sondern auch chronologisch neue Maßstäbe in der nordafrikanischen Siedlungsforschung setzt. Auf die angekündigte Publikation des Surveys, der Nekropolen und der Chronologie der handgemachten Keramik darf man daher sehr gespannt sein.
Anmerkungen:
[1] N. Kallala u. a.: Recherches sur l'occupation d'Althiburos (région du Kef, Tunisie) et de ses environs à l'époque numide, in: Pyrenae 39, (2008) 67-113; J. Sanmartí u. a., Los orígenes de la complejidad socio-cultural en África Menor y el desarrollo de la civilización númida, Informes y trabajos 5, (2011) 336-353.
[2] S. Ritter: Götter und ihre Verehrer in Nordafrika. Die Heiligtümer von Thugga als Modellfall, JRA 19 (2006), 549-558; D. Mattingly: Vulgar and weak Romanization, or time for a paradigm shift?, JRA 15 (2002), 536-541.
Nabil Kallala / Joan Sanmartí: Althiburos I. La fouille dans l'aire du capitole et dans la nécropole méridionale, Barcelona: Universitat de Barcelona 2011, 443 S., ISBN 978-84-939033-1-2, EUR 53,00
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